Schreibkraft
Heiner Frost

Die Verlorenen: Protokoll eines Verschwindens

Ein Tag hat 86.400 Sekunden – eine Woche 604.800 Sekunden. 1,8 Millionen Sekunden sind 20,833 Tage …
Herr Z. ist ein freundlicher Typ. Er spricht mit ruhiger Stimme. Herr Z. räumt die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft ein. Ein Detail allerdings hat er anders erlebt. Das möchte er korrigieren.

Fotos

Herr Z. fotografiert gern. Er betreibt eine Homepage – ein Kollege hat das recherchiert. Auf Z.s Homepage lesen Interessenten: „[Ich bin] Jahrgang 1968, glücklich verheiratet, drei Kinder. […] Bereits in jungen Jahren habe ich Kontakt zur Fotografie bekommen.” Auch ein Hinweis findet sich: „Die folgenden Seiten enthalten unter anderem Abbildungen von Personen in ganz oder teilweise unbekleideter Form, jedoch keine pornografischen Inhalte. Sollten Sie das nach Maßgabe Ihres Landes vorgeschriebene Mindestalter zum Betrachten solcher Inhalte noch nicht erreicht haben oder sich durch solche Darstellungen ethisch, moralisch oder religiös verletzt fühlen, verlassen Sie jetzt diese Seite.” Und: „ Für verschiedenste Projekte und Ideen suche ich immer wieder neue Modelle. Auch Newcomer sind gerne gesehen. Bei meinen Shootings geht es eigentlich immer recht locker zu. Ich lege Wert darauf, dass ein Shooting für beide Seiten, Model und Fotograf, Spass macht. In den meisten Fällen (entfernungsbedingt) erfolgt vor dem eigentlichen Shooting ein Vorgespräch, in dem man den Ablauf klärt sowie Ideen und Vorstellungen erläutert. Eigene Ideen der Modelle werde ich dabei gerne versuchen umzusetzen. Eine Begleitperson des Models ist selbstverständlich kein Problem. Diese sollte sich nur während des Shootings unauffällig im Hintergrund halten. […] Ich arbeite grundsätzlich mit einem Vertrag, der die Rechte am Bild für beide Seiten eindeutig regelt.”

Eine andere Wirklichkeit

Klingt gut. Wenn allerdings Freundinnen der Tochter in Z.s Haus übernachten, ändern sich die „vertraglichen Bedingungen”. Herr Z. greift dann nicht zur Kamera: er wird übergriffig. Was wird Herrn Z. vorgeworfen? „Strafverhandlung […] wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen, sexueller Belästigung in einem Fall und Besitz kinder- und jugendpornographischer Schriften. Laut Staatsanwaltschaft soll der Angeklagte […] drei Freundinnen seiner Tochter sexuell missbraucht haben, als diese bei der Tochter übernachteten. Zudem soll er eine weitere Freundin der Tochter sexuell belästigt haben. Bei einer Durchsuchung des Hauses wurden 10.841 kinderpornographische Bilder, 1.804 kinderpornographische Videos, 488 jugendpornographische Bilder und 38 jugendpornografische Videos sichergestellt.”

Verbrannt

Herr Z. ist erschüttert. Zu spät ist ihm klar geworden, was er da gemacht hat. Z. hat mit dem Feuer gespielt. Verbrannt ist das Vertrauen: Da ist zum einen das Vertrauen der Kinder – aber da ist auch das Vertrauen ihrer Eltern. Drei Mütter sagen aus. Es ist der eindrücklichste Teil des Verfahrens. Da wird geschildert, wie von einem Tag auf den anderen eine Welt in Scherben liegt – wie alles zu Bruch geht. „Früher war es so: Wenn meine Tochter zum Sport wollte und ich keine Zeit hatte, sie zu bringen, dann hat der Trainer sie schon mal mitgenommen.” Und jetzt: Alles kontaminiert. Z. hat eben auch das Vertrauen in die Welt angegriffen. Da sitzt eine Mutter, die ihn direkt anschaut. „Ja, ich möchte eine Entschuldigung”, sagt sie und Z. entschuldigt sich unter Tränen. Die beiden sind per Du: „Glaub mir, wenn ich alles rückgängig machen könnte – ich würde es tun. Aber ich weiß, das ist nicht rückgängig zu machen.” Der Saal versinkt in Geräuschlosigkeit. Es bleibt: das Schluchzen des Herrn Z. Es bleibt: Die Mutter, die ihn anblickt. Der Blick lässt nicht los. Sie wünsche ihm, sagt die Frau zu Z., dass er es mit der Therapie schaffe. Aber die Angst bleibe. Man kann das Verschwinden des Urvertrauens nicht dichter erleben als jetzt und hier. Alles Denken und Fühlen: im freien Fall. Herr Z. ist alkoholabhängig. Nur alkoholisiert hat er seine Taten begangen, sagt er. Es schwebt eine Frage im Raum: Die hier angeklagten Fälle sind nur aktenkundig geworden, weil die Mädchen aufwachten. Gibt es Fälle, wo Mädchen nicht aufwachten und nicht merkten, dass da einer …
Niemand weiß das. Niemand kann das wissen. Z. sagt, das sei nicht der Fall. Vor Gericht ist kein Platz für Vermutungen.

Schlecht geträumt

Eines der Kinder, die Herr Z. anfasste, wurde wach, zählte – so wird berichtet – innerlich bis Drei und sagte dann: „Lassen Sie das bitte.“ Der Berührer ließ ab und ging aus dem Zimmer. Das Kind erkannte den Vater ihrer Freundin, Herrn Z.. Der kam kurz darauf wieder ins Zimmer, um dem Kind zu erklären, dass es wohl schlecht geträumt habe-

Ganz und gar unauffällig

Ein Gutachter spricht über Herrn Z.. Das Fazit: Ein ganz und gar unauffälliger Mann und Mensch. Irgendwo auch einer, der die Dinge sachlich sieht. Z. ist Schadensregulierer für eine Versicherung. Fast schon höhnisch wirkt das: Schadensregulierer. Herr Z. – auch das sagt er Gutachter – war zum Zeitpunkt der Taten nicht eingeschränkt: Einsichts- und Steuerungsfähigkeit: erhalten. Kein Zweifel.
Herr Z. hat sich einer Alkoholtherapie unterzogen. Er befindet sich in einer Sexualtherapie. Eine positive Prognose hängt sehr davon ab, ob Z. sein Leben weiter im Griff behält. Herr Z. möchte das Vertrauen seiner Frau zurückgewinnen – möchte wieder Kontakt zu seinen Kindern bekommen. Da sitzt man und denkt: niemalsnie wird das passieren. Und wenn es nicht passiert, was wird aus Z.s Leben werden?

TOA

Z. hat sich bei den Opferfamilien entschuldigt, sofern es denen wichtig war. Er hat im Rahmen des Täter-Opfer-Ausgleichs (TOA) eine Zahlung geleistet. Drei der Familien haben gebeten, das Geld, 5.000 Euro,  an den Weißen Ring zu bezahlen. Der Weiße Ring kümmert sich um Verbrechensopfer. Die Großmutter eines der Opfer möchte das Geld für ihre Enkelin. Z.s Anwälte gehen auf alles ein.
Z. bricht auf der Anklagebank immer wieder in Tränen aus. Man möchte glauben, dass das Unheil, für das er verantwortlich ist, bei ihm eingetroffen ist – dass er erste Einblicke in die Schlagkraft des Schicksals genommen hat, das er verursachte.

21 Tage

1,8 Millionen Fotos hat eine Zeugin – sie ist Polizistin – angesehen … ansehen müssen: Alles, was auf Festplatten, USB-Sticks und DVDs des Herrn Z. gefunden wurde. Sie beschreibt, was auf manchen der Bilder zu sehen war: Säuglinge in Ketten. Penetration: Oral, anal, vaginal. Man will nichts mehr hören und stellt sich vor, was mit jemandem passiert, der so tief in die Abgründe der anderen hineintauchen und sich all das ansehen muss. 1,8 Millionen Bilder – das wären fast 21 Tage, wenn jemand Ohnepausetagundnacht hinabsteigen würde.
Zwei Jahre und sechs Monate fordert die Staatsanwaltschaft. Ein Nebenklagevertreter fordert drei Jahre, seine Kollegin nennt keine Zahlen. Von den beiden Verteidigern fordert einer eine „bewährungsfähige Strafe”, der andere ein Jahr, acht Monate – auszusetzen zur Bewährung.
Herr Z. möchte, wenn er könnte, alles rückgängig machen. Er will seine Therapie fortsetzen.

Außer Vollzug

Die Kammer verurteilt Z. zu zwei Jahren und sechs Monaten. Er ist, sagt die Vorsitzende, voll schuldfähig. Trotzdem wird Herr Z. nicht inhaftiert. Der Haftbefehl bleibt – unter Auflagen – außer Vollzug. Die Prognose, so heißt es weiter, sei zwar günstig – die Taten aber zu schwerwiegend für eine Bewährungsstrafe. Spätestens, wenn das Urteil rechtskräftig ist, wird Z. die Haft antreten müssen.

Herr Z. fotografiert übrigens nicht nur Erwachsene. Es gibt da eine weitere Seite: Kinderfotos und mehr. „Zuhause fühlen sich Ihre Liebsten oft am wohlsten. Dort sind meist die schönsten Momente zu beobachten. Wir erstellen professionelle Fotos bei Ihnen daheim zu attraktiven Konditionen. Lassen Sie sich von uns beraten.”
Zum Weltkindertag (vermutlich 2008) hat Herr Z. eine Bildergalerie veröffentlicht.

P.S. Die Seite mit den Kinderfotos wurde um 2008 angelegt und wohl 2009 zuletzt geändert. Von „web.archive.org“ wurde sie 2013 erstmals gelistet. Die „Wayback-Machine listet eine Kopie der Seite aus dem Jahr 2014. Diese entspricht dem aktuellen Stand. Die Seite ist (Stand 18. April 2021) noch immer online.

[Dank an Jens Helmus und Dr. Sascha Rogmann für zusätzliche Recherchen.]

P.S. II: Zwei Tage nach Erscheinen dieses Textes wurde die Seite mit den Kinderfotos gelöscht.