Schreibkraft
Heiner Frost

Vergangenheit als Monster oder: Modell Freundschaft +

Foto: Rüdiger Dehnen

Vergangenheit als Monster

Herr A. ist Jahrgang 1967. Er ist Handwerker: Alt-Geselle. Herr A. ist verheiratet. Zwei Kinder. Herr A. hat sich verliebt. Es hat ihn schlimm erwischt. Kein Problem, denkt man. Soll er sich verlieben. Ist ja seine Sache.

Eine Anklage

Das Problem: Herr A. steht vor Gericht. „Strafverhandlung gegen einen 57-jährigen Deutschen wegen (versuchter) Vergewaltigung, Körperverletzung, sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen, Besitz von jugendpornografischen Schriften und Nötigung; angeklagt sind insgesamt 20 Taten. Laut Staatsanwaltschaft soll der Angeklagte die Taten in dem Zeitraum vom 1. September 2009 bis zum 6. Mai 2019 in Goch und andernorts begangen haben. Er war im Tatzeitraum Geselle in einem Gocher Unternehmen, in dem die 1989 und 1998 geborenen Opfer in den jeweiligen Tatzeiträumen ihre Ausbildung absolvierten. Während der Ausbildungszeit soll es zu den in der Anklage aufgeführten sexuell motivierten beziehungsweise körperlichen Übergriffen des Angeklagten gekommen sein.“

Ein Antrag

Der Prozess beginnt mit einem Antrag: Die Öffentlichkeit soll ausgeschlossen werden, beantragt A.s Verteidiger. Intime Dinge werden zur Sprache kommen. Die Opfer: zum Tatzeitpunkt nicht volljährig. Die Staatsanwältin sieht ein öffentliches Interesse und der Nebenklagevertreter sagt, die Opfer seien bereit, öffentlich auszusagen. Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück und entscheidet: „Dem Antrag wird nicht stattgegeben.“ Das öffentliche Interesse obsiegt. Herr A. wird, was passiert, öffentlich über sich ergehen lassen müssen.

Ein Unscheinbarer

Herr A. ist einer von den Unscheinbaren. Still sitzt er auf der Anklagebank. Ja, er wird Angaben machen: zur Person und zur Sache. Ja, er gibt zu, dass Handlungen stattgefunden haben. Gewalt von seiner Seite hat es nicht gegeben – irgendwie deutet A. eine Art Gegenteil an. Eines der mutmaßlichen Opfer (noch ist ja auch A. nur ein mutmaßlicher Täter) hat ihm, sagte er, sogar einen Liebesbrief geschrieben. Das andere (mutmaßliche) Opfer hat sich – anlässlich von A.s Geburtstagsfeier zum 50. – mit dem Satz „Ich liebe dich“ auf der Gästerolle verewigt. A. hat niemandem ins Gesicht geschlagen, niemandem in den Magen geboxt, niemanden mit einem Cuttermesser bedroht und auch nicht damit, im Falle eines Brechens des Schweigens seitens der Opfer mit dem Auto gegen einen Baum zu fahren. A., der Alt-Geselle, war maßgeblich an der Ausbildung der beiden jungen Männer beteiligt. A. war in seinem Betrieb, für den er mehr als 30 arbeitete, hoch angesehen.
Die Opfer: Sie haben lange geschwiegen – haben erduldet, was A. ihnen antat. Sie haben sich geschämt. Hatten Angst vor dem, was passieren würde, wenn sie ihr Schweigen brechen. Sie entschieden sich für das „Erdulden“ und waren A. zu Diensten. A. sagt: Es sei um Liebe gegangen. Die beiden sagen: Es war ein Aushalten.

Höllentage

„Wenn ich mich verweigert habe, dann hat der mir den Tag zur Hölle gemacht“ – das sagen später beide in ihren Vernehmungen. Die sexuellen Handlungen mutierten zu einer Art kleinerem Übel. Lieber die sexuellen Handlungen als Tage in der Hölle: Dieser Eindruck entsteht, während man den beiden durch die Befragungen folgt. Sie durchliefen ihre Ausbildung zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Kannten einander nicht. Die Geschichten aber ähneln sich – fast sind sie deckungsgleich: A.s erste „Annäherungen“ empfanden beide anfänglich „als Scherz“ – konntenwollten nicht glauben, dass da ein Alt-Geselle Dinge sagt wie: „Ich würde dir gern einen blasen.“ Man muss das wörtlich zitieren. Alles Umschreiben hilft ja nicht weiter. Wenn es dann geschah, wurde, was ablief, teils von A. gefilmt, sagen die beiden und sie sagen auch, dass sie mit dem so entstandenen Material unter Druck gesetzt wurden. All das ist auf eine besondere Art perfide. Das Motto: „Wenn du nicht tust, was ich von dir verlange, werde ich das Material veröffentlichen.“ Die Angst der Opfer: Freunde werden es erfahren, die Familie, die Freundin. So ließe sich erklären, dass alles erst aufflog, als die Opfer ihre Lehre längst beendet hatten.

Ein bester Freund

Einer von ihnen vertraute sich seinem besten Freund an. Der hatte immer wieder nachgefragt, weil er sich Sorgen machte um einen, der immer stiller wurde. Irgendwann bei einer Autofahrt: der letzte Versuch einer Frage. Diemsal gibt es eine Antwort. Unter Tränen: Mitteilungen aus der Hölle. „Die Sache“ kam ins Rollen. Anzeige wurde erstattet.

Jetzt also der Prozess. Ein Prozess, in dem A. vieles einräumt, aber: „Gewalt hat es“, sagt er, „nie gegeben.“ A. meint, ist zu vermuten, körperliche Gewalt. Er wird vielleicht eine Vorstellung davon haben, dass es Qualen jenseits des Körperlichen gibt. Einer, der mit Veröffentlichung intimster Filmaufnahmen droht, tut das, weil er sich bewusst ist, welche Macht ihm die Scham der anderen zur Verfügung stellt. A. gibt sich nicht mit den sexuellen Handlungen zufrieden. Er greift in das Leben der Opfer ein: zahllose Telefonate, Nachrichten. All das wirkt uferlos. A. sagt: Es sei um Liebe auf beiden Seiten gegangen.

Eine eigene Familie

Die Aussagen der beiden jungen Männer – sie sind mittlerweile Mittzwanziger mit eigenen Familien – zeichnen ein anderes Bild. Es ist das Bild vom Stillhalten – vom Erdulden des vermeintlich kleineren Übels. Beide haben, sagen sie, dem, was A. da tat, nie zugestimmt. Aus einem anfänglichen „Nein“ wird das spätere Stillhalten. Der zweite der beiden spricht mit verlöschender Stimme. Da trägt einer schwer am Geschehenen und will, was geschehen ist, nicht laut sagen, weil die Scham so groß ist. Manchmal, sagt er, komme auch heute noch dieses Gefühl zurück: wenn auch nur selten. Immer wieder der Satz: „Wenn ich nicht getan habe, was der wollte, dann hat der mir den Tag zur Hölle gemacht.“

Ein Tattoo

Was soll ein Verteidiger machen? Er muss Fragen stellen, ohne die mutmaßlichen Opfer zu demütigen. Es geht um Angriffe, die keine Wunden schlagen. Einmal zuckt man zusammen. Verteidiger: „Sie haben auf Ihrem rechten Oberschenkel ein Tattoo. Auf dem Tattoo: die Initialen meines Mandanten. Wie erklären Sie das?“ „Es sind nicht die Initialen Ihres Mandanten. Die Buchstaben stehen für einen anderen Begriff.“ (Es ist, erfährt man, ein Begriff aus der Auto-Tuner-Szene.) „Der Frau meines Mandanten haben Sie erklärt, es handele sich um den Namen einer Musikgruppe“, kontert der Verteidiger.

Eine Auslöschung

„Der A. wusste, dass ich mir ein Tattoo stechen lassen wollte.“ Er, der Zeuge, könne doch etwas von ihm, A., ins Tattoo einbauen lassen, erklärt der junge Mann. Alles kann stimmen. Die Initialen seien jetzt „nicht mehr da“, erklärt der Zeuge und einen Augenblick lang fragt man sich: Wieso Buchstaben eliminieren, wenn sie nur für ein Hobby stehen? Vielleicht, denkt man dann, ist schon die Möglichkeit einer denkbaren Duplizität unerträglich. Es geht um das Wegwischen, die eigentlich unmögliche Auslöschung einer Vergangenheit, die sich nicht ausradieren lässt – die immer wieder aus dem Hintergrund angreift. Ohne Vorwarnung. Es geht, denkt man, darum, dass nichts Wirkliches eine Brücke ins Erinnern zulässt. Buchstaben sind eine Brücke in diese Wirklichkeit …

Eine Spur zur Wahrheit

Der erste Tag hat Ratlosigkeit hinterlassen. „Gibt es Menschen, die mitbekommen haben, wie der A. mit Ihnen umgegangen ist, wenn er seinen Willen nicht bekommen hat?“, fragt der Verteidiger. „Ja. Die müsste es geben.“ Einige werden am nächsten Verhandlungstag befragt werden. Heute hat sich, denkt man, die Hölle wieder einen Spalt breit geöffnet. Die beiden jungen Männer können zurückfinden ins Gegenwärtige. Sie können versuchen, die Vergangenheit ein weiteres Mal hinter sich zu lassen.
Man kann nicht in die Köpfe schauen – nicht in den von A. und nicht die Köpfe der beiden jungen Männer. Das Gericht ist auf der Spur einer schwer zu findenden Wahrheit. Man fragt sich, was A.s Frau und seine Kinder empfinden. Wieder einmal offenbart sich die traurige Wahrheit, dass in Verfahren wie diesem am Ende nur verloren wird. Auf allen Seiten.

Elf Zeugen, elf Perspektiven

Elf Zeugen bringt der zweite Verhandlungstag beim Prozess gegen einen 57-jährigen Gesellen, dem die Anklage Vergewaltigung, Körperverletzung und sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen sowie Besitz von jugendpornografischen Schriften vorwirft. Die ehemaligen Chefs des Angeklagten sagen ebenso aus wie einige seiner ehemaligen Kollegen, die ehemalige Freundin eines der mutmaßlichen Opfer sowie die Ehefrau des Angeklagten. Nach Bekanntwerden der Vorwürfe gegen den Altgesellen habe man dessen Vertrag in gegenseitigem Einvernehmen aufgelöst, sagen Senior- und Juniorchef aus. Hier geht es, denkt man, um einen Zustand des Unbeflecktseins. Ein Ruf steht auf dem Spiel und die Frage taucht auf, welches Opfer man zu bringen bereit ist, damit die Welt nicht aus den Angeln gerät.

Nie etwas geahnt

Man habe, so die beiden, vorher nie etwas geahnt und sei mit der Arbeit des Gesellen immer zufrieden gewesen. Auch die ehemaligen Kollegen – der Angeklagte hatte 30 Jahre in einem Gocher Betrieb gearbeitet – hatten nie etwas geahnt. A. wurde schon mal als aufbrausend beschrieben und als einer, der sich den Chefs gegenüber „einiges an Kritik erlaubte“, aber auch als einer, „mit dem das Arbeiten Spaß gemacht hat“, wie ein ehemaliger Auszubildender sagte. Die Mutter des zweiten Opfers sagt aus, sie habe A. und dessen Familie anfangs „in Ordnung gefunden”. („Die waren echt nett.“) Ihr Sohn habe zwischenzeitlich bei A. gewohnt. „Ich fand es gut, dass der meinen Sohn unter seine Fittiche genommen hat.“ Mit der Zeit sei ihr Sohn mehr und mehr in sich gekehrt und am Ende auch aggressiv gewesen, aber sie habe das eher auf sich bezogen, bis ihr Sohn sich ihr anvertraut habe.

Leidenschaftlich

Letzte Zeugin am 2. Verhandlungstag ist die Ehefrau des Angeklagten, die nicht von ihrem Recht Gebrauch macht, nicht aussagen zu müssen. „Sie sollen einmal zu Silvester gesehen haben, wie sich Ihr Mann und Herr O. geküsst haben.“ „Korrekt.“ „Wie würden Sie den Kuss beschreiben?“ „Das war leidenschaftlich.“ „Können Sie das genauer erklären?“ „Das war eben leidenschaftlich. Die haben sich umarmt und der Kuss war ein Zungenkuss.“ Der junge Mann, der zwischenzeitlich bei A. und dessen Familie wohnte, habe sich – so die Ehefrau – ihrer Einschätzung nach „mehr und mehr in unsere Beziehung gedrängt. Wenn mein Mann ferngesehen hat, dann saß der O. neben ihm. Da, wo ich sonst gesessen habe.“ Dass O. sich ein Tattoo mit den Initialen ihres Mannes habe stechen lassen, kommentierte die Frau mit: „Ich habe mir meinen Teil gedacht.“ Sie habe nicht geglaubt, dass es die Initialen einer Band gewesen seien, habe auch nicht danach gefragt. Die Beobachtung des leidenschaftlichen Kusses sei ein Schock für sie gewesen, obwohl sie „immer irgendwie etwas geahnt“ habe.

Aus Versehen

Befragt, ob sie etwas zu der Tatsache sagen könne, dass auf dem Computer ihres Mannes Pornobilder von Minderjährigen gefunden worden seien: „Mein Mann sagte mir, er sei versehentlich auf solchen Seiten gelandet“ und habe auch gesagt, „man sieht ja nicht, ob die minderjährig sind“. Ob sie gewusst habe, dass ihr Mann „auf Männer stehe“: „Ich habe das geahnt.“

Glatt draußen

Ob ihr Mann auf dem Heimweg von einer betrieblichen Weihnachtsfeier dem O. in den Magen geboxt habe? „Das kann nicht sein. Es war glatt draußen. Ich hatte glatte Schuhe an. Mein Mann hat mich im Arm gehalten, damit ich nicht falle.“ Da sei es unmöglich, dass ihr Mann gleichzeitig jemandem in den Magen geboxt habe.

Nichts gemerkt

Da sind also die einen, die nie etwas gemerkt haben, bis „die Sache“ offiziell wurde; da sind die, die vielleicht etwas ahnten; die, die, wenn es um die „Glaubensfrage“ geht, den Opfern glauben. „Ich hatte keinen Grund zu zweifeln.“ Da sind schließlich auch die beiden mutmaßlichen Opfer, die bei manchen Antworten der Zeugen des zweiten Tages durch Kopfschütteln Sprachlosigkeit dokumentieren. Man will nicht in ihrer Haut stecken. Man möchte hier in niemandes Haut stecken, denn alles hier atmet Verzweiflung. Und A. sitzt auf der Anklagebank: wortlos, reglos, einsam. Einer, der – würde es ein Reset geben – vielleicht anders handeln würde. Aber: Das hilft jetzt nicht. Die Einsamkeit des Herrn A. ist nur schwer sichtbar. Sie ist nicht von der Art, die man bemitleiden müsste. Sie ist vielleicht von der Art, die kein Hinterland mehr zur Verfügung stellt – keine Rückzugsorte bietet außer denen, die im Leugnen zu finden sind. Es ist die Art von Einsamkeit, in der man sich am Ende selber gegenübersteht. Menschlichkeit und Monstrosität treten an. Eine Gabelung entsteht. Auf der einen Seite das Leugnen – ein Scheinweg. Auf der anderen Seite das Bekenntnis, das nur der Anfang eines Weges ist, von dem A. sich wohl nicht vorstellen kann, ihn zu gehen. Es ist ein Gang in die eigene Schuld, die das eigene Leben zu einem Fehler zu machen scheint. Es geht um die Entscheidung, andere zu verletzen oder mit einer eigenen Verwundung umzugehen. Gibt es eine andere Möglichkeit? Könnte, was A. behauptet, wahr sein?

Ein Teppich

Viele, denkt man, haben heute einen Teppich dabei: Es ist die Art von Teppich, die gebraucht wird, um alles Unpassende darunter verschwinden zu lassen. „Als Zeuge muss man die Wahrheit sagen“; hat der Vorsitzende jeden belehrt. Jetzt und hier lernt man etwas über die Biegsamkeit des Wirklichen. Was, wenn jemand von einem irgendwie spontanen Gedächtnisverlust heimgesucht wird? Was soll man da machen? Man will doch nichts Falsches sagen. So erlebt man die planvolle Entsorgung einer unbrauchbar gewordenen Vergangenheit. Stellen sich die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft als richtig heraus, wird A.s Vergangenheit gesprengt. Sie wird in sich zusammenfallen wie ein gesprengtes Haus. Ein Wolke wird entstehen und erst, wenn sich der Staub gelegt hat, wird wieder Sicht entstehen.

Zustände

Man denkt über die Zustände nach, die hier – manchmal nur als Randnotiz – offenbar werden. Eine Ehefrau – „Ich bin da nicht stolz drauf.“ –, die mit den Bekannten ihres Mannes schläft, während der sich dabei als Filmemacher betätigt. Eine Ehefrau, die, ohne der Wahrheit zu nahe zu kommen, Eindrücke schildert. („Der hat sich in unsere Beziehung gedrängt.“) Ständig hat man diesen Teppich im Kopf, dessen Wölbungen stetig anwachsen. Gärtner sind am Werk: Gras muss wachsen. Über all die Unaussprechlichkeiten. Hier die Fleckenentferner – dort die, deren Leben befleckt, beschädigt, zerkratzt zurückbleibt. Am letzten Verhandlungstag werden Staatsanwaltschaft, Nebenklage und Verteidigung ihre Sicht auf die Dinge in ihren Plädoyers ein letztes Mal deutlich machen, bevor am Ende das Gericht sein Urteil sprechen wird. Rundreisen durch eine Vergangenheit, die – abhängig von den Standpunkten der Beteiligten – wechselnde Perspektiven deutlich machen werden.

„Als Angeklagter haben Sie das letzte Wort“, sagt der Vorsitzende. Es ist der 3. Verhandlungstag im Prozess gegen einen Gesellen, dem die Anklage schwere Vergewaltigung, Körperverletzung, sexuellen Missbrauch Schutzbefohlener und den Besitz jugendpornografischer Schriften vorwirft.

„Ich musste das aufschreiben”

Mehr als 20 Zeugen sind gehört und zahllose Dokumente verlesen worden. Der Angeklagte erhebt sich. Er hat eine Erklärung vorbereitet. „Ich musste das aufschreiben. Ich bin zu nervös.“ Herr A. entschuldigt sich bei den Nebenklägern – es sind die beiden jungen Männer, die gegen ihn ausgesagt haben. A. entschuldigt sich für seine Aufdringlichkeit – nicht für die Taten, die man ihm zur Last legt. „Ihr beide wisst, dass alles, was passiert ist, einvernehmlich war. Ich habe Fehler gemacht und werde meine Strafe antreten [fünf Jahre hatte die Staatsanwältin gefordert; Anm. d. Red.], aber euer Wunsch, meine Familie zu zerstören, wird nicht in Erfüllung gehen.“

Alles getan

Wie immer das Urteil ausfallen wird: Es wird nicht an A.s Verteidiger liegen. Bis zum Schlussplädoyer hat er alles getan, um dem Gericht Zweifel anzubieten, ohne dabei A.s Opfer zu verunglimpfen. Sein Mandant hat vieles zugegeben, aber immer gesagt, was an sexuellen Handlungen stattgefunden habe, sei freiwillig – in beiderseitigem Einverständnis also – geschehen.

Ein letzter Antrag

Mit einem letzten Beweisantrag vor dem Ende der Beweisaufnahme hatte der Verteidiger gefordert, A.s Handy zu untersuchen. „Da befinden sich zahlreiche Chats – auch solche zwischen meinem Mandanten und den Nebenklägern –, die niemand bisher gesehen hat.“ Ja, denkt man, das ist zumindest merkwürdig. Niemand von den Polizeibeamten hat sich um die se Chats gekümmert. Gibt es ein Warum? Die Kammer legt eine 30-minütige Pause ein. Die Verteidigung soll ihren Antrag formulieren.

„Wir haben auch ein Ladegerät dazu.“

Nach 30 Minuten zeigt der Vorsitzende ein in Plastikfolie eingeschlagenes Handy. „Wir haben auch ein Ladegerät dazu“, sagt er und hält das Handy in Richtung des Verteidigers. Der zieht seinen Beweisantrag zurück. Das Handy sei zu neu und die fraglichen Chats dort demnach nicht zu finden. Vor der Unterbrechung hatte man tief durchgeatmet: War da eine Wende im Anmarsch? Wieder atmet man tief durch. Warum jetzt die Rücknahme des Beweisantrages? Das Alter des Handys stand doch schon vor der Antragstellung fest.

45 Minuten

Aus der „Merkwürdigkeit“, die man vorher empfand, ist jetzt eine Art Verunsicherung geworden. Hatten Mandant und Verteidigung nicht damit gerechnet, das Handy präsentiert zu bekommen? Die Beweisaufnahme wird geschlossen. Es folgen die letzten Worte des Angeklagten (siehe oben). Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück: „Halten Sie sich in 45 Minuten zur Verkündung des Urteils bereit.“
Es beginnt die Zeit des Nachdenkens, der Fragen, des Zweifelns. Im Kopf hat man A.s letzte Worte. Wem hier sollkanndarf man glauben? Der Verteidiger sieht zwei junge Männer, denen es schwerfällt zuzugeben, was da passiert ist – was sie mitgemacht haben. Wie könnten sie Freunden, der Familie, den Freundinnen erklären, woran sie teilgenommen haben? Auch in einer vermeintlich liberalen Gesellschaft sei das, worum es hier gehe, mit Scham besetzt. Es geht nicht um einen Rachefeldzug, ist der Verteidiger sicher, aber vielleicht gehe es – er sagt das mit anderen Worten – um eine Andersdarstellung der Vergangenheit.

Stecknadelfallstille

45 Minuten später kehrt man in den Saal zurück, um das Urteil zu hören. Sechs Jahre, sechs Monate. A. zückt ein Taschentuch. Vielleicht hatte er nicht mit diesem Urteil gerechnet. Der Vorsitzende begründet – sehr ausführlich – den Spruch, den er, die zwei Berufsrichter an seiner Seite und die beiden Schöffen gefällt haben. Im Saal: Stecknadelfallstille.

Abgewogen

Die Kammer, so der Vorsitzende, habe sehr ausführlich alle Aussagen gegeneinander abgewogen. „Natürlich ist das hier ein Fall, bei dem man normalerweise sagen würde, dass es ein Aussage-gegen-Aussage-Prozess ist.“ Es waren bei allen Taten immer nur zwei Personen anwesend: Der Täter und das jeweilige Opfer. Wie also entscheiden, wem geglaubt werden kann? Die Kammer habe keinerlei Anlass, an der Glaubwürdigkeit der beiden Zeugen zu zweifeln. „Wir haben keinerlei Belastungstendenzen erkennen können. Ganz im Gegenteil. Die beiden jungen Männer haben den Angeklagten in manchen Punkten sogar entlastet. So verhält sich niemand, der Rache ausüben will.“

„Das hat etwas mit Scham zu tun.“

Warum aber haben die beiden jungen Männer erst so spät offenbart, was ihnen geschehen ist? „Das hat etwas mit Scham zu tun, aber auch mit dem unglaublichen psychischen Druck, den A. über Jahre aufgebaut hat.“ Unter anderem wurden Fotos und Videos von den sexuellen Handlungen erstellt, die dann als Druckmittel eingesetzt wurden. A. habe sich, wie das oft in solchen Fällen sei, junge Menschen ausgesucht, deren Persönlichkeit noch nicht gefestigt war.
„Das ist auch hier der Fall gewesen“, erklärt der Vorsitzende und spricht auch von einem Zwiespalt: Es sei für die beiden jungen Männer nicht alles nur negativ gewesen. Da habe einer den Anschein erweckt, sich für sie einzusetzen. „Der Angeklagte hat den Chefs gesagt: Wenn ihr den jetzt kündigt, dann gehe ich gleich mit.“

„Hätte ich mich früher gemeldet …“

Man taucht zurück in die Plädoyers und zurück zum ersten Opfer. Der junge Mann, sagt, nachdem sein Anwalt als Nebenklagevertreter plädiert und sich dem Strafmaß der Staatsanwältin angeschlossen hat: „Ich möchte mich anschließen, aber ich möchte noch sagen, wie leid es mir tut, dass ich nicht früher etwas gesagt habe. Ich hätte ihm dann – er umarmt dabei das zweite Opfer – das alles vielleicht ersparen können.“
Die Kammer sieht einen Angeklagten, der sich die Tatsache, all das sei in gegenseitigem Einvernehmen geschehen, vielleicht aus Selbstschutz, eingeredet hat. Vielleicht, denkt man, ist, was A. gedacht und empfunden hat, eine Art präventiver Selbsthypnose. Er, A., hat, was zwischen ihm und den beiden Opfern stattfand, als „Freundschaft +“ bezeichnet. Es beruhigt das eigene Innere, dass man nicht Teil des Gerichts ist. Man kanndarf pendeln zwischen den Extremen von Schuld und Unschuld, von Zweifeln und Sicherheiten.

Gruselig

Während der Vorsitzende das Urteil begründet, sucht A. immer wieder Augenkontakt mit den beiden jungen Männern. Es gelingt nicht. A. weint. Das Urteil, denkt man, trifft mit jedem Satz der Begründung, irgendwie ohne Gnade bei ihm ein. Seine Familie hat zu ihm gestanden. Steht zu ihm.
Man hört den Vorsitzenden das Wort „gruselig“ aussprechen. Er redet von der Zeugenaussage des Junior-Chefs der Firma, in der A. als Geselle und die beiden jungen Männer als Lehrlinge arbeiteten. „Wenn wir uns fragen, warum die beiden nichts gesagt haben, dann ist diese gruselige Aussage des Junior-Chefs Teil einer möglichen Begründung.“ Man blättert in den Notizen. Wer, hatte der Junior-Chef gesagt, wer würde denn einem Lehrling glauben, der sich mit solchen Vorwürfen an den Meister wendet?
Ja, man würde – so der Junior-Chef – der Sache nachgegangen sein. Aber im Subtext entsteht irgendwie der Eindruck: Wer würde den beiden geglaubt haben?

Zusammengebastelt

Der Vorsitzende nennt das – siehe oben – gruselig und sagt auch, dass A. sich mit seiner Idee von der Einvernehmlichkeit „eine Welt zusammengebastelt“ habe. A. wird nicht verhaftet. Er bleibt auf freiem Fuß. Das Urteil ist nicht rechtskräftig. A. kann in Revision gehen und wird das vermutlich tun. Am Ende steht er draußen im Hof im Kreis der Menschen, die zu ihm halten.
In den Pausen hat man ein Buch von Claire Dederer gelesen. Es geht um das Thema „Genie oder Monster“. Im letzten Kapitel schreibt Dederer: „Wie gehen wir mit den schrecklichen Menschen in unserem Leben um? Meistens lieben wir sie weiter. […] Liebe beruht nicht auf einem gefällten Urteil, sondern auf der Entscheidung, das Urteil beiseitezuschieben.“
[Claire Dederer: Genie oder Monster; Piper]

Nachsatz

Ob Herr A. ein schrecklicher Mensch ist? Und: Was ist schrecklich? Wer soll das entscheiden? Das Gericht hat A. für schuldig befunden. Es sind, denkt man, zwischen A. und den beiden jungen Männern Dinge passiert, die A. nicht leugnet. Seine Wahrnehmung in Bezug auf die Gegenseitigkeit von Gefühlen scheint sich allerdings von der Wahrnehmung der beiden jungen Männer zu unterscheiden. Wichtig scheint abschließend der Feststellung, dass niemand einfach nur ein schrecklicher Mensch ist. Das Gericht hat mit seinem Urteil einen vorläufigen Schlusspunkt gesetzt. Fünf Menschen haben über das Schicksal des Herrn A. entschieden. Sie werden sicher sein, richtig entschieden zu haben. Vor Gericht – man kann das nicht oft genug erwähnen – geht es um das Recht. Gerechtigkeit ist dabei nicht notwendigerweise Bestandteil des Urteils. Urteile sollen, heißt es, für Rechtsfrieden sorgen. Rechtsfrieden allerdings ist – wie Gerechtigkeit auch – eine Konstruktion, der Wahrnehmung im wahrsten Sinne des Wortes vom eigenen Standpunkt definiert oder zumindest beeinflusst wird.