Schreibkraft
Heiner Frost

Tut mir leid, dass ich so bin

Herr A. soll mit einer Schusswaffe in eine Tankstelle gegangen sein und mehr als 900 Euro erbeutet haben. Herr A. sagt: „Ich war das nicht.“ Man will ihn reinlegen – ein Racheakt. So weit, so gut …

Ein trauriges Leben

Herr A. führt ein trauriges Leben. Die Mutter: heroinabhängig. Der Vater: gestorben. Als A. in der Grundschule war, bekam er Krebs: Ein Tumor hinter dem linken Auge. Heute ist er geheilt. Herr A. hat mit zwölf Jahren mit den Drogen angefangen und seither kaum je aufgehört. Erst war es Gras, dann Heroin, dann Kokain. „Mit dem Heroin habe ich im Knast angefangen“, sagt er. Soll man sich wundern? „Haben Sie etwas gelernt?“, fragt der Vorsitzende und A. antwortet: „Nichts.“

Abstinent

Als sein Sohn zur Welt kam, hat A. zwei Jahre lang „abstinent“ gelebt. „Ich habe dann Alkohol getrunken.“ Von der Mutter seines Sohne ist er getrennt. 10.000 Schulden hat A.: „Handyverträge und so …“
A.s kriminalistisches Vorleben: bewegt. Es steht da einiges zu Buche. Immer wieder Diebstahl. A. brauchte Geld für die Drogen. Aber auch wegen gefährlicher Körperverletzung hat man A. verurteilt – mehrmals. A. ist das, was man einen Drehtürentäter nennt: Rein in den Knast, raus aus dem Knast, rein in den Knast. Bewährungen, Bewährungswiderrufe. A.s Leben als Theaterstück wäre eine Tragödie. A. möchte in Therapie. Früher kam das nicht in Frage. „Aber jetzt habe ich einen klaren Kopf. Ich möchte etwas ändern in meinem Leben.“ Man denkt zurück an die Frage des Vorsitzenden: „Was haben Sie gelernt?“ Vielleicht hat A. keinen Beruf erlernt, aber auch die Zeit im Knast ist ja eine Art Ausbildung, denkt man.

Na ja

Es gibt da ein kleines Problem: Die Therapie nach Paragraph 64 ist nur dann möglich, wenn es eine Straftat gegeben hat. „Aber Sie sagen ja, dass Sie es nicht gewesen sind“, sagt der Richter und A. antwortet: „Na ja, im Fall einer Verurteilung …“ Eigentlich müsste man A.s Leben mit einem Trauerflor umwickeln. Er scheint das nicht so zu sehen. Seine Stimmung: gelöst bis erheitert. Er ist‘s ja nicht gewesen. Sagt er. Die Indizien: „So-und-so-Indizien“. Man könnte alles so oder so beleuchten. Objektive Beweise? Keine Fingerabdrücke. Keine DNA-Spuren. Es bleiben: Zeugenaussagen. Frau X. und Frau Y. haben Fahndungsfotos gesehen: „Der war‘s. Das war der A.“, haben beide gedacht, als sie Fahndungsfotos sahen. Es stimmte alles: Kleidung, Haltung, Statur. A. seinerseits behauptet, Kleidung wie die auf den Fahndungsfotos nie besessen zu haben. (Leugnen als Teil der ‚Ausbildung‘?)

Eine Racheaktion

A. sieht es ganz anders. Eine Racheaktion. Frau X.: „Die war in mich verliebt.“ A. ist nicht drauf eingegangen. „Klar, dass die sich jetzt rächt.“ Frau Y. hat A. immer mal wieder Diebesgut verkauft. „Als dann von mir nichts mehr kam, war die wahrscheinlich sauer auf mich.“ Dass A. seinerseits versucht hat, Frau Y. zu beklauen, erwähnt er nicht. Frau Y. ist nicht nur sicher, dass der Mann auf den Fahndungsfotos in Kontur, Kleidung und Körperhalten mit A. übereinstimmt – sie weiß auch um A.s Abhängigkeit und deren Erkennunszeichen. „Der war oft am Schwitzen wie noch was.“ Als Frau Y. ihre Zeugenaussage beendet hat, dreht sie sich im Hinausgehen noch einmal um: „Und hör ma auf zu klauen“, sagt sie, nachdem sie auf die Erstattung ihrer Auslagen verzichtet hat. Frau Y. hatte den Termin „verschwitzt“. Der Verhandlungstag hat sich verzögert. „Das behalten Sie mal“, sagt Frau Y. zum Vorsitzenden. „Mir ist das total peinlich, dass ich das vergessen hatte.“

Nach Aktenlage

Der Psychiater hat ein Gutachten nach Aktenlage erstellt. A. wollte nicht mit ihm sprechen. A. gibt als Begründung an: „An dem Tag ist mein Besuch nicht gekommen.“ Seelische Schlagseite also.
Natürlich hat A. eine schwere Konsumstörung in Bezug auf Suchtmittel. Er hat so ziemlich alles genommen, was denkbar ist. Eine verminderte Steuerungs- oder Einsichtsfähigkeit kann der Gutachter nicht erkennen, und auch den Erfolg für eine Therapie sieht er eher nicht. A. hat sich, erfährt man, mal für einen Tag in Therapie begeben, hat gleich konsumiert und ist rausgeflogen. „Das war nicht meins“, sagt A., aber: Ist ja schon eine Weile her …

Fünf Jahre

Die Staatsanwältin hält die gegen A. erhobenen Vorwürfe für erwiesen. Fünf Jahre wären tat- und schuldangemessen. Die Verteidigung sieht es anders. Es ist nicht mal erwiesen, dass die Waffe, die der Täter benutzt (es war ja nicht Herr A.) echt war. Der Verteidigung sieht auch die Sache mit den Erfolgsaussichten einer Therapie (im Fall einer Verurteilung) anders als der Gutachter. Im Falle eines Falles hat der Gutachter übrigens ein Minimum von vier Jahren Therapiedauer angesetzt. A. hat sich nach Therapiemöglichkeiten erkundigt. Hat nachgefragt. Und was die Tat angeht? Der Verteidiger sieht allerhand Gründe für Zweifel: Die nicht vorhandenen objektiven Spuren … die Aussage des Kassierers. Der hatte von einem Mann von 1,80 bis 1,90 Körpergröße gesprochen. „Mein Mandant misst 1,69.“ Südländisch soll der Täter auf gewirkt haben, hat der überfallene Kassierer zu Protokoll gegeben. „Das trifft auf meinen Mandanten nicht wirklich zu.“ Und – auch das erwähnt der Verteidiger: Der Mann, der in der Tankstelle das Geld erbeutete (Fünf-Euro-Scheine wurden vom Täter nicht mitgenommen) … der Mann also, der den Kassierer mit einer Schuswaffe bedrohte („Wir wissen nicht, ob die echt war“), hat nicht auf den Kassierer gezielt.

Tattoos

Und dann waren ja noch die Fotos, die ein Kriminalist aus dem Tatvideo extrahiert hat: Sie zeigen die tätowierten Hände des Täters. Was da zu sehen ist, muss nicht identisch sein mit den Tattoos auf den Händen des Mandanten. Auch der Kriminalist hat nichts Eindeutiges sagen können. Natürlich hat der Verteidiger seinen Mandanten über die „Vorteile“ eines Geständnisses aufgeklärt, aber: Was soll einer gestehen, wenn er‘s doch nicht gewesen ist. Logische Folge: Freispruch und Aufhebung des Haftbefehls. A.s letzte Worte: „Tut mir leid, dass ich bin wie ich bin.“ 30 Minuten später: das Urteil.

Keine Therapie

Fünf Jahre wegen schwerer räuberischer Erpressung. Keine Therapie. A. wird dahin zurückgehen, wo er schon oft gewesen ist. Ist da jetzt ein Unschuldiger verurteilt worden? Das Gericht hält A.s Schuld für erwiesen. Man tendiert irgendwie dazu, die Sache ähnlich zu sehen. A.s Hypothek von Geburt an: nicht wirklich gut. Man fragt sich, was aus ihm werden wird. A. und die Drogen? Er wird Hilfe brauchen. Ob A. seine Lage realistisch einschätzt? Wer soll das sagen. Irgendwie hat er einen anderen Eindruck hinterlassen. Wenn das Urteil rechtskräftig wird, verbringt A. die kommenden Jahre im Knast. Eine Therapie wird es nicht geben. Man stellt sich die Frage, was mit A. passieren wird, wenn sich die Türen des Vollzugs wieder Richtung Freiheit öffnen. A. wird vermutlich weiterhin Drogen nehmen. Er wird wieder Geld brauchen. „Ein Gramm Koks kostet circa 50 Euro“, hat er dem Vorsitzenden erklärt. „Wie viel nehmen Sie am Tag?„ „Drei Gramm.“ Derzeit ist A. in einem Methadon-Programm – er wird substituiert. Ob es dabei bleibt? Die nächste offene Frage. A. wird Knasterfahrungen machen. Er wird weiter „lernen“, was zu lernen ist. A.s Zukunft – ein grauer Nebel …