Schreibkraft
Heiner Frost

Treibsand

Vielleicht

Vielleicht muss man umdenken. Vielleicht sollte einer, der jemanden ermorden will, nicht den Keller wählen oder ein abgelegenes Waldstück, sondern einen Supermarkt. 30 Menschen als Zeugen. Vielleicht muss nach dem Erinnern gefragt werden: nach dem, was bleibt, was wird – was gewesen ist. Es gibt Dinge, die aus dem Leben sacken, weil sie durch nichts mit Bedeutung oder Absurdität aufgeladen werden.

„Was haben Sie am 16. Mai 2001 eingekauft?“ „Welche Farbe hatte das Auto, das nach dem Einkauf in der Parkbucht neben Ihrem Wagen stand?“ Und dann: „Wo waren Sie am 11. September 2001? Wenn Sie beim Einkaufen waren: Was haben Sie eingekauft?“ Wer sich auf die Spur des Erinnerns begibt, findet nur selten gerade Linien. Erinnerung wird moduliert und ist – so scheint es –  nicht absolut oder losgelöst möglich. Erinnerung ist eine Art Baukasten. Erinnern ist Addieren. Es geht um Geschichten.

Einbein, Zweibein, Dreibein, Vierbein

Geschichten werden im wahrsten Sinn des Wortes genau dann merk-würdig, wenn sie mit Sinn, Emotionen, mit Absurdität, Bezug oder Beziehung aufgeladen werden. Fragt man Gedächtnisspezialisten, ist bei scheinbar unglaublichen Memorierprozessen immer von Geschichten die Rede – von Bildern. Jemand merkt sich 100 Zahlen, indem er Geschichten bereitstellt – Farben – Kombinationen von beidem. Aber das ist eine andere Ausgangslage. Es geht bei derartigen Leistungen um Erinnerung mit Ansage. Jemand bekommt eine Aufgabe und löst sie mithilfe bestimmter Techniken.
Erinnerung an etwas Unvorhersehbares, Spontanes hängt mit der „Erinnerungsumgebung“ zusammen. Der Impuls wird durch eben jenes Ereignis ausgelöst, das die Erinnerung (re)produziert. Vielleicht wird der Impuls aber auch erst später bereitgestellt, da im Augenblick des Geschehens die Besonderheit noch nicht erfasst werden konnte.

Ein Mann geht in ein Schnellrestaurant. Er stellt sich in eine Schlange. Er wartet zehn Minuten. Als er das Restaurant verlässt, ist sein Auto gestohlen worden. Erst jetzt hat er den Eindruck, dass die Leute in der Schlange ihn beobachtet haben. Er ist plötzlich sicher, dass einige dieser Leute Teil des Geschehens sind, denn für die, die draußen sein Auto gestohlen haben, musste doch jemand Schmiere stehen.

Erinnern ist von Griffigkeit abhängig. Eine Zahlenfolge ist sperrig. Bilder sind es nicht:

Ein Zweibein saß auf einem Dreibein und aß ein Einbein. Da kam ein Vierbein und klaute dem Zweibein das Einbein. Da nahm das Zweibein das Dreibein und erschlug das Vierbein.

Man merkt sich nicht die Zahlen.

Richter: „Haben Sie in der Hand eines der beiden Angreifer einen stangenartigen Gegenstand gesehen?“
Zeuge: „Nein.“
Richter: „Sie haben ein Messer gesehen und den Griff beschrieben. Einen Messergriff kann man normalerweise nicht sehen, denn er befindet sich doch in der Hand dessen, der das Messer hält.“
Zeuge: „Das ist richtig. Aber einer der Angreifer ist beim Herausgehen hingefallen. Als er am Boden lag, öffnete er die Hand, und da habe ich das Messer sehen können.“
Richter: „Wissen Sie noch, warum der Mann gefallen ist?“
Zeuge: „Ich glaube, er war von einem Stuhl getroffen worden. Da war ein Mann mit einem blauen Hemd, der hat mit Stühlen geworfen und mit Flaschen.“
Richter: „Ist Ihnen vielleicht aufgefallen, dass einer der beiden Angreifer gefallen oder gestolpert ist?“
Zeuge: „Nein. Das ist mir nicht aufgefallen.“
Richter: „Haben Sie Stühle gesehen?“
Zeuge: „Ja. Da flogen Stühle durch die Luft.“
Richter: „Ist irgendjemand von einem Stuhl getroffen worden?“
Zeuge: „Nein. Mit ist nichts aufgefallen.“
Richter: „Ist jemand hingefallen?“
Zeuge: „Sie meinen wegen der Stühle? Nein. Das Opfer ist hingefallen. Zusammengesackt.“
Richter: „Haben Sie jemanden etwas sagen oder rufen hören?“
Zeuge: „Nein. Ich habe nichts gehört.“
Zeuge: „Es war unheimlich laut. Die Leute haben geschrien. Einer rief: ‘Kann nicht mal jemand helfen?’ Ich habe dann gerufen: ‘Lassen Sie alle Ihre Einkaufswagen stehen und verlassen Sie den Laden!’“
Richter: „Jemand soll gesagt oder gerufen haben: ‘Der hat das verdient.’ Können Sie sich daran erinnern?“
Zeuge: „Ich habe nichts gehört.“
Zeuge: „Ich kann mich erinnern, das gehört zu haben. Ich weiß aber nicht mehr, wer das gesagt hat.“
Richter: „Haben Sie ein Messer gesehen?“
Zeuge: „Zuerst einmal habe ich kein Messer gesehen. Ich war mit meiner Frau und unserem Sohn zum Einkaufen. Ich habe dann eine Rangelei gesehen. Die haben sich geprügelt und ich dachte bei dem einen noch: Warum schlägt der so komisch? Dann sagte meine Frau: ‘Geh da nicht hin. Der hat ein Messer.’ Dann war mit klar: Der hat nicht komisch geschlagen. Der hatte ein Messer. Der hat zugestochen.“
Zeuge: „Das Opfer hatte ein Messer in der Hand. Ich habe dem dann gesagt, dass er das Messer weglegen soll, bevor ich komme und ihm helfe.“
Zeuge: „Einer der Angreifer hatte ein Messer.“
Richter: „Es waren ja zwei Angreifer. Wissen Sie noch, welcher von beiden das Messer in der Hand hatte?“
Zeuge: „Einer hat das Opfer festgehalten, der andere hat gestochen.“
Richter: „Konnten Sie die beiden Angreifer unterscheiden? War einer zum Beispiel dick?“
Zeuge: „Einer war hager und hatte hochgestylte Haare. Der andere war korpulent.“
Zeuge: „Ich würde sagen, dass der Größere von den beiden das Messer hatte. Der hatte auch ein helles T-Shirt an.“
Zeuge: „Der mit dem Messer – ich glaube, es war der Größere – hatte ein schwarzweiß kariertes Hemd an.“
Zeuge: „Der eine von beiden hatte ein Hemd an – schwarzweißgestreift. Der, der mit den Stühlen geworfen hat, trug ein blaues Hemd und war korpulent.“
Richter: „War der, der mit dem Stuhl geworfen hat, einer von den Angreifern?“
Zeuge: „Nein, das war ein Arzt. Das habe ich später gehört.“
Richter: „Was ist Ihnen aufgefallen?“
Zeuge: „Da war einer, der hat das alles mit seinem Handy gefilmt. Ich meine, wie krank ist das denn?“
Richter: „Warum sind Ihnen die beiden Männer aufgefallen?“
Zeuge: „Sie standen draußen und schauten durch die Scheibe herein.“
Zeuge: „Ich habe zuerst gedacht: Das ist ein Überfall.“
Zeuge: „Die sind ja dann durch den Ausgang hereingestürmt.“
Richter: „Durch den Ausgang?“
Zeuge: „Ja. Durch den Ausgang. Man hatte den Eindruck, dass die zwei auf das spätere Opfer gewartet haben.“
Zeuge: „Die waren mit einer schwarzen A-Klasse gekommen. Das Auto ist mir aufgefallen, weil es zuerst stand. Dann haben die noch eine Runde gedreht und sind dann in die Parkbucht gefahren, die gleich hinter dem Abstellplatz für die Einkaufswagen liegt.“

Zeuge: „Das Auto hat zuerst angehalten. Dann ist es weiter gefahren. Zwischendurch war der Motor aus. Danach ist das Auto dann weggetaucht – das sah so aus, als würde es in die Knie gehen, weil wohl einer vergessen hatte, die Handbremse zu lösen.“
Zeuge: „Das Auto stand dann mit der Schnauze in Richtung Scheibe.“
Richter: „Wie geht es Ihnen heute?“
Zeuge: „Ich hatte gedacht, mit meiner Aussage bei der Polizei ist alles zu Ende und dann hatte ich da die Ladung zu diesem Prozess im Briefkasten und jetzt geht alles wieder von vorn los.“
Zeuge: „Ich kann in dieser Filiale nicht mehr arbeiten. Ich habe mich versetzen lassen.“
Zeuge: „Ich war auch in psychologischer Behandlung. Drei Sitzungen. Danach war es besser.“
Zeuge: „Sie können mir das glauben oder nicht, aber ich konnte in den ersten Wochen danach nicht allein zum Einkaufen gehen und wenn ich Ausländer gesehen habe, bin ich auf die andere Straßenseite.“

Verschärfte Bedingungen

Es gelten verschärfte Sicherheitsbedingungen. Seit einigen Wochen verfügt das Landgericht über eine neue Schleuse. Sicherheit liegt im Auge des Betrachters. Was ist Waffe? Was ist Werkzeug? Wer den Prozess live verfolgen möchte, muss früh da sein. Die Schlange vor der Schleuse ist lang. Es wird akribisch kontrolliert. Wenn die Angeklagten in den Saal gebracht werden, sind alle Flure abgesperrt. Wer unten durch die Schleuse ins Haus gekommen ist, muss vor dem Gerichtssaal noch einmal durch einen Metalldetektor. Die Zeugenliste ist lang. Sehr lang. Ein Königreich für den Staatsanwalt. Wenn zwei Männer vor mehr als 30 Zuschauern einen Mord begehen, sollte die Sache klar sein.

Ein Mann saß auf einem Klavierhocker und aß einen Hähnchenschenkel. Da kam ein Hund und klaute dem Mann den Hähnchenschenkel. Da nahm der Mann den Klavierhocker und erschlug damit den Hund.

Ohne Rückweg

Die 4. Strafkammer steht vor einer großen Aufgabe. Es geht um Mord. Mord in einem besonderen Umfeld. Der Begriff Ehrenmord wird auftauchen. Es wird von Blutrache die Rede sein. Manche Taten sind öffentliche Taten. Ein Mord vor fast 30 Zeugen erleichtert die Suche nach dem Täter. Es sind genügend Menschen am Tatort, die den Finger heben können: „Der war’s.“ Einer, hört man, hat mit dem Smartphone gefilmt. Täter müssen nicht gesucht werden. Sie sind vorhanden. Zunächst geflüchtet, haben sie sich später gestellt und sind seither in Haft – in unterschiedlichen Anstalten.
Was ist ein Täter ohne Motiv? In den Knochen der 4. Strafkammer: Der Prozess der Vorwoche. Ein Nachbarschaftsstreit, an dessen Ende ein versuchter Mord stand. Eine Frau überfährt eine andere mit einem Jeep und schneidet dem Opfer, als sie merkt, dass es noch lebt, mit einem Messer in den Hals. Das Gericht hat ein Urteil gesprochen und doch keinen Weg ins Motiv gefunden. Damals überlebte das Opfer – zertrümmert zwar (an Leib und Seele), aber mit einer Aussicht auf Rückwege in ein beschädigtes Leben. Die Kammer sprach von Fassungslosigkeit angesichts einer nicht nachvollziehbaren Tat. Immerhin: Das Opfer hat überlebt. Hier und jetzt gibt es keinen Weg zurück. Das Opfer: Erstochen. Die Täter bekannt. Das Motiv? Im Dunkeln.

Montag, 20.10.2014, 09:00 Uhr,
4. Strafkammer (Schwurgericht),
Landgericht Kleve, Saal A 105
mit Fortsetzungsterminen am 23., 30., 31.10., 03. und 05.11.2014 (jeweils 09:00 Uhr),
Strafverhandlung gegen zwei Brüder (31 und 22 Jahre alt) aus Bedburg-Hau wegen Mordes.
Nach Darstellung der Staatsanwaltschaft bestanden zwischen der Familie der Angeklagten und der Familie des späteren Opfers in der Vergangenheit zahlreiche Konflikte. Im Jahr 2008 hatte das spätere Opfer versucht, einen Bruder der Angeklagten zu töten, wofür er damals zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren verurteilt worden war und diese auch verbüßt hatte. Dennoch konnten sich die Angeklagten mit der damaligen Tat nicht abfinden und entschlossen sich daher, diese zur Wiederherstellung der Familienehre zu sühnen.
Laut Anklage spürten die Angeklagten mit Messern bewaffnet am Nachmittag des 31.03.2014 das Opfer in einem Einkaufsladen in Kleve auf und griffen ihn dort im Ausgangsbereich an. Zunächst konnte sich das verletzte Opfer zurück in den Laden flüchten, wurde jedoch von den beiden Angeklagten eingeholt. Die Angeklagten stachen mit ihren Messern mit teils wuchtigen Stichen auf das Opfer wahllos ein. Es erlitt insgesamt 44 Schnitt- und Stichverletzungen, insbesondere im Brustbereich. Es verstarb kurze Zeit darauf an den multiplen Verletzungen durch Verbluten nach innen und außen. Die Angeklagten flüchteten, konnten aber noch am selben Tag festgenommen werden.
Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass die Angeklagten aus niedrigen Beweggründen (Mordmerkmal des § 211 StGB) gehandelt haben.
Ein Angeklagter hat sich zur Tat geäußert. Ein anderer Angeklagter hat von seinem Schweigerecht Gebrauch gemacht. Zu den Hauptverhandlungsterminen sind insgesamt 32 Zeugen und 2 Sachverständige geladen.
HINWEIS: Foto- und Filmaufnahmen im Saal sind vor Beginn der Sitzung gestattet. Zugelassen werden nur bereits beim Pressesprecher des Landgerichts angemeldete bzw. bis zum 15.10.2014, 15:00 Uhr, angemeldete Pressevertreter (). Aus Sicherheitsgründen und im Hinblick auf die räumlichen Möglichkeiten wird gegebenenfalls die Anzahl der Fotoreporter und die der Kamerateams begrenzt. Dann wäre nach einer Poollösung zu verfahren.

Begriffsbesichtigung

Das Schlüsselwort lautet diesmal also nicht Nachbarschaftsstreit sondern Familienehre. Eine Farbe ist vorgegeben. Ehre. Gibt es ein Gegenteil? Wikipedia hat einen Vorschlag: Schande. Blamage. Demütigung. Zu erwarten ist die Besichtigung einer Begrifflichkeit, die hierzulande anders aufgeladen wird. Familienehre wird bei uns nicht mit dem Messer verteidigt. Man nimmt sich einen Anwalt. Man beleidigt sich. Der Tod gehört nicht auf die Rechnung. Überhaupt: Was bedeutet schon Ehre? Ehrenbürger, Ehrenamt, ehrwürdig. Ehre hat nichts Unverrückbares. Es scheint immer einen Umweg zu geben. („Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, ich wiederhole …“)

Der Begriff Ehre ist hierzulande längst eine Art Hohlkörper. Inhalte sind nicht vorhanden und wenn doch, sind sie kaum benennbar. Aber da gibt es – die Staatsanwaltschaft sieht das so – eine Ehre, die mit dem Leben verteidigt wird. Eine Ehre, bei der das Leben nicht zu Wort kommt, ist, möchte man meinen, sinnloses Etwas. Vielleicht ist ‚Ehre‘ ohnehin das falsche Wort. Vielleicht geht es um den Stolz. Stolz ist wie Treibsand. Er schluckt, was sich auf ihm bewegt. Entkommen kann man nur durch die Todestür.

Alles bestens

Der Prozess beginnt um 9 Uhr. Die ersten Zuschauer sind schon eine Stunde vorher angekommen. Die Türen zum Gericht werden um 8 Uhr geöffnet. „Wir öffnen erst um acht“, sagt einer der Justizwachtmeister und man könnte meinen: Das hier ist ein Supermarkt. Der Vorsitzende Richter – er kommt auch um kurz vor acht, wird von einem der Justizwachtmeister begrüßt: „Alles bestens. Das Gerüst ist weg.“ (Bis zum Wochenende stand ein Baugerüst im Gerichtsinnenhof. Es ist abgebaut. Der Richter ist zufrieden.)

Vor Jahren gab es einen Prozess, vor dessen Beginn ein Sohn im selben Innenhof mit einem Revolver auf seinen Vater schoss. Der Mann hatte seine Frau umgebracht. „Damit war überhaupt nicht zu rechnen“, sagt der Richter und man merkt ihm an, dass die Tat ihn nicht unberührt hinterlassen hat. „Natürlich haben wir als Richter nicht nur die Verantwortung für ein Urteil zu tragen“, sagt er.

Lückenlos

Diesmal also: Lückenlose Überwachung. Polizei im Innenhof, Polizei an der Einfahrt zum Innenhof, Polizei auch im Inneren des Gerichts. Dazu die hauseigenen Justizwachtmeister. Niemand gelangt unkontrolliert ins Gebäude. Auch die Presse muss ihr Equipment durchleuchten lassen. Oben, vor dem Eingang zum Gerichtssaal, müssen alle Besucher durch einen zweiten Metalldetektor. Man überlegt, ob all der Aufwand einen eher beruhigt oder nervös macht. Es ist schwer zu sagen.

Ich schwöre …

Die Angeklagten erscheinen pünktlich – sie verbergen ihre Gesichter hinter vorgehaltenen Aktenmappen. Man nimmt ihnen die Handschellen ab. Dann bilden die Verteidiger einen Halbkreis und stehen schützend vor ihren Mandanten. Diesmal ist die Zeitspanne zwischen dem Eintreten der Angeklagten und dem der Kammer länger als sonst. Im Gerichtssaal ist es – lässt man die Auslösegeräusche der Kameras außen vor – still. Niemand spricht. Dann tritt die Kammer ein: Drei Richter, zwei Schöffen. Die Richter in Roben, die Schöffen in Zivil. So will es die Vorschrift. Normalerweise tritt das Gericht ein. Der Vorsitzende sagt: „Nehmen Sie Platz.“ Macht der Gewohnheit. Das Gericht tritt ein – schon setzen sich die meisten wieder hin. Der Vorsitzende Richter bittet darum, stehen zu bleiben. Es wird Vereidigungen geben.

„Ich schwöre, die Pflichten eines ehrenamtlichen Richters/einer ehrenamtlichen Richterin getreu dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, getreu der Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen und getreu dem Gesetz zu erfüllen, nach bestem Wissen und Gewissen ohne Ansehen der Person zu urteilen und nur der Wahrheit und Gerechtigkeit zu dienen, so wahr mir Gott helfe.“

Der Richter klärt die beiden Schöffen (ein Mann, eine Frau) darüber auf, dass sie die Eidesformel auch ohne den Zusatz „so wahr mit Gott helfe“ sprechen können. Beide schwören mit Zusatz.
„Bitte nehmen Sie Platz.“

Grenzlinien

Jeder Prozess beginnt mit der Verlesung der Anklage. Das Volk soll wissen, worum es geht. Meist weiß das Volk schon vorher, was verhandelt wird. Zumindest bei den wichtigen Prozessen ist das so. Wichtig ist, was groß ist. Groß ist, was mediale Substanz hat.

Wenn der Staatsanwalt sich erhebt und die Anklage verliest, wird für die Unbeteiligten erstmals die gesamte Tat beleuchtet. Vorgetragen wird ein Geschehen aus der Sicht dessen, der es anklagt. Der Staat spricht. Ein Prozess lotet Grenzlinien aus. Was treibt jemanden in eine Tat?

Hier haben zwei Brüder einen Mann getötet – es gab reichlich Zeugen. Die entscheidende Frage: Vorsatz? Spontantat? Je nach der Beantwortung dieser Frage öffnen sich für die Kammer verschiedene Schubladen. In den Schubladen: Zeitfenster. Es geht um Lebenszeit. Es ist die Lebenszeit zweier junger Männer, die doch eigentlich alles noch vor sich haben – der eine sein Studium, der andere die Zeit, in der er seine Kinder aufwachsen sieht …

Hinraten

Das Arbeiten im großen Saal des Klever Landgerichtes ist schwierig. Manche Aussagen finden – die akustischen Verhältnisse sind gelinde gesagt katastrophal – quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.

[Anmerkung: Mittlerweile ist im großen Saal des Klever Landgerichts eine Sprechanlage installiert worden. Das war, als dieser Prozess lief, anders. Viel besser geworden ist es nicht, denn manche Richter weigern sich schlicht, die Anlage einzuschalten.]

Alles Sprechen ist nach vorne gerichtet – der Richterbank entgegen. Was hinten noch eintrifft, ist oft nicht mehr als ein nebulöser Silbenschrott. Wenn sich bei einer Aussage dazu noch jemand auf den Stühlen bewegt, deren Sitzfläche eine Art Strohgeflecht ist, verschwinden letzte Klangfahnen hinter dieser Geräuschkulisse. Verhandelt wird dann gewissermaßen unter Ausschluss der anwesenden Öffentlichkeit. Das Zuhören wird zum Hinraten – das Mitverfolgen zur Quälerei.

Ausgezackt

Eine gigantische Herausforderung für alle Anwesenden. Am Ende fühlt man sich wie aufs Rad geflochten. Im Gerichtssaal ist ein Grenzgang zu erleben – der Tag umspült die ausgezackten Ränder einer mutlikulturellen Gesellschaft und kratzt die Grenzlinien des verwundbaren Instrumentes Gerichtsbarkeit an. Der Unterschied zwischen Verstehen und Verständnis wird spürbar. Es geht um Teilnahme, Zugehörigkeit, Identität, Selbstverständnis, Selbstverständlichkeit, Verweigerung, Zuständig- und Anständigkeiten, Ausstände und Außenstehende. Es wird deutlich, dass Werkzeuge nur einen Sinn ergeben, wenn sie für vorgesehene Tätigkeit genutzt werden. Der Tag wird zum Brennglas, unter dem sich Ränder, Grenzen, Regeln, Reizbarkeiten, Schmerzen, Einsamkeiten vom Fühl- ins Sicht- und Hörbare emporarbeiten.

Wohin die Worte führen

Es ist, obwohl der Staat Regie führt, ein Prozess der Familien: Angehörige der Täter, die Familie des Opfers – sie sollen aussagen. Licht ins Dunkel bringen. Den Weg in die Tat ausleuchten. Die Sicherheitsvorkehrungen haben ihren Zenit erreicht. Heute wird deutlich, wohin Worte führen können. Wenn Waffen nicht erlaubt sind, muss die Sprache scharf geschaltet werden und den Weg aus der Verwundung der einen durch die Deckung der anderen finden.
Am Tisch der Nebenklagevertretung: Zwei Anwälte, Mutter und Bruder des Opfers, ein Dolmetscher. Kein Platz für den Gutachter, der später über historische Hintergründe des Jesidentums und über eben jene Worte Auskunft erteilen wird, die am Anfang aus der Anklage tönten: Rache. Ehre. Blutrache. Ehrenmord. Es wird ein Tag, durch den man sich am Ende taumelnd bewegt – der allen alles abverlangt. Wie betäubt steht man da – eingewickelt in Sprachdecken, Verzweiflungen, Hilflosigkeiten und Schweigen.
Zunächst kündigt die Verteidigung einen Einspruch an. Es geht um Einlassungen eines der beiden Angeklagten nach seiner Verhaftung. Fürs Erste bleibt es bei einer Ankündigung. Dann: Eine Parade des Schweigens. Die Angehörigen der Täter machen allesamt von ihrem Recht Gebrauch, keine Aussage zu machen.

Schweigen

Richter: „Als Verwandte haben Sie das Recht, keine Angaben zu machen. Sollten Sie sich allerdings entschließen, hier auszusagen, dann muss das so sein als hätten Sie zu den Angeklagten keinerlei Verbindung.“
Der Bruder der Angeklagten schweigt. Eine Schwester schweigt. Eine weitere Schwester schweigt. Dann die Ehefrau des älteren Angeklagten. Sie ist auch die Mutter seiner beiden Kinder. Es fällt auf: Sie trägt nicht seinen Namen. Ehefrauen, Väter, Mütter, Brüder, Schwestern, sogar Verlobte müssen vor Gericht keinerlei Angaben machen. Das Gesetz will sie nicht dem Zerrissenwerden zwischen Wahrheit und Bindung aussetzen und ist sich im Klaren, dass Aussagen unter solch emotionalen Voraussetzungen einen zumindest eingeschränkten Wert haben.
„Brauchen Sie einen Übersetzer?“, fragt der Richter die Zeugin. Sie verneint. Sie ist die Ehefrau des Angeklagten, aber verheiratet sind die beiden nach jesidischem Ritus. Der gilt in Deutschland nicht als relevant hinsichtlich der Möglichkeit, die Aussage zu verweigern. Da sind zwei Menschen seit mehr als zehn Jahren verheiratet, haben zwei Kinder, aber die Frau muss aussagen, wenn das Gericht nicht eine Brücke findet, über die ein sicheres Entkommen aus der Redepflicht möglich ist. Die Zeugin macht deutlich, dass sie nicht aussagen will. Der Richter versucht ihr klarzumachen, dass das Recht einen anderen Weg vorsieht. „Haben Sie denn vor, den Angeklagten zu heiraten?“, fragt er. Die Antwort: „Ja, sicher.“ Der Richter zeigt sich nicht restlos überzeugt. „Sie leben jetzt schon seit über zehn Jahren in Deutschland und haben zwei Kinder. Da könnten Sie doch längst geheiratet haben.“ Die Erklärung: Ein Haus wurde gebaut. Irgendwie kam man nicht dazu. „Wir haben viele deutsche Freunde, und wir wollen auf jeden Fall heiraten.“ Aber eine Heirat wie die beiden sie im Kopf haben ist eine teure Angelegenheit.

Beistand

Der Nebenklagevertreter schlägt vor, der Zeugin einen Rechtsbeistand zur Seite zu stellen. „Das ist eine gute Idee“, lobt das Gericht und unterbricht die Sitzung.

Vor der Pause dann der Antrag: Die Verteidigung will, dass bestimmte Aussagen eines der beiden Angeklagten nicht verwendet werden dürfen, da sie unter für die Verteidigung fragwürdig zu nennenden Bedingungen zustandegekommen sind. Das Gericht wird darüber entscheiden.

Ein Rechtsbeistand muss gefunden werden. 45 Minuten sind dafür vorgesehen. Anschließend sitzt die Zeugin in Begleitung eines Anwaltes vor dem Richter. Die Befragung kann fortgesetzt werden. Ja, es besteht eine feste Heiratsabsicht zwischen der Zeugin und dem älteren Angeklagten. Das ist wie eine Verlobung. Die Angeklagte kann also von ihrer Aussagepflicht entbunden werden. „Möchten Sie Angaben machen?“, fragt das Gericht. „Nein.“ Ein langes Nein. Ein aufwändiges Nein, aber sicherlich ein Nachvollziehbares. Die Zeugin wird sich dieser Zerreißprobe zwischen Liebe und Justiz nicht aussetzen müssen. Sie kann gehen und nimmt im Zuschauerraum Platz. Was den Einspruch der Verteidigung angeht, antwortet das Gericht mit einer doppelten Verneinung: Die Vernehmung des Zeugen war nicht unzulässig. Somit sind deren Ergebnisse verwertbar.

Vorgeschichte

Es folgt die Aussage des Beamten, der die erste Vernehmung durchgeführt hat. Er spricht leise. Man versteht ihn kaum. Irgendwie hat der Kriminalhauptkommissar schon in der Vorgeschichte der Tat eine Rolle gespielt. Da ist der Angriff des Opfers von damals. Es ging gegen einen Bruder der beiden Angeklagten. Die Verteidigung ist der Ansicht, der Beamte habe sich ins Vertrauen geschlichen. Das Gericht sieht es anders.

Er habe sich vor … der Angeklagte habe ruh … er sei … miert gewesen und haben … aufstehen können .. er habe sich …schuldigt, weil er nicht habe aufstehen … er habe gefragt, ob das Opfer tot … und geantwortet, dass … deprimierter Eindruck … er habe sich nie etwas zu Schulden … im Baumarkt gearbei … ein Haus gebaut … man lästere immer über deutsche Männer, weil die keine … aber wenn er noch einmal auf die Welt … würde er sich … ein deutscher Mann zu sein … habe der Angeklagte gesagt … er habe am Tattag … Arzttermin … anschließend Kleinigkeiten … Lidl … das Opfer gesehen … eskaliert … er habe Rückenschmerzen … drei Ibuprophen … ein Messer? … Ja. Zum Schutz vor Herrn B. (Das ist das Opfer.) Der Angeklagte habe auch geweint …

„Hat der Angeklagte das Wort ‘eskaliert’ benutzt?“, will das Gericht wissen. „Ja. Hat er.“
Dann beginnt das Stühlerücken. Der Bruder des Opfers wird aussagen. Er braucht einen Übersetzer. Am Tisch der Nebenklage: Die Mutter des Opfers. Der Übersetzer soll laut genug sprechen. Auch die Mutter soll ihn hören können.

Eruptionen

Jetzt treibt der Tag einer ersten Katastrophe entgegen. Der Richter fragt nach den Personalien. Der Bruder spricht laut. Man spürt, dass zu viele Worte in ihm sind. Er will sprechen. Er will das Unrecht benennen, das seinem Bruder widerfahren ist. Er will über alles sprechen und er will alles in die erste Antwort legen. Er spricht nicht. Er ruft. Er steigert sich in ein Schreien. Er ist Vater von fünf Kindern.
„Ich bin Vater von fünf Kindern. Er hat unsere Ehre beleidigt.“

Es folgen unverständliche Eruptionen. Niemand kann ihn verstehen. Je diffuser das Gesprochene, um so mehr steigen die Pegel von Lautstärke und Emotion. Sprache wird nur noch fetzenhaft in den Raum geschleudert. Der Richter versucht zu unterbrechen, zu beruhigen.

„Wir haben alle Zeit der Welt. Wir wollen alle verstehen, was passiert ist und wir würden gerne einen Punkt nach dem anderen durchgehen.“

Es klingt viel Verständnis aus der Stimme des Gerichts. „Vielleicht sollten Sie sich des Übersetzers bedienen“, schlägt der Richter vor. Darin liegt auch die Hoffnung, dass Sprechen, Übersetzen und Antwort Fahrt aus dem Geschehen nehmen. Aber der Bruder findet keine Bremse. Er spricht jetzt gleichzeitig mit dem Richter. Etwas Kakophones entsteht. Man sortiert es anhand der Stimmfarben und Lautstärken. B., der Bruder, laut – der Richter (noch) verhalten.

Herr B mein Bruder Hausmeister wir verstehen Sie nicht ich habe ihn angerufen Herr B wir verstehen Sie nicht.

Seit sein Bruder ermordet wurde, ist ein Stau entstanden. Jetzt brechen alle Dämme. Immer wieder versucht das Gericht, der Geschichte des Opfers durch Fragen  näher zu kommen. Immer wieder findet Scheitern statt. Hier und jetzt werden Grenzen offenbar. Für den Bruder, so hat es den Anschein, besitzt das Gericht wenig Autorität. Das Gericht ist jetzt ihm unterstellt und soll für Gerechtigkeit sorgen. Es gibt nur (s)eine Gerechtigkeit.

Eine lebende Barrikade

Vorher auf dem Gang war dieser Bruder ein ruhigfreundlicher Mann. Jetzt verwandelt er sich in eine lebende Barrikade und setzt einen Eindruck frei, der Außenstehenden vermittelt: Was, wenn draußen, ohne den Schutz, den ein Gericht bietet, dieser Mann auf die beiden Täter treffen würde? Es wird spürbar, dass das Gericht ein solches Verhalten nicht hinnehmen wird.

„Herr B!, wir verstehen …“

Immer wieder versucht der Richter, den Zeugen ‚einzufangen‘. Auch am Tisch der Nebenklage ist man längst nervös. Hier läuft etwas aus dem Ruder. Schicken sie den Bruder vielleicht bewusst in dieses Erregungskarussell, das sich immer schneller zu drehen scheint? Soll hier das seelische Befinden der Angeklagten durch den Bruder des Opfer gespiegelt werden? Soll das Volk denken: So sind die? Immer noch hastet der Bruder durch die eigene Seele. Er scheint den Richter weder zu hören noch wahrzunehmen. Schließlich ein Schlag. Die flache Richterhand ist mit Krach auf dem Tisch gelandet. HerrRichterichbinmitdenNervenfertigHerrBichermahnesienichtallesaufeinmaldieEhregeficktichermanheSieichverstehekeinWortsprechenSielangsamIhreAussagesolldasGewichtbekommendasihrzusteht …

Richter: „Wenn Sie aufgeregt sind, machen wir eine Pause. Wir haben alle Zeit der Welt und möchten, dass Ihre Aussage das Gewicht bekommt, das ihr zusteht. Nehmen Sie bitte die Hilfe des Dolmetschers in Anspruch. Das macht es für uns alle leichter. Haben Sie Ihren Bruder damals in der Haft besucht?“

Zwei Welten

Zwei Sätze lang kann der Zeuge an sich halten. Ja, er hat den Bruder regelmäßig besucht, auch später im Gefängniskrankenhaus …. dann gleitet er wieder ins Chaos. Der Richter wird wieder laut. Wieder entsteht der Eindruck, dass hier zwei Welten verbindungslos nebeneinanderherexistieren.
Der Nebenklagevertreter unterbricht den Richter. Der spricht den Nebenklagevertreter mit „Herr Verteidiger“ an. Der Nebenklagevertreter gibt sich als Nebenklagevertreter zu erkennen. „Ich bin nicht der Verteidiger“. Die Situation droht wegzubrechen.
„Wir unterbrechen die Sitzung für zehn Minuten.“

Das Gericht nimmt die Sitzung mit einer Ermahnung auf. „Herr B., wir haben gehört, dass Sie in den Pausen Farbfotografien Ihres toten Bruders ins Publikum gezeigt haben. Ich untersage Ihnen das.“ Die Richterstimme kurz vor dem Ausbruch ins Schreien. „Ich ficke eure Ehre.“ Der Nebenklagevertreter bittet den Zeugen, sich nur noch in seiner Muttersprache zu äußern.
Was hier stattfindet ist ein emotionaler Tumult. Man sitzt fassungslos daneben und wünscht sich in eine Welt, die anders funktioniert als diese hier. Alles hier spricht nur von Entfernungen. Von Unerreichbarkeiten. Alles hier ist aus einem diffusen Schmerz geboren. Alles hier ist Sackgasse. Alles hier ist Nicht-Erreichen.

Nicht wörtlich

Das Gericht fragt sich in den Zeugen. Der spricht jetzt in seiner Muttersprache. Wenn das Gericht den Zeugen fragt, wird der Übersetzer tätig. Die Mutter hält die Hand als Trichter ans Ohr. Dann schaltet sich die Verteidigung ein.
„Mein Mandant sagt mir, dass der Dolmetscher nicht wörtlich übersetzt.“
Das Gericht weist den Dolmetscher an, die Äußerungen des Zeugen wörtlich zu übersetzen. Der Dolmetscher lässt erkennen, dass er sich bemüht, Sinn in die Äußerungen des Zeugen zu übersetzen. („Da kommt kein Sinn raus.“)
„Es ist nicht Ihre Aufgabe, die Aussagen zu ergänzen. Wenn der Zeuge zusammenhanglos antwortet, dann brauchen wir genau diesen Eindruck.“
Während all das stattfindet, spricht der Zeuge weiter. Wieder versucht das Gericht, ihn einzufangen.

Im Zentrum

Der Zeuge ist im Zentrum seines Leidens eingetroffen: „Meine halbe Leben weg. Ich leide. Meine Familie. Meine Kinder. Nicht mal eine Terrorist tötet mit 40 Messerstischen.“ Unter den Kurden sei Rache ein Gesetz. Jeden Tag könne das passieren. Jetzt findet die Richterfaust ein zweites Mal auf den Tisch. „Ich werde diese Vernehmung gleich abbrechen.“ Längst attackiert der Zeuge auch die Verteidiger – nimmt Sie ins Wortvisier. „Ich kenne dich“, sagt er zu dem türkischen Verteidiger gewandt. Der Richter ruft: „Herr B., Ihnen steht hier nicht das Recht zu, irgendjemanden anzusprechen.“ Der Richter will wissen, ob es hier um Rache geht, „oder ist das nur Ihre Meinung?“ Zeuge: „Ich bin so aufgewachsen.“

Richter: „Glauben Sie denn ernsthaft, dass es so einfach ist?“ Nebenklagevertreter: „Ich glaube, diese Frage überfordert Herrn B..“ Richter zum Zeugen: „Wenn jemand glaubt, dass Trauer und Wut zusammen Recht ergeben, dann sage ich Ihnen: Da kommt nix Gutes bei raus.“ Der Zeuge treibt längst in eine emotionale Lähmung.
„Sind Sie denn am Tattag noch am Lidl-Markt gewesen?“
Der Zeuge ist gegen 21 Uhr eingetroffen. Er hat mit einem Polizisten gesprochen. Er soll gesagt haben, die Polizei wisse, wie man vorzugehen habe. Er erwarte eine Bestrafung wegen Mordes. Wenn das nicht geschehe, müsse man selber tätig werden. Der Zeuge will das nicht gesagt haben. Die Vernehmung ist beendet und man möchte ins Freie, um sich den Staub aus der Seele zu schütteln.

Man ist Zeuge eines Grenzgangs geworden. Der Zeuge nimmt wieder an der Seite der Mutter am Tisch der Nebenklagevertretung Platz. Er wirkt wie ausgeschaltet. Er ist jetzt wieder der, der zwei Tage gesessen und zugehört hat. Er wirkt ausgebrannt. Vielleicht aber denkt man nur, dass einer jetzt ausgebrannt sein muss. Leergeschrien. Abgekämpft. Wie viel Verzweiflung wohnt in diesem Mann? Es kann doch jemand nicht einfach voller Hass sein und für nichts sonst Platz haben? Da muss doch Verzweiflung wohnen? Ohnmacht. Verletztsein. Niemand möchte nacherleben, dass der eigene Bruder von anderen mit mehr als 40 Messerstichen umgebracht wird. Gibt es ein Bremsen vor dem Hass? Gibt es eine Rettung, oder wird ab jetzt alles immer weiter gehen? Wird es kein Halten mehr geben?

Nie mehr zurück

Es sagt aus: Die zweite Frau des Opfers. Ihr Akzent lässt vermuten, dass sie keine Türkin ist. Später wird sie durch die Zeugenbetreuung darum bitten, dass ihr Name nicht erwähnt wird.
Ihr Mann habe, nachdem er für seine Tat im Gefängnis gesessen habe, nie mehr dahin zurück gewollt. Die Strafe habe er akzeptiert. Zuletzt habe er viel über Politik geredet. Das sei sein Thema gewesen. Er sei krank gewesen. Er habe erzählt, dass die Familie O. ihn töten wolle. Er habe immer Angst gehabt. Es habe kein Kontakt zu der Familie stattgefunden. Sie könne sich das nicht vorstellen. Die Nebenklagevertretung will wissen, ob das Opfer ein Messer besaß. Nein. Er habe, sagt die Frau, nie ein Messer gehabt. Zwischendurch immer wieder das Tasten nach Sparbüchern der Kinder aus der ersten Ehe des Opfers.

Gutachten

Das Gericht schlägt eine Mittagspause vor. Danach: Das Gutachten zum Thema Jesidentum und Geschichte. Der Gutachter bittet um sofortigen Auftritt. Er hat Anschlusstermine und wird es ansonsten nicht schaffen. Das Gericht stimmt zu. Dann ein Exkurs in das Jesidentum, die Geschichte, die Bräuche. Der Gutacher spricht von einem Kastensystem, in dem nicht vorgesehen ist, dass jemand außerhalb des Glaubens heiratet. Missionierung ist nicht vorgesehen. „Die Menschen sind also in ihrem Glauben eingeschlossen“, sagt er und benutzt das Wort Endogamie.
Wikipedia: Endogamie (altgriechisch éndon „innen“, gámos „Hochzeit“: Innenheirat) bezeichnet in der Ethnosoziologie eine Heiratsordnung, die Eheschließungen innerhalb der eigenen sozialen Gruppe, Gemeinschaft oder sozialen Kategorie bevorzugt oder vorschreibt, der Partner soll beispielsweise derselben Abstammungs- oder Volksgruppe, Glaubensgemeinschaft oder sozialen Schicht angehören.
Das ein Teil des altgriechischen Wortes an das deutschklingende Ende erinnert, ist nichts als eine Zugabe. Es geht auch um Zahlen. Wie viele Jesiden leben wo. Der Gutachter erklärt, dass es in Deutschland zwei Hochburgen des Jesidentums gibt. „Eine davon ist hier.“ Der Gutachter beschreibt den Unterschied zwischen den verschiedenen Generationen, seit die Jesiden in Deutschland leben. Die erste Generation: Streng der reinen Lehre verpflichtet. Die jetzige Generation: Lauter Suchende. Die reine Lehre sieht im Zentrum allen Strebens die Familie. Alles Handeln ist familiär zielgerichtet. Das ändert sich in der neuen Generation. Im Jesidentum, erklärt der Gutachter, gibt es keinen Unterschied zwischen Mann und Frau. Trotzdem ist die Gesellschaft patriarchalisch ausgerichtet. Der starke Vater steht im Zentrum der Familie. Heirat ist ein Teil der Familienpolitik und wurde früher nicht als Zwangsheirat empfunden. Wenn sich alles auf das Wohl der Familie konzentriert und das Individuum untergeordnet ist, wird die Vorherbestimmung einer Heirat nicht als Zwang empfunden. Die zentrale Frage: Was hat meine Familie davon? Dann biegt der Gutachter auf jenen Weg ein, der zur Ehre führt, zur Lösung von Konflikten. Alle Konflikte werden über den Haushaltsvorstand gelöst. Haushaltsvorstand ist der Vater. Von entscheidender Bedeutung ist die Außendarstellung. Man soll nicht auffallen. Jede Familie muss Ehre haben. Wer Ehre hat, ist ein Ansprechpartner, wer keine Ehre hat, hält sich außerhalb der Grenzen auf. Die Frau ist Teil der Ehre des Mannes und so gesehen ein Teil des Besitzes, den es zu schützen gilt. Verletzt jemand die Kinder, verletzt er die gesamte Familie. Wer keine Ehre hat, kann keinen Handel treiben. Daraus folgt, dass die Ehre notwendiger Bestandteil des Überlebens einer Familie ist. Eine Scheidung ist erlaubt und möglich. Geht eine Frau fremd, ist die Ehre verletzt. Konflikte werden (auch unter Zuhilfenahme von Vermittlern) möglichst schnell geklärt. Einigung ist das Ziel, denn ohne Einigung ist das System einer Gefährdung ausgesetzt. Blutrache und Ehrenmorde sind zwei grundsätzlich verschiedene Handlungsstränge. Der Gutachter greift auf die Generationenentwicklung zurück und schildert die Heiratsregelung als Problem. Als das jetzige Opfer vor langer Zeit eine Verbindung mit einer nicht-jesidischen Frau einging, handelt es sich dabei um eine Ehrverletzung. Die erste Reaktion: Verheimlichung. Gutachter: „Meist neigt man zu pragmatischen Lösungen.“ Das Opfer ging die Ehe ein, die später geschieden wurde. Immer wieder geht es um „zeitnahe Konfliktlösung“. Schnell entscheiden. Nicht zögern. 18 Jahre ist es her, dass das Opfer die vermeintliche Ehrverletzung beging. Alles, was jetzt passiert ist kein Nachfolgen aus dem Damals. (Gutachter: „Das wäre sehr unüblich.“) Es fand eine Scheidung statt. Der Konflikt: Abgearbeitet. Die Regel: Findet eine öffentliche Ehrverletzung statt, muss die Ehre öffentlich wiederhergestellt werden. (Gutachter: „Es muss gesehen werden.“)

Berührung

Das alles sucht nach einer Berührung mit dem Fall und findet sie in der ersten Ehe des Opfers, denn er war mit einer Schwester der beiden Angeklagten verheiratet und hatte eine außereheliche Beziehung mit einer nicht-jesidischen Frau. Hier also kommt die Ehre ins Spiel, aber es scheint klar, dass 18 Jahre ausreichen, einen Konflikt zur Ruhe kommen zu lassen. Alles Suchen nach Ehre und Rache ist, von der Seite der Justiz aus betrachtet, die Suche nach einem Motiv, nach Planung, nach Vorsatz und – das wird sich am vierten Tag zeigen: Nach einer Möglichkeit zum Verstehen, die kein Verständnis bedeutet sondern ein Nachvollziehenkönnen. Man will sich nicht vorstellen, dass Menschen in einen Supermarkt gehen und ohne jedes Motiv einen Menschen töten. Die Rechtsprechung sieht auch das Nichtvorhandensein eines Motives als einen niedrigen Beweggrund.
Was der Gutachter in den Prozess trägt, ist ein hohes Maß an Wahrscheinlichkeit, dass es nicht um einen Ehrenmord gegangen ist. Das Gericht stellt fest, dass in der Lebenswirklichkeit von Opfer und Tätern der verbale Angriff auf die Ehre eines Gegners oft ein Angriff auf die Ehre der Familie – insbesondere der Mutter ist. Daher Wendungen wie „Ich ficke deine Mutter“. Wer die Mutter fickt, fickt die Ehre.
Das Gericht möchte wissen, was es mit dem eventuell gefallenen Satz „Er hat es verdient“ auf sich haben könnte. Wie müsste man ihn bewerten? Der Gutachter: „Zu einer derart öffentlichen Tat muss nichts mehr gesagt werden.“

Einfach, logisch, konsequent

Die Nebenklagevertreterin fährt nochmals über die Baustellen: Geld, Familienehre, Besitzschutz. Die Tat des Opfers aus dem Jahr 2008. Musste das Folgen haben?
Der Gutachter sieht die Haft als Akzeptanz des Geschehenen und die zwei Kinder, die von der Familie akzeptiert wurden, als Wiederherstellung der Ehre an. Blutrache, so der Gutachter, kommt in diesem Fall ohnehin nicht in Frage.
Der Richter glaubt erkannt zu haben, dass die Systematik des Denkens einfach, logisch und konsequent zu nennen ist. Ein voreheliches Kind wurde verschwiegen, ein Maximum an Ehrverletzung hatte längst stattgefunden, nichts ist eskaliert, 18 Jahre sind vergangen. Irgendwann muss es doch mal gut sein.
Berichterstattung, möchte man glauben, ist das Vermitteln von Einblick durch das Erzählen von Geschichten. Wovon handelt eigentlich diese Geschichte? Vielleicht handelt sie von der Beschreibung einer Umlaufbahn um den Planeten Menschlichkeit – vom einem Aufbrechen alter Wunden, mit dem niemand rechnen konnte. Ein Mann geht in einen Supermarkt. Seine Frau hat ihn zum Einkaufen geschickt. Er wird niemals zurückkommen. Er trifft auf zwei andere Männer. Am Ende bleiben drei zerstörte Leben. Die Existenz des Opfers kommt zu einem physischen Ende, das Tod genannt wird. Über 40 Messerstiche führen in das Ende und man fragt sich, warum, der da immer wieder zustach, kein Ende finden konnte. Es entsteht der Eindruck, dass es um eine endgültige physische Vernichtung ging. Niemand sticht 40 Mal, nur um zu verletzen. Was aber ist noch zu Ende gegangen? Es ist das Leben der Täter, dass an einem Krater endet, dessen Tiefe kaum auszuloten ist. Ein Familienvater und sein junger Bruder – ein Studium vor Augen – sollen vor 40 Zeugen einen geplanten Mord begangen haben? Öffentlich verletzte Ehre kann nur öffentlich wiederhergestellt werden? Zwei Männer müssten sich, wie vom Gutachter beschrieben, als Individuen aufgelöst und in diese Tat gestürzt haben, die am Ende auch alle Verwandten in einen Strudel zwingt. Was wird der Vater seinen Kindern sagen, wenn er sie wiedersieht? Was wird die Mutter den Kindern sagen, die nach ihrem Vater fragen? Bestimmt nicht wird sie sagen: Euer Papa hat einen Mann umgebracht und sitzt jetzt im Gefängnis. Sie wird nach Ausreden suchen. Für sich. Für die Kinder. Zwei junge Männer sitzen stumm auf der Anklagebank. Niemand weiß, ob sie hätten reden wollen. Die Verteidiger, scheint es, haben anders entschieden. Oft reden sich geständige Täter ins eigene Verderben. Die Aufgabe der Anwälte: Schutz vor dem Schlimmsten. Das Schlimmste ist längst geschehen: Es ist die Tat. Aber die Folgen sollen beherrschbar bleiben. Es soll am Ende nicht um einen geplanten Mord aus niederen Beweggründen gehen. Niemand kann ernsthaft mit einem Freispruch rechnen. Es gab die Tat. Es gab die Zeugen. Ziel der Verteidigung: Der Weg in den Affekt, den Totschlag – weg vom „lebenslänglich“.

Attest

Der vierte Tag. Einfache Vernehmungen. Kripobeamten leuchten den Tatort aus. Wie wurden am Tatort die Zeugen von denen getrennt, die nichts gesehen hatten. Wie benahmen sich die Angeklagten, als sie sich, nachdem sie zunächst geflohen waren, dann stellten.
Das Gericht kehrt auf beherrschbares Terrain zurück. Zeugen, die wissen, worum es geht. Zeugen, die die Bedeutung einer Verhandlung verstehen, dem Gericht Respekt zollen. Vier Polizeibeamte sagen aus und sind nach 20 Minuten genügend befragt. Die erste Pause eines Tages, der am Ende dadurch auffällig wird, dass die Pausen mehr Zeit beanspruchen als die Verhandlung. Eine weitere Beamtin, deren Aussage geplant war, hatte am Vorabend einen Unfall. Wahrscheinlich hat sie sich einen Bänderriss zugezogen. Sie wird ein Attest einreichen. Das Gericht beschließt später, dass die Zeugin nicht vernommen werden muss. Sie war bei der Verhaftung der Täter anwesend. Dazu hat es bereits drei Aussagen gegeben. Das reicht. Ein weiterer Polizist sagt aus. Die Verhaftung: Wenig spektakulär. „Ich habe mich gewundert, denn wir hatten schon viel mehr Tullus wegen kleinerer Sachen.“ Die Angeklagten: Ruhig, kooperativ. Ohne Gegenwehr legen sie sich bei der Verhaftung auf den Boden. Lassen sich festnehmen. Sie stehen weder unter Drogen- noch unter Alkoholeinfluss.
Die Beamten, die als erste am Tatort eintrafen, schildern ihre Eindrücke. Einer spricht von einer „Schocklage“, bei dem anderen ist von einer „Chaoslage“ die Rede. Zuerst habe man sie zu einer Schlägerei geschickt. Später sei die Einsatzmeldung erweitert worden. Ein Messer sei im Spiel. Auf das, was sie dann vorfinden, sind alle nicht vorbereitet.
Nein, von einem Mann, der die Tat mit einem Handy gefilmt haben soll, hat damals keiner der Zeugen gesprochen.
Das Gericht unterbricht für eine Stunde. Im Anschluss soll ein Rechtsgespräch stattfinden.

Strafprozessordnung § 257c (Verständigung zwischen Gericht und Verfahrensbeteiligten).
(1) Das Gericht kann sich in geeigneten Fällen mit den Verfahrensbeteiligten nach Maßgabe der folgenden Absätze über den weiteren Fortgang und das Ergebnis des Verfahrens verständigen. § 244 Absatz 2 bleibt unberührt.
(2) Gegenstand dieser Verständigung dürfen nur die Rechtsfolgen sein, die Inhalt des Urteils und der dazugehörigen Beschlüsse sein können, sonstige verfahrensbezogene Maßnahmen im zugrundeliegenden Erkenntnisverfahren sowie das Prozessverhalten der Verfahrensbeteiligten. Bestandteil jeder Verständigung soll ein Geständnis sein. Der Schuldspruch sowie Maßregeln der Besserung und Sicherung dürfen nicht Gegenstand einer Verständigung sein.
(3) Das Gericht gibt bekannt, welchen Inhalt die Verständigung haben könnte. Es kann dabei unter freier Würdigung aller Umstände des Falles sowie der allgemeinen Strafzumessungserwägungen auch eine Ober- und Untergrenze der Strafe angeben. Die Verfahrensbeteiligten erhalten Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Verständigung kommt zustande, wenn Angeklagter und Staatsanwaltschaft dem Vorschlag des Gerichtes zustimmen.
(4) Die Bindung des Gerichtes an eine Verständigung entfällt, wenn rechtlich oder tatsächlich bedeutsame Umstände übersehen worden sind oder sich neu ergeben haben und das Gericht deswegen zu der Überzeugung gelangt, dass der in Aussicht gestellte Strafrahmen nicht mehr tat- oder schuldangemessen ist. Gleiches gilt, wenn das weitere Prozessverhalten des Angeklagten nicht dem Verhalten entspricht, das der Prognose des Gerichtes zugrunde gelegt worden ist. Das Geständnis des Angeklagten darf in diesen Fällen nicht verwertet werden. Das Gericht hat eine Abweichung unverzüglich mitzuteilen.
(5) Der Angeklagte ist über die Voraussetzungen und Folgen einer Abweichung des Gerichtes von dem in Aussicht gestellten Ergebnis nach Absatz 4 zu belehren.

Was wäre, wenn …

Was nun folgt, erinnert irgendwie an „Was wäre, wenn heute gewählt würde“. Das Gericht klärt alle Prozessbeteiligten darüber auf, wie die momentane Situation gesehen und beurteilt wird. „Das bedeutet keine Festlegung in Richtung auf ein Urteil.“ Man hat den Eindruck, dass jetzt das Eis dünn ist und der Spagat weit, denn es geht dem Gericht darum, vielleicht eine Empfehlung auszusprechen, ohne Bedingungen daran zu knüpfen. Die Kammer geht davon aus, dass die beiden Angeklagten die Tat begangen haben. „Das der Geschädigte zu Tode gebracht wurde, scheint uns klar.“ Über die direkte Täterschaft gibt es keine Angaben. „Wir werden am Montag eine weitere Zeugin hören, die Angaben zum Tatgeschehen machen kann.“ Die Zeugin ist eine Lidl-Angestellte. Sie saß an der Kasse, neben der der Mord passierte. Sie ist noch in Urlaub. Die Kammer erwartet von der Aussage der Zeugin nähere Details. Das Gesamtbild, das sich die Kammer gemacht hat, deutet auf eine gemeinschaftliche Tat hin. Nicht Sicheres spricht für eine längere Planung. Nichts deutet auf eine langfristige Strategie. Die Umstände sprechen, so der Vorsitzende, für eine spontane Tat, deren Motiv allerdings verborgen bleibt. Es gehe weder um Rache noch um einen Ehrenmord, sagt der Richter, „aber das sind ohnehin nur Etiketten. Das können wir nicht sicher feststellen.“ Der Gutachter habe nicht vermitteln können, dass derartige Motive handlungsleitend gewesen seien. Unter dem Strich sei das Motiv bei den Angeklagten zu suchen. „Es ergibt sich das äußere Bild einer Tat in der Nähe zur Selbstjustiz.“ Eine Tötung ohne Motiv, so der Vorsitzende, das habe die Rechtsprechung gezeigt, könne als Mord aus niederen Beweggründen aufgefasst werden. Das äußere Bild der Tat: Zwei Männer ohne persönlichen Kontakt zum Opfer – ohne eine persönliche Beziehung zu ihm.

Ein Appell

Nun beginnt der Appell. „Alles andere wissen wir nicht, weil die Täter schweigen“, sagt der Vorsitzende. Wenn man nichts anderes habe, dann müsse man von Gedanken auf niedrigster Stufe ausgehen. „Wir suchen nach etwas menschlich Verständlichem. Dabei geht es um Verstehen und nicht um Gutheißen. Ein Begreifen ist hier nicht erreichbar.“ Wie übersetzt man den Vorsitzenden? Er hinterlässt ein weiteres Mal das Bild eines Brückenbauers. Die Kammer wünscht sich sprechende Angeklagte. Sie wünscht sich eine Kommunikation, die in die Tat führt und dem Urteil auf die Sprünge hilft. Jedem Urteil, das sich nicht auf innere Beweggründe der Täter stützen könne, hafte, so der Vorsitzende ein Makel an. All das lässt sich leicht nachvollziehen. Längst haben auch die Beobachter den Wunsch, diese Angeklagten kennenzulernen. Stumm betreten sie den Saal, stumm sitzen sie da, stumm folgen sie der Verhandlung, stumm lassen sie sich am Ende abführen. Man wünscht sich ein Bedauern, eine Erklärung, irgendeine sichtbare Reue. Aber die Verteidiger haben anderes beschlossen. Vielleicht ist ihnen das Risiko zu groß, dass eine Aussage die Strategie zerstückeln könnte.
Das Gericht hat seine tatkräftige Bemühung um ein angemessenes Urteil in einer Weise offengelegt. Das fordert Respekt ein. Der Verteidiger des älteren der beiden Angeklagten bedankt sich „für die offenen Worte des Vorsitzenden“ und kündigt für den nächsten Prozesstag eine Einlassung an. „Ich weiß, dass Sie das nicht mögen“, wendet er sich an den Richter. „aber es wird sich um eine schriftliche Einlassung handeln.“
Noch einmal geht es um eine mögliche verbale Auseinandersetzung im Supermarkt. Vielleicht ist ja etwas gefallen wie „Ich ficke deine Mutter!“ Was, wenn’s passiert ist? Ist das nicht eine fast normale Form des Streites, hört man die Kammer in meterdicken Gänsefüßchen fragen? Es wird von Motivationsbeherrschung gesprochen. Müsse man nicht gewappnet sein gegen derlei Beschimpfungen, die – wieder türmen sich Gänsefüßchen in der Stimme – an der Tagesordnung seien? Das Gericht möchte kein Urteil mit dem Makel der Einsicht in die innere Motivation. Der nächste Verhandlungstag bringt die Zeugin von der Kasse und das gerichtliche Gutachten. Die Kammer wünscht ein schönes Wochenende.

Verbrechen sind Schnittpunkte, an denen sich Geschichten kreuzen. Es sind die Geschichten von Opfern, die Geschichten von Tätern – es sind aber auch die Geschichten derer, die sich im Anschluss mit einer Tat befassen, die Geschichten der Zeugen, die oft genug durch ihr Zusehen auch Opfer geworden sind.
Der Prozess um den Mord in einer Klever Lidl-Filiale im März dieses Jahres, der zurzeit vor dem Klever Landgericht stattfindet und wahrscheinlich am Mittwoch mit den Plädoyers von Staatsanwaltschaft, Nebenklagevertretung und Verteidigung in seine Endphase eintritt, zeigt das auf fast schon schmerzhafte Art und Weise.
Er zeigt, dass ein Mord am Ende nur Opfer zurücklässt. Da ist ein Tatopfer, umgebracht mit 44 Messerstichen – da sind aber auch die Familien der Täter und des Opfers, da sind traumatisierte Zeugen und all die, die professionell einen Weg in die Tat finden möchten, um hernach zu einem Urteil zu gelangen, das dem Geschehenen „angemessen“ ist. Schon zu Beginn des Prozesses wurde klar, dass die Angeklagten (zwei Brüder) sich nicht äußern würden. So stand und steht das Gericht vor der Aufgabe, das Geschehene durch Zeugenaussagen zu rekonstruieren und am Ende verschiedene Frage zu klären: Handelte es sich bei der Tat um ein im Voraus geplantes Geschehen, handelten die Täter aus niederen Motiven, oder war, was sich an jenem Montag, 31. März, kurz vor 18 Uhr im Materborner Lidl-Markt abspielte, eine Art von Lawine – spontan in Gang geraten und ausgelöst durch mehr oder weniger unbedacht gemachte aber nichtsdestoweniger verletzende Äußerungen.
Der Prozess zeigte traumatisierte Zeugen, die noch Monate nach der Tat nur unter seelischen Schmerzen in ein Geschehen zurücktauchen mussten, das noch nichts von seinem Schrecken verloren zu haben scheint. Auf der einen Seite die Familie der Täter – allesamt schweigend, auf der anderen Seite ein Bruder des Opfers, der sich selbst und das Gericht an die Grenzen des Erträglichen manövrierte. Man spürte, dass zu viele Worte in ihm sind. Seit Tagen hatte er, am Tisch der Nebenklage sitzend, zugehört. Dann, endlich, die Gelegenheit, das Unrecht benennen, dass seinem Bruder widerfahren ist. Er will über alles sprechen und er will das alles in eine Antwort legen. Er spricht nicht. Er ruft. Er steigert sich in ein Schreien. Die Vernehmung: Immer wieder kurz vor dem Abbruch.
Es wird klar: Der Prozess addiert zu einem Mord eine Welt, in der ein Begriff wie „Ehre“ anders buchstabiert wird.
Trotz allem zeigte ein eigens bestellter Gutachter, der das Gericht und die Beobachter mit den Grundsätzen der jesidischen Kultur vertraut machte, dass es sich bei dem Mord wohl höchstwahrscheinlich nicht um einen sogenannten Ehrenmord und schon gar nicht um Blutrache gehandelt hat. Prozesse wie dieser, die auch die Ränder einer auszackenden Gesellschaft aus verschiedenen kulturellen Ansätzen beleuchten, führen in jeder Hinsicht Grenzlinien vor, deren Betrachtung allein schon schmerzlich ist. Es ist nur allzu leicht, sich auf eine Seite zu schlagen, aber man gewinnt nichts dabei: Keine Klarheit, keine Einsicht.
Nach Abschluss eines Großteils der Zeugenaussagen fand dann ein Rechtsgespräch statt, bei dem das Gericht alle Verfahrensbeteiligten darüber aufklärte, „wie wir das Geschehen zum jetzigen Zeitpunkt einordnen“, ohne dabei eine Urteilsfestlegung sein zu wollen. Der Vorsitzende Richter machte deutlich, dass es sich „um eine Tat in der Nähe von Selbstjustiz“ handele.

Vorausgegangen war dem Mord ein versuchter Totschlag, bei dem das jetzige Opfer der Täter war und einen Bruder der beiden Angeklagten schwer verletzt hatte. Das Gericht machte klar, dass es die Tat nicht als geplante Tat ansehe. Der Vorsitzende sprach allerdings auch darüber, dass jedes Urteil, das ohne tiefe Einsicht in die Motivation zu Tat auskommen muss, immer von einem Makel behaftet sei. „Wir wollen das verstehen. Wir wollen es nicht gutheißen.“ Bei einem Urteil wird es um den Unterschied zwischen Mord (aus niederen Beweggründen) und Totschlag (im Affekt?) gehen. Man hatte den Eindruck, dass da ein Gericht Brücken baut und um „Assistenz“ bittet. Sprechende Täter, so der gewonnene Eindruck, hätten nichts zu verlieren.

Traumatisiert, bedroht

Die Verteidiger kündigten nach dem Dank für „die offenen Worte des Gerichts“ Einlassungen ihrer Mandanten an. Die wurden am Montag verlesen. Nun wurden die Angeklagten auch als von einer Tat Traumatisierte beschrieben. Gemeint war der versuchte Totschlag an ihrem Bruder. Seitdem hätten beide in Angst gelebt, vor allem, seitdem der damalige Täter (ihr Opfer) seine vierjährige Haftstrafe verbüßt habe und wieder nach Kleve gezogen sei. Beide beschrieben, dass sie seit dieser Zeit immer wieder das Bild ihres blutenden Bruders im Kopf gehabt hätten. Sie hätten sich, nachdem das jetzige Opfer aus der Haft entlassen worden war, bedroht gefühlt und am Tattag eigentlich nur ein Gespräch mit dem zufällig aufgetauchten Mann führen wollen. Die Absicht: Dem Mann klarmachen, dass er endlich ihre Familie in Ruhe lassen solle. Die Tatsache, dass sie ihn in einer Lidl-Filiale angesprochen hätten, sei für sie eher beruhigend gewesen, da dachten, dass vor so vielen Menschen schließlich nichts passieren könne.

Über Bande

Aus den Einlassungen wurde klar, dass jeder der Brüder auf das Opfer eingestochen hat. Ein Gegständnis „über Bande“. Insgesamt zählten die Rechtsmediziner 44 Stichverletzungen an Armen, Beinen, im Bauch- und Brustraum.
Der Bewährungshelfer des Opfers schilderte einen eher ruhigen Mandanten, der gewissenhaft seine Auflagen erfüllt habe. Allerdings sei in der Haft eine psychotische Störung bei dem Mann diagnostiziert worden. „Er ist nach der Entlassung damit aber nicht zu einem Facharzt gegangen, sondern hat sich von seinem Hausarzt behandeln lassen. Ich hätte das lieber anders gesehen“, so der Bewährungshelfer. Im letzten halben Jahr habe das Opfer dann seine Medikamente abgesetzt und sei „nervig“ geworden. Seine Frau habe daraufhin erwogen, sich von ihm (räumlich) zu trennen.
Wie eine Tat gesehen wird, ist verständlicherweise durch die Position des Betrachters definiert. So sind die Täter für die einen unberechenbare Mörder und für die anderen seelisch traumatisiert und in die Enge Getriebene, denen bei dem Versuch, eine Sache zu beenden, die Beherrschung vollends entglitten ist, was in einer Tatkatastrophe endete, an deren Ende ein Mensch mit 44 Messerstichen getötet wurde und die Täter ohne die Möglichkeit „erwachten“, das Geschehene nachzuvollziehen. Das Gericht hätte sich, das wurde immer wieder klar, gewünscht, dass die Angeklagten sich den Fragen stellen und einen Weg in die Tat aufzeigen. Die Strategie der Verteidigung sieht offensichtlich anderes aus.
Der jüngere der beiden Brüder ließ in der von seinem Anwalt verlesenen Einlassung keinen Zweifel daran, dass er die Tat zutiefst bereut, sich bei der Familie des Opfers entschuldigt und die zu verhängende Strafe akzeptieren und als einen Weg der eigenen Auseinandersetzung mit dem Geschehenen ansehen wird. Auch sein älterer Bruder bereut die Tat. Die Verteidigung stellte abschließend noch Beweisanträge. „Wir werden darüber beraten“, so der Vorsitzende.

Staatsanwalt, Nebenklage und Verteidigung werden wohl am Mittwoch plädieren. Mit einem Urteil, so der Vorsitzende, sei am Mittwoch allerdings nicht zu rechnen, denn die Beratung werde Zeit in Anspruch nehmen. Man kann hoffen, dass bei den Plädoyers laut und deutlich gesprochen wird. Der Prozess machte wieder einmal deutlich, dass die Akustik im großen Saal des Landgerichts einigermaßen katastrophal ist, so dass manche Aussagen trotz der Anwesenheit von Publikum quasi „unter Ausschluss der Öffentlichkeit“ stattfanden.
Man wünscht sich am Ende der Verhandlung, dass alle Beteiligten eine Chance haben, endlich zur Ruhe zu kommen. Man wünscht sich Zeugen, deren beschädigtes Leben zurück zur Normalität finden kann und Familien, die – auf welcher Seite auch immer – einen Schlussstrich ziehen können. Jede Tat ist Schnittpunkt. Sie ist auf verstörende Weise Ende und Anfang. Ein Verfahren kann am Ende der Tat für alle Beteiligten zur Chance für einen Neuanfang werden.

Gespräche

Mit der Zeit entsteht eine Art Vertrautheit. Pausengespräche auf dem Gang: Mit dem Kollegen, den Schöffen, den Wachtmeistern. Treffpunkt ist meist der Kaffeeautomat. Er führt die Beteiligten bei der Wahrnehmung ihrer Bedürfnisse zusammen. Man kommt ins Gespräch. Die Schöffin erzählt, wie sie im Stau gestanden hat, ihre Kollege musste Suppe kochen, weil er abends Blutspender kräftigen soll. Nach der Aussage der Bruders sagt jemand: Jetzt sind wohl alle wieder wach. Ein junger Justizwachtmeister war am Vortag langsam auf seinem Stuhl zusammengesackt. Der Körper sackte durch, der Kopf pendelte seitwärts und zwischendurch immer wieder mit einem Ruck zurück.
Man grüßt sich. Auch in der Stadt. Man spielt im selben Film. Einzig unbekannt bleiben die Angeklagten – von ihren Verteidigern ins Schweigen geführt. Dabei müsste man gerade sie – die Angeklagten – kennenlernen. Das Gericht hat es längst gesagt: „Wir wollen etwas verstehen. Wir wollen nicht gutheißen.“ Was haben sie denn zu verlieren?

Pläne

Ein Gespräch mit einer Familienangehörigen aus der Täterfamilie. Die beiden hätten Pläne gehabt. Haus und Kinder, der Eine – ein Studium der andere. Da zieht man nicht los, um vor 40 Zeugen zu morden und damit nicht nur ein Opferleben zu zerstören, sondern auch das eigene. Die Frau hat sich Urlaub genommen. Sie will hier sein. Sie will unterstützen. Dabei wird schnell klar: sie wäre im Zeugenstand die beste Unterstützerin. Sie könnte ein Bild zeichnen. Wenn die Verteidigung die Brüder ins Schweigen fordert, warum lässt sie die anderen nicht zu Wort kommen? Man mag die Strategie nicht nachvollziehen und denkt an unterlassene Hilfeleistung.

Wenn sie die beiden in Handschellen in den Saal kommen sieht, sagt die Frau, sei das ein Bild, das sie mit Trauer auflade. Nein, sie sagt das nicht so. Sie sagt etwas anderes, aber dieses Bild stellt sich ein. Niemand, denkt man, plant die Demontage des eigenen Lebens durch die Vernichtung eines anderen. Niemand hat ein Bild von den Angeklagten gemalt. Die Einlassungen: Ein Versuch, der irgendwie ins Leere gleitet, weil all das in seiner Bemühung, die hilflose Sprache der Täter nachzustellen, eher ins Gegenteil schlägt. Es wirkt alles nach dem Versuch, Punkte zu erzielen, indem bestimmte Dinge schülerhaft zur Litanei umfunktioniert und instrumentalisiert werden. Da tut ein Text, als käme er von Herzen und ist doch nur aus dem Kopf geboren.

Ausland

Der ältere der beiden Brüder: Ein Mann, dessen Frau nicht weiß, was sie den Kindern sagen soll. Papa ist im Ausland. Aber er ruft nicht täglich an wie es andere Väter tun würden. Ein Vater, der zum Geburtstag der Kinder nicht da ist, der nicht beim Martinszug die Laterne vorbereitet und nach dem letzten Pausengong in der Schule zum Abholen bereit steht. Ein Vater, der beim Elternsprechtag nicht dabei ist, bei der Musizierstunde nicht im Publikum sitzt, bei der Theateraufführung nicht stolz klatscht. Und wenn je durchsickert, wer der Vater ist und wo er ist, setzt das Leiden erst richtig ein. Dann brechen Verletzungen über die Kinder herein. Dann brechen die Dämme, die jetzt gebaut werden und vor dem Schlimmsten schützen sollen.

Traurigkeit

Der fünfte Tag: Man wird vom Wochenende ans Montagsufer gespült und strandet wieder in der Traurigkeit. Am Kaffeeautomat ein handgeschriebener Zettel. Schon fühlt man den Ausnahmezustand und liest dann: Suppe defekt. Ein Teilausfall also, der den Verzicht auf das Unwichtige dokumentiert. Vorher – auf dem Weg zum Gericht – ein Frisörsalon mit einem Fensterschild: Montag’s Offen. So übt man Entstellung ein.

Kurzsichtig

Auf dem Gang: Ein Mann mit lederner Aktentasche. Später wird sich herausstellen, dass er der gerichtsmedizinische Gutachter ist. Noch ist er nur ein Mann auf dem Gang, der am Mobilelefon fragt: „Wie sieht mein Schreibtisch aus?“ Im Gerichtssaal setzt er sich an den hinteren der beiden Zeugentische. Das Gericht tritt ein. Vorsitzender: „Kommen Sie doch weiter nach vorne. Ich bin kurzsichtig.“
Jetzt werden 60 Minuten lang Stichverletzungen besichtigt. 15 allein trafen die Brust des Opfers – manche mit solcher Wucht ausgeführt, dass sich das Heft des Messer in der Haut des Opfers abbildete. Beide Lungen durchstochen. Kollabiert. Das Herz: Angestochen. Die Rippen: Angeschartet. Die Wirbelsäule: Angeschartet. Das Brustbein: Angeschartet. Ein Leberdurchstich. Vier Stichwunden im Rücken. Eine im Gesäß. Dazu: Abwehrverletzungen. „Ein Opfer, das sich wehrt, greift auch schon mal in die Klinge.“ Todesursache: Verbluten nach innen und außen. Kollaps beider Lungen. Die Stichverletzungen: Tief, mit großer Wucht ausgeführt. Das Personal versammelt sich am Richtertisch. Fotografische Dokumentation eines Todes.
Wie kann es, dass Täter kein Ende finden – dass sie 44 Mal zustechen? Wie brechen alle Dämme? Wie gerät man in diesen Rausch? In diese Abwesenheit jeder Kontrolle? [„Ich ficke eure Ehre. Ich ficke eure Mutter.“] 15 Stichwunden im linken Oberarm. Kaum Totenflecke. [„Das ist auf den hohen Blutverlust zurückzuführen.“] Die Verletzungen: Nummeriert. Allesamt sehr auf die linke Körperhälfte konzentriert. Die Bauchhöhle: Zweimal eröffnet. Am Ende sagt der Vorsitzende: „Jetzt noch mal ganz was anderes.“ Es geht wieder um die drei Tabletten Ibuprofen 600. Welche Auswirkungen auf den Zustand des Angeklagten sind denkbar? Der Gutachter sagt, dass es bei der Einnahme zu Unverträglichkeiten im Magen- Darmtrakt kommen kann. Schwindel und Depression? Selten. Der Vorsitzende verliest die Ergebnisse eines Screenings. „Das sind ja alles echte Zungenbrecher“, sagt er, nachdem er sich durch die Fremdwortkolonnen gearbeitet hat.

Psychose

Dann: Der Bewährungshelfer des Opfers, das ja zuvor einmal Täter gewesen ist. Vier Jahre voll verbüßt. Zweidrittel hat es nicht gegeben. (Ein Täter kann nach zwei Dritteln seiner Haftzeit entlassen werden, wenn die Sozialprognose gut und das Verhalten in Haft gut ist.) Das Opfer: Ohne Zweidrittel. Das liegt daran, dass während der Haftzeit eine psychatrische Untersuchung ergab: Das Opfer litt unter einer Psychose. Immer wieder spricht die Verteidigung von einer Schizophrenie. In Wirklichkeit wird die Psychose nie näher beschrieben.

Verbindlich, engagiert

Der Bewährungshelfer spricht von einem „engagierten“ Mandanten, der zu den ersten Gesprächen immer in Begleitung seiner Frau erschien. Der Mandant: Verbindlich. Die Frau: Engagiert. Ein halbes Jahr vor der Tat hat der Mandant seine Medikamente abgesetzt. Der Bewährungshelfer: Eher unglücklich über die Tatsache, dass sein Mandant sich vom Hausarzt und nicht von einem ausgewiesenen Spezialisten behandeln ließ. Nur einmal hat zwischen Bewährungshelfer und Mandant ein rückblickendes Gespräch stattgefunden. B. unglücklich über die Tatsache, dass er kaum Kontakt zu seinen Kindern hatte und auch der Kontakt zur Ex-Frau längst abgebrochen war. Trotzdem hat der Bewährungshelfer seinen Mandanten als gelassen erlebt. Einer, der mit der Vergangenheit abgeschlossen hatte. Von Kontakten zur Familie der Täter hat er nie berichtet. Gab es Konflikte? Nein. „Er war gelassen. Er war mit der Gegenwart befasst.“ Circa ein halbes Jahr vor der Tat stand eine Trennung seines Mandanten von dessen Frau im Raum. Da der Mandant die Medikamente abgesetzt hatte, wurde er „nervig“. Chancen auf dem Arbeitsmarkt hatte B. kaum. „Als Langzeitarbeitsloser hat man ja auch Schwierigkeiten mit dem Tagesrhythmus.“ Seinen Wohnsitz habe der Mandant nicht verlegen wollen. Kleve sei sein Lebensmittelpunkt. Hier wolle er bleiben. Damals, nach der abgesessenen Haftstrafe, sei er nach Kleve gegangen, weil seine Frau dort wohnte. Jetzt, ein halbes Jahr vor der Tat, stand im Raum, dass B. sich eine Wohnung nehmen wollte. Der Bewährungshelfer sieht keinerlei Anhaltspunkte für einen offenen Konflikt. „Aber es kann natürlich auch sein, dass Herr B. nicht alles mit Ihnen besprochen hat“, sagt der Vorsitzende. „Ja“, sagt der Bewährungshelfer.

Vergiftung

B. habe nicht nachvollziehen können, dass er vier Jahre haben „sitzen“ müssen. Er habe den O. nicht umbringen wollen. [Vielleicht also doch kein Abschließen mit dem Vergangenen?] Im Gefängnis habe B. das Essen verweigert. Er habe vor Vergiftung gehabt.

Nervig

Er sei ins Vollzugskrankenhaus eingewiesen und mit einer Psychose diagnostiziert worden. Zweimal hat der Bewährunghelfer seinen Mandanten aufgeregt erlebt. Beide Mal sei es um Politisches gegangen. „Er war aber nicht psychotisch“, sagt der Bewährungshilfer und spricht psychotisch mit einem doppelten ‚t‘: Psychottisch. Die Sprabücher der beiden Töchter: Auch ein Thema, das die Gelassenheit raubte. Warum stand eine Trenunng des B. von seiner Frau im Raum? „Der wurde, nachdem er die Medikamente abgesetzt hatte, nervig“, sagt der Bewährungshelfer, erklärt das Nervige aber nicht näher. Der Bewährungshelfer kann sich nicht daran erinnert, den Eindruck gehabt zu haben, B. habe unter Verfolgungswahn gelitten. Trotzdem habe er sich gewünscht, B. möge sich von einem Facharzt behandeln lassen. „Ein Hausarzt ist mit so etwas doch überfordert, denke ich.“

Vergessen als Schutz

Es folgt die Zeugin aus dem Supermarkt. Sie ist eine der Kassiererin. Sie wohnt am Rande eines Traumas. Sie bewegt sich schwer und langsam. Die Zeugenbetreuerin hält ihre Hand. Der Vorsitzende beginnt die Befragung. Die Seele schützt Verletzungen, in dem sie Vergessen ausbreitet. Die Zeugin kann sich an Vieles nicht mehr erinnern. Der Vorsitzende sucht mit ihr zusammen einen Weg zurück in den Tattag. „Ich kann verstehen, dass man sich daran nicht erinnern will.“

Nicht im Ernst

Während der Vorsitzende mithilfe des Verlesens der Aussage der Zeugin vom Tattag die Vergangenheit zu rekonstruieren versucht, wird der Bruder des Opfers von einem Weinkrampf befallen. Der Nebenklagevertreter fragt nach einer Unterbrechung. „Sie glauben doch nicht im Ernst, dass wir hier unterbrechen“, sagt der Vorsitzende. Nebenklagevertreter und Bruder verlassen den Raum. Später erklärt der Vorsitzende dem Nebenklagevertreter: „Sie haben gemerkt, dass wir da nicht unterbrechen können. Das wäre nicht gegangen. Wir wollten ja auch, dass die Zeugin es endlich hinter sich bringen kann. Ich denke, Sie verstehen, dass wir das nicht unterbrechen konnten.“ Vorher hat der Vorsitzende die Zeugin gefragt, ob sie psychologische Hilfe in Anspruch genommen hat. Sie verneint. „Sie müssen mir versprechen, dass Sie das tun. Das tut ja nicht weh und wird Ihnen auf jeden Fall helfen.“ Wieder zeigt sich, dass diese Tat nur Opfer hinterlässt. Die Vernehmung führt zu keinen neuen Erkenntnissen. Die Zeugin zwingt sich in die Tat zurück. Leidet. Noch einmal taucht ein Bild des Opfers auf: Auf dem Rücken liegend hat er versucht, sich von den Tätern wegzubewegen. Einer der Täter an der Fußseite des Opfers – der andere an der Kopfseite.
Vorsitzender: „Wir haben jetzt alle eine Pause verdient. Außerdem hat es Klagen gegeben, dass die Angeklagten beim letzten Mal keine Zeit zum Mittagessen hatten.“ Die Verteidigung wünscht sich zur Vorbereitung der Einlassungen eine Stunde. Der Vorsitzende gibt 90 Minuten.

Reue, Bedauern

Nach der Pause: Zwei Kripobeamte. Sie beschreiben ruhige Täter, die nicht unter Einfluss von Drogen, Medikamenten oder Alkohol zu stehen schienen. Hat es am Tattage Kontakte zwischen Tätern und Opfer gegeben? Es lässt sich nichts nachweisen. „Nach unserem Kenntnisstand hat es weder Kontakte noch Bedrohungen gegeben.“
Dann die Einlassungen. Sie sprechen von Reue, von Bedauern, von einem zufälligen Zusammentreffen der Tärer mit dem Opfer. Sie sprechen davon, dass beide Täter zugestochen haben. Sie erzählen von einem Leben vor der Tat des Opfers: Verankert in einer deutschen Gesellschaft mit vielen deutschen Freunden. Der Anwalt des jüngeren Bruders holt weit aus. Der Text: Irgendwie nicht durchdringend. Man wünscht sich sprechende Angeklagte. Das tut auch der Richter nach den Einlassungen. Er fragt nochmals, ob sich die Angeklagten den Fragen stellen wollen? Sie verneinen. Beim Verlesen der Einlassungen weint der Ältere. Der Jüngere wird sich der Strafe stellen. Er wird sie akzeptieren. Er will sich entschuldigen.
Die Verteidiger, empfindet man, erweisen ihren Mandanten einen Bärendienst. Sollen sie doch sprechen: Über die Angst vor dem Opfer und darüber, dass ein normales Leben lange schon nicht mehr möglich zu sein schien, weil die Angst auch ins Normale regierte. Diese verordnete Schweigen wirkt fast schon wie eine unterlassene Hilfeleistung.
Die Verteidigung stellt letzte Beweisanträge. Zwei Bänker sollen vernommen werden. Ein Zeuge, der aussagen kann, dass der ältere der beiden Brüder nicht zu einem Kindergeburtstag erschienen ist, als er erfuhr, dass „der Herr B.“ auch da sein würde. Konfliktvermeidung sagt die Verteidigung. Unwichtig sagen Staatsanwalt und Nebenklage.
Die Kammer wird über die Anträge beraten und mitteilen, ob am nächsten Verhandlungstag noch Zeugen gehört gehört oder die Plädoyers gehalten werden sollen. „Bereiten Sie sich aufs Plädieren vor“, sagt der Richter, der gleichzeitig ausschließt, dass Plädoyers und Urteilsverkündung am selben Tag stattfinden werden.

Stochern im Nebel der Motive

Zwei Männer töten mit mehr als 40 Messerstichen und vor fast eben so vielen Zeugen einen dritten Mann. Es ist helllichter Tag. Die Tat ereignet sich in einem Supermarkt in Kleve.
Das ist der Ausgangspunkt eines Prozesses, für den das Gericht fünf Verhandlungstage angesetzt hatte. Am vergangenen Dienstag endete der 7. Verhandlungstag. Vier weitere werden folgen. Der Prozess vor dem Klever Landgericht lotet Grenzen aus – es sind die Grenzen einer Tat, es sind – für Täter- und Opferfamilien – Schmerzgrenzen, Grenzen des Verstehens im sprachlichen, emotionalen und intellektuellen Terrain. Ein Gericht ist auf der Suche nach Gründen. Anfangs sah alles so einfach aus. Die Anklageschrift sprach von Ehrenmord, vom Versuch der Täter, eine Familienehre wiederherzustellen und klagt Mord aus niederen Beweggründen an. Schubladendenken erspart differenziertes Herangehen. Täter und Opfer: Kurden jesidischen Glaubens. Schnell entwickeln sich archaische Vorstellungen. Eine einfache Sache. Aber die Wirklichkeit spielt nach anderen Regeln.
Von Beginn an sucht das Gericht nach Gründen. Längst ist der Ehrenmord „vom Tisch“. Aber was trieb die beiden Brüder in ihre Tat? Immer wieder kreist die Verhandlung um diese alles entscheidende Frage, denn am Ende wird es darum gehen, ob zwei Menschen aus niederen Beweggründen (auch eine Tat ohne Motiv kann so bewertet werden) einem Menschen sein Leben genommen haben, ob sie im Affekt handelten oder womöglich in ihrer Steuerungsfähigkeit eingeschränkt waren, oder ob Angst sie ins Töten trieb. Am Ende geht es um eine Demarkationslinie, die zwischen den Begriffen Mord und Totschlag eingerichtet ist.
Der 7. Tag begann mit einem psychologischen Gutachten. Beide Brüder hatten am 6. Verhandlungstag der Erstellung eines Gutachtens zugestimmt. Eigentlich ist es nicht ein Gutachten – es geht um zwei Gutachten. Jack Kreutz, Fachbereichsleiter der Forensik in Bedburg-Hau begann mit dem älteren der beiden Brüder und kam zu dem Schluss, dass bei der Tat eine eingeschränkte Steuerungsfähigkeit aller Wahrscheinlichkeit nach nicht vorgelegen habe. Auch sei eine Tat im Affekt nahezu auszuschließen. Nichtsdestoweniger läge, so Kreutz, beim Angeklagten eine „mäßige posttraumatische Belastungsstörung“ (PBS) vor. PBS sei allerdings, so Kreutz, mittlerweile „eine arg strapazierte“ Diagnose. Jahre vor der Tat hatte das jetzige Opfer einen Bruder der beiden Täter angegriffen, schwer verletzt und war deswegen zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt worden. Immer wieder habe der ältere der beiden Brüder von dieser Tat gesprochen und vom Bild seines blutenden Bruders. Vieles auf der Suche nach einem Motiv sei – darin stimmten Gericht und Gutachter überein – ein „Stochern“ im Nebel. War das Zusammentreffen von Tätern und Opfer „zufällig“, „spontan“, oder fand ein geplantes Aufeinandertreffen statt? Ist das Motiv für die Tat in der Angst der Täter vor ihrem Opfer zu sehen? Lassen sich die vom älteren Bruder beschriebenen Gedächtnislücken (Kreutz sprach von „Erinnerungsinseln“) in der einschlägigen Literatur wiederfinden? „Schönt“ das individuelle Erinnern eine Tat zum eigenen Nutzen? Dass gerade ein „Nicht-Erinnern“ die Seele vor permanenter Verletzung schützen soll und also Teil der „menschlichen Programmierung“ ist (eine Art von seelischem Sicherungskasten) lässt sich nachweisen. Es gibt Muster. Es gibt Beispiele. Aber passt, was der ältere der beiden Brüder aussagt, in eines dieser Muster? Kreutz: „Ein derart inselhaftes Fehlen von Erinnerung ist zumindest ungewöhnlich.“
Vorsitzender: „Ich stelle hier ein Auseinanderfallen von Erinnerung und Einlassung fest.“ Immer wieder fiel auch der Begriff der „seelischen Zermürbung“ durch einen lang andauernden Konflikt. Eine Tat im Affekt oder im Zustand eingeschränkter Steuerungsfähigkeit, komme, so Kreutz, nach dem von ihm zugrunde gelegten Hypothesen eher nicht in Frage.
Während des Gutachtens griff der Bruder des Opfers mehrfach kommentierend in das Geschehen ein, was den Vorsitzenden (es gab bereits während der vorangegangenen Tage Vorfälle ähnlicher Art) zu einer strengen Ermahnung veranlasste. „Vor Gericht gelten Regeln, und das sind ganz sicher nicht Ihre Regeln.“

Die Spur des Schmerzes

Wer sich auf die Spur des Schmerzes begibt, wird fast in jedem Gerichtssaal fündig. Alles Töten hinterlässt Opfer auf vielen Seiten. Dem Gericht ist es auferlegt, eine Tat so ausführlich und detailliert wie möglich auszuloten und sich bei der Analyse der Motivlage allergrößte Mühe zu geben. Da ist die Verteidigung, die erklären möchte, dass es sich keinesfalls um eine geplante Tötung gehandelt hat – da ist die Staatsanwaltschaft, in deren Augen es sich um einen Mord aus niederen Beweggründen handelt, und da sind die Vertreter der Nebenklage, die nicht ohne Grund im Gerichtssaal gleich neben dem Staatsanwalt sitzen.

Befangen?

Als am 7. Verhandlungstag nach dem ersten Gutachten der Vorsitzende Richter davon sprach, „dass in direkter zeitlicher Umgebung der Tat objektiv nichts dafür spricht, dass vom Opfer eine unmittelbare Bedrohung oder Gefahr ausging“, bat die Verteidigung um eine Unterbrechung, um einen Befangenheitsantrag gegen den Vorsitzenden einzubringen. Der Vorsitzende, so die Verteidigung, ignoriere den bisherigen Verlauf der Beweisaufnahme. Das lege den Schluss nahe, dass hier bereits eine Festlegung stattgefunden habe.
Nach einer mehr als einstündigen Unterbrechung wurde die Entscheidung über den Antrag auf den nächsten Verhandlungstag (5. Dezember) verlegt. Weder Staatsanwaltschaft noch Verteidigung gehen davon aus, dass dem Antrag stattgegeben wird, aber, so einer der Verteidiger, wir sahen uns durch die Äußerung des Vorsitzenden veranlasst, diesen Antrag zu stellen. Am 5. Dezember wird der Prozess mit weiteren Zeugenaussagen und dem zweiten Teil des psychologischen Gutachtens fortgesetzt. Zumindest deuten die Anzahl von Verhandlungsterminen eher in eine Richtung, die vermuten lässt: Das Gericht hat sich keineswegs festgelegt, sondern ist bemüht und gewillt, die Suche nach möglichen Motiven fortzusetzen.

Überraschungen

Der 7. Tag bringt Überraschungen. Mancher hatte erwartet: Gutachten, Plädoyers – Feierabend. Ein weiterer Tag für Urteil und Begründung. Stattdessen: Vier neue Termine, die reichlich Gelegenheit zur Spekulation eröffnen. Zwei Zeugen, die vorher als nicht relevant eingestuft wurden, werden aussagen. Einer von ihnen wird von einem Gespräch erzählen, das er am Tatabend mit der Frau des älteren der beiden Angeklagten führte. Die Frau hat von ihrem Recht Gebrauch gemacht, nicht aussagen zu müssen. In diesem Fall allerdings dürfte auch die indirekte Erwähnung des von ihr Gesagten nicht stattfinden. Was also ist passiert? Ändert die Verteidigung ihre Marschrichtung? Werden gar die Angeklagten selber aussagen? Was soll denn sonst passieren während der vier angesetzten Termine. Das Gericht sucht weiter nach Motiven. Längst ist Berichterstattung zu etwas ans Unmögliche Grenzende geworden. Wie soll man bericht von diesem Prozess? Selbst für die, die alles verfolgt haben, ist längst nicht mehr alles nachvollziehbar, geschweige denn transportabel. Man kann nicht jeden Artikel mit „was bisher geschah“ beginnen. Klinkt man sich ins Momentane, raubt man dem Erstleser jede Einstiegschance.

Oratorium in Schriftform

Ein neuer Staatsanwalt. Stimmt: Der Staatsanwalt der ersten sechs Verhandlungstage ist im Urlaub. Die Terminierung im Aushang vor dem Saal macht deutlich: Er wird zum Schluss des Prozesses wieder an Bord sein – vielleicht ja schon beim nächsten Termin.
Prozessberichterstattung ist eine Art Oratorium in Schriftform. Es gibt Rezitative, Chöre, Arien. Im Rezitativ finden Befragungen statt. Handlung wird vorangetrieben. Die Arien: Nachdenken über die Hintergründe. Beobachtungen. Der Prozess im eigenen Kopf. Die Chöre: Gespräche auf dem Gang, Gespräche im Gerichtssaal, das Publikum. Prozessberichterstattung bedeutet, immerneue Blick auf Variationen eines Themas zu werfen. Letztlich ist der Prozess ein Thema mit Variationen. Alles ändert sich. Auch die eigene Position. Als Konstante bleibt am Ende die Tat. Es bleiben Fakten. Erinnerungen sind keine Fakten. Erinnerungen reinigen sich manchmal ganz automatisch.
Manche Prozesse taugen als Lehrstück, die eigene Unfähigkeit der richtigen Einschätzung zu erleben.

Zwei Berichterstatter. Der eine notiert, dass der Richter gesagt hat, es gebe keine objektiven Fakten, die dafür spechen, dass das Opfer eine Bedrohung dargestellt habe. Es sei von ihm keine unmittelbare Gefahr ausgegangen. Der andere hat, zwei Halbsätze später noch ein „in unmittelbarer zeitlicher Umgebung zur Tat“ gehört. Der erklärende Halbsatz ändert die Farbe der Aussage. Ohne den Halbsatz ergibt sich ein anderer Zusammenhang – einer, in dem man der Verteidigung unterlassene Hilfeleistung vorwerfen müsste, wenn sie den Antrag auf Befangenheit nicht stellt.
Vor Gericht zählt nur, was gesagt wird. Daraus folgt, dass vor Gericht auch zählen kann, was nicht gesagt wird.

Was nicht gesagt wird

Ein Gespräch während der Pause. Eine Dame – sie ist wohl eine Nachbarin der Eltern der Täter – sagt, dass sie sich keine besseren Nachbarn vorstellen kann. Die Worte bleiben auf dem Gang. Sie werden wohl nie in den Gerichtssaal finden. Vor Gericht zählt auch, was nicht gesagt wird. Es verändert Standpunkte im Kopf derer, die es denken … die es hören. Das Nicht-Gesagte ist das nicht Offizielle – es sind die Beobachtungen am Rande: Sie sind ein Teil des Arioso. Variationen eines nicht vorhandenen Themas.

Zehn Tage später

Die lange Unterbrechung zersetzt das Bild des Prozesses im eigenen Kopf. Man müsste von vorn beginnen: Mit dem Denken, der Analyse, dem Hinterfragen, Hinterfühlen, Erinnern. Längst ist, was da geschah, zu einem Kaleidoskop geworden, das bei jeder Drehung andere Sichtbruchstücke freilässt. Während man selbst längst wieder im eigenen Leben angekommen ist, geht es für die Angeklagten noch immer um den Rest ihres Lebens. Es geht auf Weihnachten. Die beiden Brüder werden das Fest in ihren Zellen verbringen. Weihnachtseinsamkeit ist eine der schlimmsten Erfahrungen, die sich im Knast machen lassen.

Im eigenen Kopf ist der Prozess längst zu einer Tapete verkommen. Käme man am nächsten Tag und würde gleich mit einem Urteil konfrontiert – es würde sich kaum etwas fremd anfühlen. Das Urteil ist ein Ziel am Ende eines Weges. Irgendwann wird es egal, wie lang der Weg ist. Alle sind schon viel zu lange unterwegs. Alle – bis auf die Angeklagten, ihre Familie und die Familie des Opfers – sind längst ins Normale zurückverreist und vielleicht auch zurückvereist. Die Ahnungslosigkeit des Anfangs ist zu einer Entfremdung vor dem Ende geworden. Man läuft Gefahr, selbst in den Treibsand zu geraten.

Urteil wird am Freitag verkündet

Der Prozess vor dem Klever Landgericht, bei dem es um den Tod eines Mannes geht, der von zwei Brüdern in einer Materborner Lidl-Filiale mit mehr als 40 Messerstichen getötet wurde, wird am kommenden Freitag mit der Urteilsverkündung zu Ende gehen.
Während die Verteidigung die Tat als Totschlag sieht, ließ der Staatsanwalt in seinem Plädoyer am achten Verhandlungstag keinen Zweifel: Eine Tat aus Rache. Mord also. Auch der Begriff „Hinrichtung“ fiel. Der Staatsanwalt fordert demgemäß für beide Täter eine lebenslange Freiheitsstrafe, verzichtet allerdings darauf, die besondere Schwere der Schuld festzustellen.
Vor dem Plädoyer hatte der psychiatrisce Gutachterauch für den jüngeren der beiden Angeklagten festgestellt, dass er die Tat nicht als eine im Affekttat sieht. Die Steuerungsfähigkeit der Täter: nicht eingeschränkt.
Vorher hatte das Gericht die Aussage eines Polizeibeamten gehört, der am Tattag mit der Frau des älteren der beiden angeklagten Brüder gesprochen hatte. Es habe sich um ein Gespräch und nicht etwa um eine Vernehmung gehandelt, so der Beamte. „Die Frau hat aus ihrem Leben erzählt. Ich habe bewusst keinerlei Fragen gestellt.“ Die Frau habe in den Trümmern ihres Lebens gestanden. Sie habe glaubhaft eine Familie geschildert, die jahrelang in Angst [vor dem späteren Opfer] gelebt habe.
Der Vater der beiden Angeklagten habe seinen Söhnen sinngemäß gesagt, man solle sich an diesem Mann die Finger nicht schmutzig machen. Der Zeuge, der im Opferschutz der Kreispolizeibehörde tätig ist und in diesem Zusammenhang unzählige Todesnachrichten überbracht hat, sprach mehrmals vom Gefühl, das er hatte, als er der Frau zuhörte.
„Es gibt Situationen, in denen Menschen absolut authentisch sind. Die Frau, die ich erlebt habe, war in einer solchen Situation. Das, was sie sagte, war stimmig.“ Es habe ihn auch berührt, dass die Frau mehrmals von dem Opfer gesprochen habe, das als ständige Bedrohung empfunden worden sei. „Trotzdem hat sie nicht schlecht oder abfällig über den Mann gesprochen.“
Hätte die Aussage der Frau im Rahmen einer Vernehmung stattgefunden, wären alle Ergebnisse vor Gericht nicht verwendbar gewesen, da die Frau von ihrem Recht auf Zeugnisverweigerung Gebrauch gemacht hatte.
Im Anschluss an die Aussage zeigte das Gericht ein Tatort-Video der Polizei. Zu sehen: Ein Supermarkt, in dem alles Leben angehalten zu sein schien. Halbvolle Einkaufswagen, ein am Boden liegender Bürostuhl, auf dem Boden verstreute Gegenstände, Blutflecken und schließlich der von einer Plane zugedeckte Körper des Opfers, dessen Arm unter der Plane hervorlugte. Das Video ließ das während der ersten Verhandlungstage durch Zeugenaussagen entstandene Bild der Tat noch einmal aufleuchten.

Positionen

Wie man eine Tat bewertet, hängt, das wird vor Gericht immer wieder deutlich, von der Position ab, mit der man die Fakten anschaut. Spricht die Verteidigung davon, dass niemand, der einen Mord plant, sich dafür den Kassenbereich eines Supermarktes aussuchen würde, wertet die Staatsanwaltschaft den identischen Umstand als Untermauerung der These von der brutalen Hinrichtung aus Rache, an deren Ende einer der beiden Täter in den Supermarkt gerufen haben soll „Er hat es verdient“.
Der Vorsitzende Richter erklärte vor dem vorläufigen Ende der Beweisaufnahme, dass eine Verurteilung wegen Totschlags auch im Bericht des Möglichen liege. Die Verteidigung hatte gegen 14 Uhr am achten Verhandlungstag erklärt, eventuell noch weitere Beweisanträge zu stellen. „Wir werden allerdings zwei bis zweieinhalb Stunden dafür brauchen.“ Daraufhin einigten sich die Prozessbeteiligten darauf, die Beweisaufnahme zunächst zu beenden und Staatsanwalt und Nebenklagevertretung plädieren zu lassen, um am neunten Verhandlungstag gegebenenfalls wieder in die Beweisaufnahme einzusteigen.

Nebenklage

Das zweite Plädoyer des achten Tages wurde vom Nebenklagevertreter gehalten. Auch er sieht die Tat als geplanten Mord aus niederen Motiven und sprach davon, dass die Angeklagten ihr im Eingangsbereich des Supermarktes bereits erstmals angegriffenes Opfer dann wie ein verletztes Tier gejagt hätten. Die Vertreterin der Nebenklage interpretierte die in der Hauptverhandlung zusammengetragenen Aussagen und Gutachten dahingehend, dass es sich um einen geplanten Mord gehandelt hat. „Vieles spricht schlicht für Rache.“ Das Opfer der Tat habe keinerlei Chance gehabt, der Situation zu entkommen. Das zeige die Heimtücke. Die Angeklagten seien wegen Mordes zu verurteilen.

Verteidigung

Es folgten die Plädoyers der drei Verteidiger. Die Verteidigung sieht die Tat als einen minderschweren Fall von Totschlag. Immer wieder wurden die Trennlinien zwischen Mord (vor allem aus niederen Motiven) und Totschlag besichtigt. Jeder Prozess habe eine „eigene Färbung im ermittlerischen Vorfeld“. Sei die Anklage einmal formuliert – könne diese Färbung anschließend nur schwer relativiert werden.
Die Tatsache, dass die Staatsanwaltschaft einen Gutachter bestellt habe, der über die Begrifflichkeit des Ehrenmordes Aufschluss gegeben habe, würde nur dann einen Sinn ergeben, wenn man dann die Anklage auf das im Vorfeld bekannte Gutachten abstelle. Der Gutachter habe festgestellt, dass es keine konkreten Kriterien für das Vorliegen eines Ehrenmordes gegeben habe. In der Anklage dann gleichwohl von einem Ehrenmord zu sprechen, habe für ihnen keinen Sinn ergeben. Die Verteidigung nahm zu den Äußerungen des Staatsanwaltes und der Nebenklageverteter punktgenau Stellung. Wichtig war ihm immer wieder, die „diffuse Bedrohunglage“ zu schildern, in der sich die Familie der Täter befand.

Hatte die Nebenklagevertreterin festgestellt, es passe nicht zusammen, dass der jüngere der beiden Brüder von einer Bedrohung und Angst gesprochen hat und andererseits in Discos gegangen sei, sah die Verteidigung eher die „Vermeidungsstrategien“ der Täter, die abends teils auf Umwegen nachhause gegangen seien. Dass der Staatsanwalt den angeblich von den Tätern am Tatort geäußerten Satz „Er hat es verdient“  quasi als Tatsache hingestellt habe, sei nicht nachvollziehbar, denn von allen gehörten Zeugen, sei eben dieser Satz nur einmal geäußert worden.

Angeschlagen

Während des Plädoyers wurde deutlich, dass der ältere der beiden Täter „in einem schwer angeschlagenen seelischen Zustand“ war. Vorsitzender: „Ich unterbreche normalerweise kein Plädoyer, aber es ist mir wichtig, dass Sie sich um den Mandanten kümmern, dem es nicht gut zu gehen scheint.“
Nach einer kurzen Unterbrechung führte die Verteidigung ihr erstes Plädoyer zu Ende. „Nach unserer Ansicht ist das hier ein Fall von minder schwerem Totschlag.“ Alle drei Verteidiger plädierten für ein Strafmaß von sieben Jahren. Nach dem Ende des letzten Plädoyers gab der Vorsitzende den Angeklagten die Gelegenheit, sich zu äußern. Beide Brüder machten von dieser Möglichkeit Gebrauch. Der ältere schwor „bei allem, was mir heilig ist“, dass er und sein Bruder die Tat nicht geplant hätten. „Wir hatten nicht vor, den B. zu töten und ich entschuldige mich auch bei der Familie.“ Auch der jüngere der beiden Brüder entschuldigte sich bei der Familie des Opfers. „Ich bereue die Tat zutiefst.“ Am kommenden Freitag um 13 Uhr will die Kammer ihr Urteil verkünden.

Ein Urteil zeigt Endlichkeiten

Jeder Prozess ist Knochenarbeit im Steinbruch der Gerechtigkeit und wenn am Ende die Plastik des Geschehenen als Urteil gemeißelt dasteht, spitzt sich alles in einer Zahl – einem Wort zu.
Das Strafmaß für „Mord“ ist nicht verhandelbar. Es lautet Lebenslänglich. Wird die Tür zum Totschlag geöffnet, entsteht ein Strafmaß, das Endlichkeiten zur Verfügung stellt. Bei einem minder schweren Fall von Totschlag reicht der Strafrahmen von einem bis zu zehn Jahren. Die Verteidiger der beiden angeklagten Brüder hatten für eine Strafe von sieben Jahren plädiert. Liegt ein Totschlag vor, beträgt der Strafrahmen fünf bis 15 Jahre.

Nebel

Sowohl Staatsanwaltschaft als auch die Vertreter der Nebenklage sahen in der Tat einen geplanten (Rache)Mord mit Merkmalen einer Hinrichtung. Die Verteidigung sah zu keiner Zeit eine geplante Tat. Zwischen der Familie der Täter und der des Opfers hatte es jahrelange Spannungen gegeben. Das Opfer, das mit einer Schwester der Täter verheiratet war, hatte Jahre zuvor einen Bruder der beiden Täter angegriffen, schwer verletzt und war für diese Tat zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt worden. Seitdem hätte die Familie der Täter in ständiger Angst gelebt. Bis zur Urteilsverkündung hatte die Kammer versucht, die Motivlage zu ergründen. „Wir stochern, was die Motive angeht, im Nebel“, hatte der Vorsitzende Richter an einem der Verhandlungstage gesagt.
Am Freitag verkündete die Kammer dann das Urteil: Die beiden Brüder wurden wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren verurteilt. In der Begründung des Urteils legte der Vorsitzende die Sicht der Kammer dar.

Nicht langfristig geplant

Die Tat sei nicht von langer Hand geplant gewesen, allerdings sehe es das Gericht als erwiesen an, dass die beiden Täter irgendwann am 31. März den Entschluss gefasst hätten, ihr Oper zu töten. Die Anwälte der Brüder hatten gesagt, es sei ihren Mandanten lediglich darum gegangen, das Opfer zur Rede zu stellen. Im Verlauf des Geschehens hätten die beiden Brüder dann gewissermaßen die Kontrolle verloren. „Wir glauben nicht, dass die beiden nur reden wollten“, so der Vorsitzende. Dass die Angeklagten nach einem Arztbesuch auf der Emmericher Straße zum Einkaufen nach Materborn gefahren seien, lasse sich zwar nicht erklären, aber die Abwesenheit eines Erklärungsmodells könne nicht gegen die Angeklagten eingesetzt werden. Die Tatsache, dass der Einkauf des Opfers im Lidl-Markt eher zufällig gewesen sei, zeige, dass die Tat nicht langfristig habe geplant werden können. „Das Opfer ist zufällig zum Einkaufen gegangen und die Angeklagten sind ihm zufällig begegnet.“ Irgendwann nach diesem zufälligen Treffen hätten die Angeklagten dann allerdings den Entschluss gefasst, das Opfer umzubringen. Als Motiv sah die Kammer den „fortlaufend schwelenden Konflikt“ der beiden Familien. Die Täter hätten aus einer tief empfundenen Angst vor Übergriffen des späteren Opfers ihre gesamten Lebensumstände geändert. Zweimal war von einer „lebensbestimmenden Angst“ die Rede. Die Angeklagten hätten ihr Leben „entsprechend dieser Ängste“ eingerichtet.
Am drittletzten Verhandlungstag hatte ein Opferschützer der Polizei ausgesagt, dass die Frau des älteren der beiden Brüder von dieser Angst erzählt hat. „Dieser Aussage kann man Glauben schenken, denn zum Zeitpunkt des Erzählens war der Ehemann bereits in Haft – eine Absprache war nicht möglich.“

Keine niedrigen Beweggründe

Die Kammer verneinte das Vorhandensein niedriger Beweggründe. Allein die schweren Kränkungen seitens des späteren Opfers seien Grund genug, niedrige Beweggründe auszuschließen. Trotz allem trage die Tat Züge von Selbstjustiz. Auf Seiten der Täter habe es, so Knickrehm, eine erhebliche subjektiv empfundene Angst gegeben und die Tat sei als eine Art Befreiung von dieser Angst zu sehen. Es handele sich keinesfalls um einen minder schweren Fall von Totschlag. Trotzdem bleibt nach der Begründung eine Frage offen, nämlich die nach Überzeugung des Gerichts, die Angeklagten hätten irgendwann zwischen der zufälligen Begegnung mit dem Opfer und der eigentlichen Tat den Entschluss getroffen, das Opfer zu töten.

Ein Urteil – ein Zeichen

Ob eine der beteiligten Parteien in Revision gehen wird, stand am Freitag noch nicht fest. Ein Verteidiger: „Für uns war es zunächst einmal wichtig, dass es keine Verurteilung wegen Mordes gegeben hat.“ Man kann das Wort vom Licht am Ende des Tunnels ins Spiel bringen. Das Urteil setzt ein Zeichen. Es setzt die Angeklagten nicht einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe aus, aber es verweist in Schranken und lässt keinen Spielraum.
Dass die Kammer die Tat nicht als minder schweren Fall von Totschlag gewertet hat, ist nachvollziehbar. Gut ist auch, dass es keine Verurteilung wegen Mordes gegeben hat. Mit dem Urteil hat die Kammer nicht sämtliche Türen für die beiden Brüder geschlossen. Das Urteil erscheint weise, denn es steuert einen Mittelweg an, der allerdings für Angehörige beider Seiten eine Belastung ist. Das Urteil legt Zeugnis ab für eine wache Justiz, die bemüht ist, Grenzlinien zu ziehen und zu strafen und ohne zu zerstören.

Dramtische Szenen

Nachdem die Kammer den Gerichtssaal verlassen hatte, spielten sich im Saal dramatische Szenen ab. Eine Frau im Zuschauerraum erlitt einen Weinkrampf, der Bruder des Opfers hatte Mühe, seine Enttäuschung nicht in Aggression umschlagen zu lassen. Es bleibt zu hoffen, dass beide Familien und vor allem die Täter einen Weg finden, sich dem Urteil zu nähern. Niemand kann sich wünschen, dass die Gräben zwischen den Familien weiterhin Schützengräben bleiben. Zu hoffen ist auch, dass in nächster Zeit die Bedingungen im großen Saal des Landgerichts verbessert werden. Die akustischen Verhältnisse (jeder Ratssaal ist heutzutage mit Mikrofonanlagen ausgestattet) im Gerichtssaal sind streckenweise unzumutbar und machen Berichterstattung zu einer unnötigen Schinderei.

Revision

Eine Woche nach der Urteilsverkündung beantragt die Nebenklage die Revision. Sollte die Revision Erfolg haben, wird eine andere Kammer des Klever Landgerichts den Fall komplett neu verhandeln. Dabei besteht auch die Möglichkeit, dass eine andere Kammer (es wird laut Geschäftsverteilungsplan des Landgerichts Kleve die VII Strafkammer sein) am Ende zu einem „Lebenslänglich“ kommt. Alles ist möglich.

 

Recall

Fehlbarkteiten

Wer über das Recht spricht, muss über die Fehlbarkeit sprechen – wer Recht spricht auch. Eine intakte Justiz ist eine, die immer Fehler zuzugeben imstande (und bereit!) sein muss. Die Justiz ist fehlbar wie das Volk, in dessen Namen sie Recht spricht. Aber hier liegt ein Problem. Wenn Menschen an der Funktionalität des Justizsystems zweifeln, wird es schwer, ihnen zu erklären, dass ein Urteil – gesprochen von der einen Instanz – von einer anderen aufgehoben wird.

Revision. Alles auf Anfang. Dass Urteile aufgehoben werden können, ist Fluch und Segen. Schnell wird klar, dass es bei der Rechtsprechung um mehr geht als Schuld und Unschuld. Es geht auch um Begründungen und mögliche Verfahrensfehler. Dass Ärzte Fehler machen, war lange Zeit für viele Menschen unvorstellbar. Längst hat sich das Bild der Götter in Weiß verschoben, aber noch immer glauben viele an eine intakte, unbeirrbare Justiz. Dass intakte Justiz auch Fehlbarkeit einschließt, scheint ein Widerspruch in sich.

Das Urteil – im Namen des Volkes: Die Angeklagten werden wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren verurteilt (gesprochen am 12. Dezember 2014). Justiz ist ein mehrstufiges System. Tat, Ermittlungen, Anklage, Verfahren, Urteil …

Revision

… Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs entschied am 3. September 2015: Die Revision des Nebenklägers, die eine Verurteilung der Angeklagten wegen Mordes anstrebt, hat Erfolg.
Die Tat, geschehen am 31. März 2014: In einem Supermarkt in Kleve Materborn töten zwei Angeklagte ihr Opfer mit über 40 Messerstichen. Eine öffentliche Tat. „Im ersten Urteil des Klever Landgerichts wurden niedrige Beweggründe rechtsfehlerfrei ausgeschlossen“, so der Bundesgerichtshof, der in seinem Urteil – auch gesprochen im Namen des Volkes – feststellte, „die Begründung des Klever Landgerichts, mit der eine heimtückische Begehungsweise verneint wurde, hält einer rechtlichen Überprüfung nicht stand“.

Bundesgerichtshof – Im Namen des Volkes. Auf die Revision des Nebenklägers wird das Urteil des Landgerichts Kleve […] aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung … an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. […] Die Revisionen der Angeklagten gegen das vorbezeichnete Urteil werden verworfen. Das Landgericht hat die Angeklagten wegen Totschlags jeweils zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren verurteilt. […] Die Revision des Nebenklägers, die eine Verurteilung der Angeklagten wegen Mordes erstrebt, hat Erfolg.
Allerdings hat das Landgericht auf der Grundlage seiner Feststellung rechtsfehlerfrei das Vorliegen niedriger Beweggründe ausgeschlossen. Insoweit wird auf die zutreffenden Ausführungen in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts verwiesen.

Dagegen hält die Begründung, mit der das Landgericht eine heimtückische Begehungsweise verneint hat, der rechtlichen Überprüfung nicht stand.
Das Landgericht hat das Mordmerkmal der Heimtücke deshalb nicht als gegeben angesehen, weil die Angeklagten die Überraschung des später Getöteten jedenfalls nicht ausgenutzt hätten. Sie hätten ihr Opfer zunächst durch die Scheibe des Supermarktes beobachtet und keine Anstalten unternommen, sich zu verbergen. Schließlich seien sie ihm offen in feindlicher Absicht entgegenge-treten. Diese Ausführungen lassen besorgen, dass die Strafkammer von einem unzutreffenden rechtlichen Maßstab ausgegangen ist.
Heimtückisch handelt, wer in feindlicher Willensrichtung die Arg- und Wehrlosigkeit des Tatopfers bewusst zur Tötung ausnutzt. Wesentlich ist, dass der Mörder sein Opfer, das keinen Angriff erwartet, also arglos ist, in einer hilflosen Lage überrascht und dadurch daran hindert, dem Anschlag auf sein Leben zu begegnen oder ihn wenigstens zu erschweren. […] Heimtückisches Handeln erfordert jedoch kein „heimliches“ Vorgehen. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann das Opfer auch dann arglos sein, wenn der Täter ihm zwar offen feindselig entgegentritt, die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem unmittelbaren Angriff aber so kurz ist, dass keine Möglichkeit bleibt, dem Angriff irgendwie zu begegnen. […] Maßgebend für die Beurteilung ist die Lage bei Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs. Abwehrversuche, die das durch einen überraschenden Angriff in seinen Verteidigungsmöglichkeiten behinderte Opfer im letzten Moment unternommen hat, stehen der Heimtücke daher nicht entgegen. […] Nach diesen Maßstäben durfte das Landgericht zur Verneinung der Heimtücke nicht allein darauf abstellen, dass die Angeklagten dem später Getöteten offen und feindselig gegenübergetreten sind. Vielmehr hätte es prüfen müssen, ob der später Getötete, als er auf die Angeklagten zuging und danach mit ihnen zusammentraf, die Gefahr so rechtzeitig erkannte, dass er noch Zeit gehabt hätte, sie abzuwehren oder sich ihrer zu entziehen. Hierzu verhalten sich die Urteilsgründe indes nicht. Soweit die Strafkammer darüber hinaus das Fehlen des Ausnutzungsbewusstseins verneint hat, weil die Angeklagten jedenfalls nicht davon ausgegangen seien, mit ihrem von Tötungsvorsatz getragenen Angriff einen arglosen Menschen zu überraschen, ist dies durch die Urteilsgründe nicht belegt. Das Landgericht hat zwar angeführt, dass die Angeklagten dem später Getöteten offen gegenübertraten. Um ein Ausnutzungsbewusstsein zu verneinen, hätte es jedoch der weiteren Feststellung bedurft, dass sie eine mögliche hilflose Lage ihres Opfers nicht erkannten.

Die Revisionen der Angeklagten
Die Überprüfung des Urteils hat weder zum Schuldspruch noch zum Rechtsfolgenausspruch Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben. Näherer Ausführungen bedarf nur Folgendes: a) Der Senat vermag widersprüchliche Feststellungen zum Zeitpunkt des Tötungsentschlusses, wie sie die Revision des Angeklagten A. O. geltend macht, nicht zu erkennen. Das Landgericht hat zunächst festgestellt, dass die Angeklagten bereits beschlossen, H. B. zu beseitigen, als sie diesen auf dem Weg zum Supermarkt erblickten. Spätestens als sie ihn nach dem kurzen Wortgefecht angriffen, seien sie entschlossen gewesen, H. B. zu töten. Damit hat das Landgericht lediglich zum Ausdruck gebracht, dass sich der Entschluss, den später Getöteten zu beseitigen, verfestigt hatte und sie bereits zu diesem Zeitpunkt nicht nur Körperverletzungs-, sondern Tötungsvorsatz hatten. Auch die Ausführungen zur Beweiswürdigung weisen keinen Rechtsfehler auf. Dies gilt insbesondere auch zu den Fragen, wann der Tatentschluss gefasst wurde und ob die Angeklagten zunächst nur vorhatten, mit dem später Getöteten zu reden. Die von der Revision des M. O. vorgebrachten Einwendungen gegen das angefochtene Urteil greifen ebenfalls nicht durch. Das Landgericht hat der Bemessung der Strafe alle relevanten Strafzumessungskriterien zugrunde gelegt. Dass es straferschwerend berücksichtigt hat, der Angeklagte habe sich zum Vollstrecker eines von ihm selbst gefällten Unwerturteils über H. B. gemacht, verstößt nicht gegen das Doppelverwertungsverbot des § 46 Abs. 3 StGB. Die Strafkammer hat insoweit das Motiv des Angeklagten zu der Gewalttat als unrechtserhöhend bewertet. Hiergegen gibt es nichts zu erinnern. Mit ihren Einwendungen gegen die Nichtannahme eines minder schweren Falles des Totschlags nimmt die Revision eine eigene Wertung der festgestellten Umstände der Tat vor.

Alles auf Anfang

Wieder das ganz große Besteck des ersten Tages: Fernsehkameras, schreibenden Presse. Die Kammer: Drei Berufsrichter, zwei Schöffen und zwei Ergänzungsschöffen. (Gerade sind in Kleve wegen der schweren Erkrankung eines Schöffen zwei Prozesse „geplatzt“.
Erste Prozesstage sind Entscheidungstage: Die Grundstimmung wird aufgetragen. Man glaubt zu spüren, dass die Farbe dieses Prozesses „Mord“ heißt. Als der Sitzungssaal geöffnet wird, zeichnet ein Fernsehteam ein Interview mit dem Anwalt der Nebenklage auf. Das ist ein Statement. Man lässt sich Zeit. Die Justizbeamten draußen auf dem Gang halten den Fernsehleuten den Rücken frei. „Sie können da jetzt nicht rein. Da ist das Fernsehen.“
Am nächsten Tag wird in den Zeitungen wieder einmal die Geschichte vom Ehrenmord erzählt. Ein Mann musste sterben, heißt es, um die Familienehre wiederherzustellen. Die Vorlage zu diesem Gedanken stammt aus dem Pressespiegel des Landgerichts, der wiederum einen groben Abriss der Anklage abzubilden versucht. Was nicht im Pressespiegel, wohl aber am nächsten Tag in einem Artikel steht: „Die beiden Täter: Adrett gekleidete junge Männer.“ Man fragt sich, was das zur Sache tut. Richtungen werden angedeutet. Schon jetzt ist zu lesen, dass eine der Zeuginnen, die erst am zweiten Tag erscheinen wird, am Tatort den Satz „Er hat es verdient“ gehört haben will. Sie ist die einzige Zeugin, die mit diesem Satz in der Akte auftaucht. Alle anderen haben nichts gehört oder aber nichts wahrgenommen. Bereits nach dem ersten Verhandlungstag entsteht die Atmosphäre aus Ehrenmord und dem Satz „Er hat es verdient“.

Elf Tage

Ein Prozess muss neu geführt werden. Elf Tage sind angesetzt. Der erste Tag der Neuauflage bringt die erneute Anklageverlesung. Aus Sicht der Staatsanwaltschaft geht es um Mord.
Aus dem Pressespiegel des Landgerichts: Erneute Strafverhandlung gegen zwei Brüder (32 und 23 Jahre alt) aus Bedburg-Hau wegen Mordes.
Zwischen der Familie der Angeklagten und der Familie des späteren Opfers bestanden in der Vergangenheit zahlreiche Konflikte. Im Jahr 2008 hatte das spätere Opfer versucht, einen Bruder der Angeklagten zu töten, wofür er damals zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren verurteilt worden war und diese auch verbüßt hatte.
Nach Darstellung der Staatsanwaltschaft konnten sich dennoch die Angeklagten mit der damaligen Tat nicht abfinden und entschlossen sich daher, diese zur Wiederherstellung der Familienehre zu sühnen. Die Angeklagten spürten mit Messern bewaffnet am Nachmittag des 31.03.2014 das Opfer in einem Einkaufsladen in Kleve auf und griffen ihn dort im Ausgangsbereich an.
Zunächst konnte sich das verletzte Opfer zurück in den Laden flüchten, wurde jedoch laut Anklage von den beiden Angeklagten eingeholt. Die Angeklagten stachen mit ihren Messern mit teils wuchtigen Stichen auf das Opfer wahllos ein. Es erlitt insgesamt 44 Schnitt- und Stichverlet-zungen, insbesondere im Brustbereich. Es verstarb kurze Zeit darauf an den multiplen Verletzungen durch Verbluten nach innen und außen. Die Angeklagten flüchteten, konnten aber noch am selben Tag festgenommen werden.
Die 4. Strafkammer des Landgerichts Kleve hatte die beiden Angeklagten am 12.12.2014 wegen Totschlags jeweils zu einer Freiheitsstrafe von 12 Jahren verurteilt. Auf die Revision des Nebenklägers hat der Bundesgerichtshof dieses Urteil aufgehoben und an eine andere Straf-kammer des Landgerichts zurückverwiesen. Das Mordmerkmal der „Heimtücke“ sei mit einer unzutreffenden Begründung verneint worden. Zu dem ersten Hauptverhandlungstag sind zwei Zeugen und ein Sachverständiger geladen.
Hinweis I: Der Straftatbestand des Totschlags (§ 212 Abs. 1 StGB) sieht eine Freiheitsstrafe von 5-15 Jahren vor. Ist darüber hinaus ein Mordmerkmal (z.B. Heimtücke / niedrige Beweggründe / Habgier) zu bejahen, wird der Täter als Mörder mit lebenslanger Freiheitsstrafe be-straft (§ 211 Abs. 1 StGB).
Heimtückisch handelt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, wer in feindlicher Willensrichtung die Arg- und Wehrlosigkeit des Tatopfers bewusst zur Tötung ausnutzt. Wesentlich ist, dass der Mörder sein Opfer, das keinen Angriff erwartet, also arglos ist, in einer hilflosen Lage überrascht und dadurch daran hindert, dem Anschlag auf sein Leben zu begegnen oder ihn wenigstens zu erschweren. Heimtückisches Handeln erfordert jedoch kein „heimliches“ Vorgehen. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann das Opfer auch dann arglos sein, wenn der Täter ihm zwar offen feindselig entgegentritt, die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem unmittelbaren Angriff aber so kurz ist, dass keine Möglichkeit bleibt, dem Angriff irgend-wie zu begegnen.
Hinweis II: Foto- und Filmaufnahmen im Saal sind vor Beginn der Sitzung gestattet. Zugelassen werden nur bereits beim Pressesprecher des Landgerichts angemeldete bzw. bis zum 17.03.2016, 15:00 Uhr, angemeldete Pressevertreter (). Aus Sicherheitsgründen und im Hinblick auf die räumlichen Möglichkeiten wird gegebenenfalls die Anzahl der Fotoreporter und die der Kamerateams begrenzt. Dann wäre nach einer Poollösung zu verfahren. Es werden nur Zuschauer eingelassen, die sich mit einem gültigen Personalausweis ausweisen können.

Anträge

Frage des Vorsitzenden Richters an die Verteidiger: „Werden Ihre Mandanten Einlassungen machen?“ Der Anwalt des älteren der beiden Brüder erklärt, sein Mandant werde sich erklären, „allerdings über mich als seinen Anwalt“. Auch der jüngere der beiden Angeklagten wird „sich grundsätzlich äußern, allerdings nicht heute“. Die Verteidiger stellen Anträge. Fast jeder Prozess beginnt so.
Ein psychiatrisches Gutachten bezüglich des Opfers soll vorgelesen, ein Arzt vernommen werden. „Der Arzt steht bereits auf der Zeugenliste“, erklärt das Gericht dem Verteidiger, der um eine 30-minütige Unterbrechung bittet. Bevor er die Einlassung seines Mandanten verliest, gibt es noch Besprechungsbedarf.

Unterschätzt, überschätzt

Eine halbe Stunde später: Die Erklärung des älteren der beiden Brüder, verlesen von seinem Anwalt: „Ich möchte an dieser Stelle mein tiefes Bedauern darüber ausdrücken, dass H.B. tot ist. Ich habe das nicht gewollt.“ Die Tat, so heißt es in der Erklärung weiter, beruhe auf einer bedauerlichen Eskalation. „Ich wollte dem H.B. sagen, dass er uns und unsere Familie in Ruhe lassen soll. Ich habe geglaubt, dass ich in der Lage wäre, die schwierige Situation mit ihm zu befrieden. Ich habe meine Fähigkeit, ihn zu einem Gespräch zu bringen, überschätzt, so wie ich seinen Hass auf mich maßlos unterschätzt habe. Deshalb ist mein Versuch völlig fehlgeschlagen. Ich entschuldige mich bei der Familie und bitte sie, meine Entschuldigung anzunehmen.“ Der Bruder des Opfers – er tritt als Nebenkläger auf – macht unmissverständlich klar, dass die Entschuldigung nicht angenommen wird.

Vor-Geschichte

Die Familien von Tätern und Opfer sind durch eine Vorgeschichte verbunden, die lange vor der hier zu verhandelnden Tat begonnen hat und die davon handelt, dass eine Ehe (die Schwester der beiden Angeklagten war bis zur Scheidung die Frau des Opfers) zerbrach und eine Eskalation nach sich zog. Das Opfer war seinerseits wegen versuchten Totschlags und gefährlicher Körperverletzung (begangen an einem der Brüder der beiden Angeklagten) verurteilt und in Haft. In der Presseerklärung des Landgerichts heißt es: „Zwischen der Familie der Angeklagten und der Familie des späteren Opfers bestanden in der Vergangenheit zahlreiche Konflikte. Im Jahr 2008 hatte das spätere Opfer versucht, einen Bruder der Angeklagten zu töten, wofür es damals zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt worden war und diese auch verbüßt hatte.“ (Es fühlt sich fremd an, dass von einem Menschen als ‘es’ gesprochen wird. Es – das Opfer. Es wurde damals verurteilt und es verbüßte die Haftstrafe.)

Wieder einmal wird klar, dass kaum eine Tat mit ihrer Ausführung beginnt. Keine Geschichte ohne Vorgeschichte. Schon beim ersten Verfahren wurde klar: Sieht man die Tat losgelöst von ihrer Vorgeschichte, kommt man zu anderen Ergebnissen.
Der Vorsitzende Richter liest nach der Einlassung des Angeklagten das Urteil gegen das spätere Opfer vor. In fast 50 Minuten wird die Vorgeschichte eines Falles „erzählt“, in der am Ende alle Opfer waren, noch immer sind und auch immer bleiben werden.

Lesen

All dieses Lesen ist zwar vorgeschrieben, aber nutzlos, denn niemand hört wirklich zu. Die Anwälte sprechen mit ihren Mandanten oder wischen mit den Fingerspitzen auf den blank polierten Displays ihrer Tablets hin und her. Einer popelt gedankenverloren in der Nase. Ein Justizwachtmeister kämpft mit der Müdigkeit. Niemand ist in der Lage, diesem hochkomplexen Text, der nicht zum Vorlesen taugt, zu folgen. Niemand kann sich auf etwas Derartiges konzentrieren. Die das Urteil kennen, haben nichts davon – die es nicht kennen und nicht Juristen sind, können ohnehin nicht folgen. Nicht anders ist es mit dem sich anschließenden DNA-Gutachten bezüglich der Tatortspuren. Es gilt das gesprochene Wort. Wieder einer dieser Augenblicke, die klar machen, dass die Verhandlungen irgendwie anachronistisch sind.

Sicherheit

Vor Prozessbeginn ist der Nebenkläger untersucht worden. Es geht um Sicherheit. Natürlich. Darf er sein Mobiltelefon in den Saal mitnehmen? „Mit diesen Dingern kann man heute doch alles machen“, sagt einer der Justizwachtmeister und spielt darauf an, dass der Nebenkläger Tonaufnahmen anfertigen könnte. Aufnahmen sind untersagt. Warum eigentlich? Wird denn nicht im Namen des Volkes verhandelt?
Vordenken: Der zweite Verhandlungstag wird vollgepackt sein mit Zeugen und ihren Aussagen. Alle Beteiligten werden dann die Tat ein zweites Mal besichtigen, sich auf den Weg in eine Erinnerung machen, die für nicht wenige der Beteiligten traumatisch ist. Niemand, der Schreckliches erlebt hat, möchte zurücktauchen, aber das Verfahren lässt keine andere Möglichkeit, weil ansonsten nicht festgestellt werden kann, ob Heimtücke bei der Tat eine Rolle gespielt hat. (Paragraf 211, Strafgesetzbuch: Mörder ist, wer […] heimtückisch oder grausam […] einen Menschen tötet.)
Nun also geht es darum, ob am Ende der auf elf Tage anberaumten Verhandlung die beiden Angeklagten wegen Mordes oder Totschlags schuldig gesprochen werden. Im Urteil des Bundesgerichtshofs geht es an entscheidender Stelle darum, dass Heimtücke auch dann vorliegen kann, wenn Täter ihrem Opfer offen feindselig entgegentreten.

Arglosigkeit

Wesentlich ist, dass der Mörder sein Opfer, das keinen Angriff erwartet, also arglos ist, in einer hilflosen Lage überrascht. […] Heimtückisches Handeln erfordert jedoch kein heimliches Vorgehen. Nach ständiger Rechtsprechung kann das Opfer auch dann arglos sein, wenn der Täter ihm zwar offen feindselig entgegentritt, die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem unmittelbaren Angriff aber so kurz ist, dass keine Möglichkeit bleibt, dem Angriff irgendwie zu begegnen.

Rasterabgleichung

Justiz ist Rasterabgleichung. Es geht darum, eine Tat einzupassen. In diesem Fall stehen die Grundraster Mord und Totschlag stehen zur Verfügung. Justiz ist ein komplexes System, in dem es darum geht, möglichst alle Schattierungen einer Tat abzugleichen – sie an dem zu messen, was in Urteilen oft „der gesunde Menschenverstand“ genannt wird. Gerade auf der Grenze zwischen Mord und Totschlag gerät oft genug der „gesunde Menschenverstand“ in einen Erklärungsnotstand. Was ist übrigens steht auf der gegenüberliegenden Seite des gesunden Menschenverstandes? Wie ungesund kann der Menschenverstand sein? Wie ungesund kann er werden? Kann er genesen?
In welcher Situation haben die die beiden Brüder und ihr Opfer befunden? Wie konnte die Situation eskalieren? Ist sie eskaliert? War all das geplant? Ein genialer Coup zur öffentlichen Wiederherstellung der Familienehre?

Erklärungen

„Ich möchte an dieser Stelle mein tiefes Bedauern darüber ausdrücken, dass H.B. tot ist. Ich habe das nicht gewollt. Ich übernehme aber die Verantwortung für die Tat, die ich begangen habe. Sie beruht auf einer bedauerlichen Eskalation der Auseinandersetzung […[, die ich so nicht gewollt habe. Ich wollte H.B. sagen, dass er uns und unsere Familie in Ruhe lassen sollte. Ich habe geglaubt, dass ich in der Lage wäre, die schwierige Situation mit ihm zu befrieden. Ich habe meine Fähigkeit, ihn zu einem vernünftigen Gespräch zu bringen, weit überschätzt, so wie ich seinen Hass auf mich maßlos unterschätzt habe. Deshalb ist mein Versuch völlig fehlgeschlagen.“ So beginnt die Erklärung des älteren der beiden Brüder. Er erzählt die Geschichte einer allmählichen Eskalation von Angst und Bedrohung, diffusen und realen Ängsten. Sieben Seiten lang ist die Erklärung, die am Tattag endet:

Ich wollte mit H.B. sprechen. […] Ich habe ihn angesehen und er mich. Ich bin sicher, dass er mich wahrgenommen und erkannt hat. […] Er kam mir entgegen. […] Er kam auf mich zu. […] Ich habe ihn nun angesprochen. Sofort wurde H. aggressiv, er schaute mich böse an, streckte seinen Körper und beschimpfte mich mit den Worten: ‘Ich ficke deine Mutter, das ist nicht das Ende, ich werde mich rächen, ich mache dich fertig.’ Er beschimpfte mich als Feigling. Zwischenzeitlich stand überraschend mein Bruder hinter mir. Als H. eine Armbewegung Richtung seiner Hosentasche machte, rief mein Bruder: ‘Vorsicht, der hat ein Messer!“ Da bin ich durchgedreht. Ich habe mein Messer gezogen und muss zugestochen haben, das weiß ich aber positiv nicht mehr. Ich weiß auch nicht, was mein Bruder tat. Ich habe heute keine Erinnerung an den Tatablauf mehr – ich hatte einen Filmriss.
Irgendwann, so weiß ich wieder, waren wir im Laden. H. kniete hinter der Kassenschranke. Wir sind dann weggelaufen. Hinter mir flogen Gegenstände. Irgendwann saß ich in meinem Fahrzeug; wie ich dahin gekommen bin, weiß ich nicht mehr. Wir sind weggefahren, ohne zu wissen wohin. Ich saß am Steuer. Ich war völlig durcheinander. Wir haben die Familie angerufen, dann die Polizei. Wir haben uns gestellt. Ich wusste nicht, ob H. schwer oder gar lebensgefährlich verletzt war, das habe ich erst bei den Kriminalbeamten erfahren, die uns nach der Festnahme angehört haben.
Ich hatte einen Beamten angesprochen, dass ich wegen meine Rippenschmerzen nicht atmen könnte. Da hat er mich gesagt, ‘was meinst du wohl, was mit H. ist, der wird vielleicht gar nicht mehr atmen können. Deswegen habe ich den Beamten gefragt, ob H. tot ist. Die Nachricht hat mich tief erschüttert.

Erster Presseartikel:
Eine Tat – zwei Verhandlungen
Das Urteil – im Namen des Volkes: „Die Angeklagten werden wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren verurteilt“ (gesprochen am 12. Dezember 2014). Justiz ist ein mehrstufiges System. Tat, Ermittlungen, Anklage, Verfahren, Urteil …

… Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs entschied am 3. September 2015:

Die Revision des Nebenklägers, die eine Verurteilung der Angeklagten wegen Mordes anstrebt, hat Erfolg.
Die Tat, geschehen am 31. März 2014: In einem Supermarkt in Kleve Materborn töten zwei Angeklagte ihr Opfer mit über 40 Messerstichen. Eine öffentliche Tat. „Im ersten Urteil des Klever Landgerichts wurden niedrige Beweggründe rechtsfehlerfrei ausgeschlossen“, so der Bundesgerichtshof, der in seinem Urteil – auch gesprochen im Namen des Volkes – feststellte, die Begründung des Klever Landgerichts, mit der eine heimtückische Begehungsweise verneint wurde, halte einer rechtlichen Überprüfung nicht stand.
Die Folge: Alles auf Anfang. Der Prozess muss neu geführt werden. Elf Tage sind für die erneute Strafverhandlung angesetzt – der letzte Termin ist für den 16. Juni angesetzt. Die Kammer, bestehend aus drei Berufsrichtern und zwei Schöffen, tritt mit zwei Ergänzungsschöffen an.
Der erste Tag der Neuauflage brachte die erneute Anklageverlesung. Aus Sicht der Staatsanwaltschaft geht es um Mord. Frage des Vorsitzenden Richters an die Verteidiger: „Werden Ihre Mandanten Einlassungen machen?“ Der Anwalt des älteren der beiden Brüder erklärt, sein Mandant werde sich erklären, „allerdings über mich als seinen Anwalt“. Auch der jüngere der beiden Angeklagten wird „sich grundsätzlich äußern, allerdings nicht heute“.
Die Verteidiger stellen Anträge. Fast jeder Prozess beginnt so. Ein psychiatrisches Gutachten bezüglich des Opfers soll vorgelesen, ein Arzt vernommen werden. „Der Arzt steht bereits auf der Zeugenliste“, erklärt das Gericht dem Verteidiger, der um eine 30-minütige Unterbrechung bittet. Bevor er die Einlassung seines Mandanten verliest, gibt es noch Besprechungsbedarf.
Eine halbe Stunde später: Die Erklärung des älteren der beiden Brüder, verlesen von seinem Anwalt: „Ich möchte an dieser Stelle mein tiefes Bedauern darüber ausdrücken, dass H.B. tot ist. Ich habe das nicht gewollt.“ Die Tat, so heißt es in der Erklärung weiter, beruhe auf einer bedauerlichen Eskalation. „Ich wollte dem H.B. sagen, dass er uns und unsere Familie in Ruhe lassen soll. Ich habe geglaubt, dass ich in der Lage wäre, die schwierige Situation mit ihm zu befrieden. Ich habe meine Fähigkeit, ihn zu einem Gespräch zu bringen, überschätzt, so wie ich seinen Hass auf mich maßlos unterschätzt habe. Deshalb ist mein Versuch völlig fehlgeschlagen. Ich entschuldige mich bei der Familie und bitte sie, meine Entschuldigung anzunehmen.“ Der Bruder – er tritt als Nebenkläger auf – macht unmissverständlich klar, dass die Entschuldigung nicht angenommen wird.
Die Familien von Tätern und Opfer sind durch eine Vorgeschichte verbunden, die lange vor der hier zu verhandelnden Tat begonnen hat und die davon handelt, dass eine Ehe (die Schwester der beiden Angeklagten war bis zur Scheidung die Frau des Opfers) zerbrach und eine Eskalation nach sich zog. Das Opfer war seinerseits wegen versuchten Totschlags und gefährlicher Körperverletzung (begangen an einem der Brüder der beiden Angeklagten) verurteilt und in Haft. In der Presseerklärung des Landgerichts heißt es: „Zwischen der Familie der Angeklagten und der Familie des späteren Opfers bestanden in der Vergangenheit zahlreiche Konflikte. Im Jahr 2008 hatte das spätere Opfer versucht, einen Bruder der Angeklagten zu töten, wofür es damals zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt worden war und diese auch verbüßt hatte.“
Wieder einmal wird klar, dass kaum eine Tat mit ihrer Ausführung beginnt. Keine Geschichte ohne Vorgeschichte. Schon beim ersten Verfahren wurde klar: Sieht man die Tat losgelöst von ihrer Vorgeschichte, wird man zu einem anderen Ergebnis kommen. Der Vorsitzende Richter las nach der Einlassung des Angeklagten das Urteil gegen das spätere Opfer vor. In fast 50 Minuten wurde die Vorgeschichte eines Falles „erzählt“, in der am Ende alle Opfer waren, noch immer sind und bleiben werden.
Am morgigen zweiten Verhandlungstag werden Zeugen gehört. Alle Beteiligten werden dann die Tat ein zweites Mal besichtigen, sich auf den Weg in eine Erinnerung machen, die für nicht wenige der Beteiligten traumatisch ist. Niemand, der Schreckliches erlebt hat, möchte zurücktauchen, aber das Verfahren lässt keine andere Möglichkeit, weil ansonsten nicht festgestellt werden kann, ob Heimtücke bei der Tat eine Rolle gespielt hat. (Paragraf 211, Strafgesetzbuch: Mörder ist, wer […] heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet.)
Nun also geht es darum, ob am Ende der auf elf Tage anberaumten Verhandlung die beiden Angeklagten wegen Mordes oder Totschlags schuldig gesprochen werden. Im Urteil des Bundesgerichtshofs geht es an entscheidender Stelle darum, dass Heimtücke auch dann vorliegen kann, wenn Täter ihrem Opfer offen feindselig gegenüber treten.

„Wesentlich ist, dass der Mörder sein Opfer, das keinen Angriff erwartet, also arglos ist, in einer hilflosen Lage überrascht. […] Heimtückisches Handeln erfordert jedoch kein heimliches Vorgehen. Nach ständiger Rechtsprechung kann das Opfer auch dann arglos sein, wenn der Täter ihm zwar offen feindselig entgegentritt, die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem unmittelbaren Angriff aber so kurz ist, dass keine Möglichkeit bleibt, dem Angriff irgendwie zu begegnen.“ Für den morgigen zweiten Verhandlungstag hat das Gericht zahlreiche Zeugen geladen.

Die sogenannte Tätertrennung – die beiden Brüder waren seit ihrer Inhaftierung in zwei unterschiedlichen Haftanstalten (Duisburg und Kleve) untergebracht – soll aufgehoben werden. Einer der Verteidiger sprach den Vorsitzenden Richter darauf an, dass die Justizvollzugsanstalt Kleve, i der nun beide Brüder einsitzen, eine interne Tätertrennung plane. Das könne, so der Verteidiger, nicht im Sinne des Gerichtes sein.

Was ist Heimtücke? Noch einmal das Urteil des BGH.

Heimtückisch handelt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, wer in feindlicher Willensrichtung die Arg- und Wehrlosigkeit des Tatopfers bewusst zur Tötung ausnutzt. Wesentlich ist, dass der Mörder sein Opfer, das keinen Angriff erwartet, also arglos ist, in einer hilflosen Lage überrascht und dadurch daran hindert, dem Anschlag auf sein Leben zu begegnen oder ihn wenigstens zu erschweren. Heimtückisches Handeln erfordert jedoch kein „heimliches“ Vorgehen. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann das Opfer auch dann arglos sein, wenn der Täter ihm zwar offen feindselig entgegentritt, die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem unmittelbaren Angriff aber so kurz ist, dass keine Möglichkeit bleibt, dem Angriff irgendwie zu begegnen.

Es geht also um die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem unmittelbaren Angriff. Das Opfer kann auch dann arglos sein, …
Wie lang oder kurz ist die Zeitspanne? Wer misst die Zeit? Wer legt Länge und Kürze fest? Der gesunde Menschenverstand? „Ich ficke deine Mutter“, soll das H.B. gesagt haben. „Das ist nicht das Ende. Ich werde mich rächen. Ich mache dich fertig.“ Womit rechnet einer, der solches sagt?

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann das Opfer auch dann arglos sein, wenn der Täter ihm zwar offen feindselig entgegentritt, die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem unmittelbaren Angriff aber so kurz ist, dass keine Möglichkeit bleibt, dem Angriff irgendwie zu begegnen.

Aus dem 1. Urteil des Landgerichts Kleve vom 12. Dezember 2014

Die Angeklagten hatten sich mittlerweile an der äußeren Schiebetür aufgestellt, wo sie H.B., der dem Ausgang zustrebte, erwarteten. An der Außentür standen die Angeklagten nebeneinander, so dass H.B. nicht an ihnen vorbeigehen konnte. Nachdem es möglicherweise zu einem kurzen heftigen Wortwechsel [„Ich ficke deine Mutter. Das ist nicht das Ende. Ich werde mich rächen. Ich mache dich fertig.“] zwischen ihnen und [H.]B. gekommen war, griffen die Angeklagten, die spätestens jetzt entschlossen waren, H.B. zu töten, diesen an und drängten ihn in den Gang zurück.

Wenn die Angeklagten spätestens jetzt entschlossen waren, H.B. zu töten – muss dann zwischen ihnen ein Austausch stattfgefunden haben? „Ich bringe den jetzt um. Bist du dabei?“ Hat sich der gemeinsame Entschluss zur Tötung des H.B. intuitiv übertragen? Wurde auf Seiten der Angeklagten gesprochen? Wenn sie sprachen – sprachen sie Deutsch, Türkisch, Kurdisch? Wie groß war die Zeitspanne zwischen Nicht-Entschlossen-Sein und Entschlossen-Sein?

… kann das Opfer auch dann arglos sein, wenn der Täter ihm zwar offen feindselig entgegentritt, die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem unmittelbaren Angriff aber so kurz ist, dass keine Möglichkeit bleibt, dem Angriff irgendwie zu begegnen …

Aus dem Urteil vom 12. Dezember 2014:

Die Kammer ist davon überzeugt, dass die Angeklagten H.B. bereits an der Außentür in feindseliger Absicht gegenübergetreten sind und mit diesem nicht erst nur ein Gespräch führen wollten. […] Deren Einlassung, sie hätten mit H.B. zunächst lediglich reden wollen, ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme widerlegt. Für ein Gespräch, mit dem die bestehend Meinungsverschiedenheiten [sic!] hätten geklärt werden sollen, war der Ausgangsbereich des Supermarktes schon deshalb ein denkbar ungeeigneter Ort, weil dadurch andere Kunden […] behindert worden wären.

Er hat es verdient. Zwanzig Zeugen vor Ort. Eine von ihnen gibt an, von einem der Täter im Anschluss an die Tat den Satz „Er hat es verdient“ gehört zu haben. Die anderen Zeugen sagen nichts dergleichen. Die Kammer urteilt:

Die Zeugin A. hat darüber hinaus bekundet, gehört zu haben, dass einer der Täter die Worte „Er hat es verdient!“ gerufen hat. Zwar hat diese Wahrnehmung keiner der übrigen Zeugen bestätigt. Die Kammer hält gleichwohl die Angaben der Zeugin A. für zutreffend. Denn es ist kein Grund dafür erkennbar, dass die Zeugin, die im übrigen nicht angeben konnte, welcher den Angeklagten den Ausruf getätigt hat, eine unzutreffende Aussage gemacht hat.

Natürlich ist auch kein Grund erkennbar, warum, alle anderen Tatzeugen den Satz nicht gehört haben sollten, wenn er gefallen ist. Aufregung? Auch die Zeugin A. war aufgeregt. Zu weit weg? Vielleicht waren nicht alle Zeugen so positioniert, dass sie alles hören konnten.

Immer wieder wird im Urteil der Kammer der Zeuge Ah. genannt. Er hat „als einziger der Tatzeugen das vollständige Geschehen in dem Gang beobachten können. […] Er folgte dem Tatopfer […] unmittelbar und hatte freie Sicht auf das Geschehen vor sich, weil

sich zwischen ihm und H.B. kein weiterer Kunde befand, der den Blick versperrte. Der Zeuge hat zudem sogleich erkannt, dass sich im Ausgangsbereich eine H.B. bedrohliche Lage entwickelt hatte und vor diesem Hintergrund das Geschehen gezielt beobachtet, während die übrigen Zeugen erst im weiteren Verlauf der Ereignisse durch den Lärm und die Hektik auf die Auseinandersetzung zwischen den Angeklagten und H.B. aufmerksam geworden sind und die Ereignisse im Gang, d.h. in dem Bereich zwischen den Kassen und der Ausgangstür nicht mitbekommen haben.“
Der Zeuge Ah. hat den Satz „Er hat es verdient!“ nicht gehört. All diese Erkenntnisse sind allerdings auf Null gesetzt. Das Verfahren hat neu begonnen. Es geht um die Heimtücke als Mordmerkmal – es geht um den Unterschied zwischen Totschlag und Mord, es geht um den Unterschied zwischen einer zeitigen Freiheitsstrafe und „Lebenslänglich“.
Ausflüge in das erste Urteil sind trotzdem interessant, denn es sind Ausflüge in Passagen wie diese:
Für die Bewertung niedrig [Es geht um die Verneinung niedriger Beweggründeim Zusammenhang mit der Tat] sind die in der Rechtsgemeinschaft als sittlich verbindlich anerkannten Anschauungen maßgeblich, wobei vom Standpunkt des unverbildeten Betrachters auszugehen ist.. Danach muss sich die Motivation der Tat nicht nur als verwerflich darstellen, sondern auf tiefster Stufe stehen und als besonders verachtenswert erscheinen; dabei ist die Niedrigkeit nach den Gesamtumständen der Tat zu beurteilen. Gemessen an diesen Tat-Umständen erfolgte die Tötung des H.B. nicht aus niedrigen Beweggründen.

2. Verhandlungstag
Der Mann im blauen Hemd
Zeugen von 9 bis 17 Uhr. Ist nicht alles schon erzählt? Ein Toter im Supermarkt. Die Tat im März 2014 – der Prozess im Herbst desselben Jahres. Das Urteil des Landgerichts Kleve wurde im Dezember gesprochen: „Die Angeklagten werden wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von jeweils zwölf Jahren verurteilt.“
Dann, im September 2015, das Urteil des Bundesgerichtshofs. Alles auf Anfang. Ein Volk – zwei Urteile. Was jetzt kommt, würden sie in einer Casting-Show Recall nennen. Es geht um den Unterschied. Es ist der Unterschied zwischen Totschlag und Mord, zwischen einer „zeitigen Freiheitsstrafe“ und Lebenslänglich. Alles noch einmal. Die Tat. Die Zeugen. Die Gutachten. Die Ängste. Das Böse. Der Schrecken. Der Angang. Das Ende.
Man könnte lesen, wer wann was gesagt hat. Die Ermittlungsakten verzeichnen es. Aber: Es gilt das gesprochene Wort. Die Tat: Fast genau vor zwei Jahren. Was lässt sich erinnern? Es gibt Bücher darüber, was erinnert wird – was aus dem wird, was wir für das Geschehen(e) halten. Belanglosigkeiten werden nicht erinnert, heißt es, aber die wichtigen Daten brennen sich ein – dazu Orte und Umstände. Was ist Wahrnehmung? Mehr als ein Dutzend Zeugen werden ein weiteres Mal in die Tat gerufen. Es ist, so steht es in den Akten, ein „Tötungsdelikt zum Nachteil von“ H.B. Das klingt fast harmlos. Die Wirklichkeit ist anders. Der Bruder des Opfers: Nebenkläger. Was da geschehen ist, sagt er, ist Mord. Das erste Urteil: Zu milde. Auch die Angehörigen der Täter sehen es anders. Nie und nimmer war die Tat ein Mord.
Der zweite Verhandlungstag – ein Zeugentag. Längst ist die Presse abgereist. „Ist doch alles schon erzählt.“ Jetzt: Die Stunden der Tatzeugen. Angestellte des Lidl-Marktes, Kunden – manche zufällig dort, andere sind regelmäßig zum Einkaufen da. Immer wieder erklärt der Vorsitzende Richter: „Wir müssen das alles leider noch einmal machen.“ Mit „das alles“ meint er den Prozess. Manche der Zeugen: Ruhig, gefasst, sortiert. Andere am Rande ihrer Beherrschung. „Wissen Sie, dass man diese Bilder nie wieder los wird?“, fragt eine den Richter. Eine andere sagt: „Ich habe all das doch schon zwei Mal erzählt.“ (Sie meint die erste polizeiliche Vernehmung am Tattag und ihre Aussage im ersten Prozess.) „Es gibt jetzt Leute in diesem Prozess, die all das noch nicht gehört haben“, sagt der Vorsitzende und meint vor allem die Schöffen. Sie haben – im Gegensatz zu den „Profis“ im Prozess – keine Akteneinsicht.
Wieder und wieder wird die Geschichte erzählt, die sich am 31. März 2014 im Lidl-Markt in Materborn zutrug. Es ist eine blutige, traurige Geschichte von zwei jungen Männern, die einen anderen töten – Kunden und Angestellte werden Zeugen. Die Frage: Wer hat was gesehen? Aber: Eine Tat besteht nicht nur aus Bildern – sie hat auch eine Tonspur. Im ersten Verfahren kam erst spät der Ton ins Spiel. Diesmal fragt der Richter jeden Zeugen: „Was haben Sie gehört.“ Hat es vor dem Angriff der Täter auf das Opfer ein Gespräch gegeben? In welcher Sprache wurde es geführt. Wurde während oder nach der Tat noch etwas gesagt? Von allen Zeugen des zweiten Verhandlungstages hat – mit Ausnahme einer Zeugin – niemand den Satz „Er hat es verdient“ gehört.
Verteidiger haben keine leichte Aufgabe, wenn Zeugen sichtbar traumatisiert dasitzen und ihre Seele zur öffentlichen Wunde wird. Aber es muss gefragt werde, was gefragt werden muss. Dem gesamten Personal dieses Prozesses darf man bescheinigen, dass mit viel Übersicht und Besonnenheit gearbeitet wird. Ein Richter, der einfühlend aber immer sachlich die Zeugen befragt. Keine leichte Aufgabe.
Wenn allerdings Worte fallen wie „Hinrichtung“ oder „Ehrenmord“, muss nachgehakt werden. Die Verteidigung: „Wir sind hier angewiesen auf Wahrnehmungen. Das sind Ihre Wahrnehmungen. Aber es ist wichtig, dass Sie unterscheiden zwischen Wahrnehmung und Meinung.“ Was muss passieren, damit jemand von einer Hinrichtung sprechen kann? Was, damit etwas zum „Ehrenmord“ wird? Die Verteidigung macht klar, dass zwischen Wahrnehmung und Meinung ein vermintes Feld liegt, das zu betreten nicht die Sache der Zeugen sein kann.

Aus der Aussage der Zeugin auf die Frage des vernehmenden Beamten „Haben wir noch etwas wichites vergessen, was wir aufschreiben sollten?“: Ich muss noch sagen, dass die Tat im Nachhinein für mich aussah wie eine Hinrichtung. Mir kam es so vor, als wenn die Täter auf das Opfer gelauert haben. Sie hatten es richtig auf den abgesehen gehabt, so nach dem Motto „Den stechen wir jetzt ab!“ Ich weiß ja auch nicht, was sie dem Opfer zugerufen haben. […] Sie haben das Opfer vergolgt und kamen ja sogar durch den Ausgang rein. Das Opfer hatte keine Möglichkeit, den Laden auf normalem Weg zu verlassen. […] Das war auf jeden Fall keine Zufallsbegegnung bei dem Opfer und den Tätern. […] Das war eine geplante Tat, als wenn die jemanden für irgendwas bestrafen wollten! Wie eine Verfolgung oder eine Hinrichtung. Wer geht denn bis unter die Zähne bewaffnet mit einem Messer und einem Schlagstock in den Laden und dann auch noch in den Ausgang rein!

Am Ende der Aussage findet sich ein handschritlicher Vermerk der Zeugin. Es lässt sich nicht sagen, ob es sich um die Handschrift der Zeugin handelt: „Wenn ich meine Aussage so gelesen habe, fällt mir der Begriff „Ehrenmord“ ein. [Nochmalige Unterschrift.]

Später wird eine Prozessbeobachterin die Zeugin in Schutz nehmen – sie wird das Stranden erklären. „Die Polizei hätte bei der ersten Befragung der Zeugin nicht fragen dürfen: ‘Welchen Eindruck hatten Sie?’“ Zeugen, sagt die Prozessbeobachterin, sollten so etwas nicht gefragt werden. Es ginge, und da deckt sich ihre Meinung mit der des Verteidigers, um Wahrnehmungen, nicht um Meinung. Erst diese Frage habe die Sache mit der Hinrichtung und dem Ehrenmord ins Protokoll gebracht. Nur deswegen sei auf der Zeugin herumgehackt worden. Die Zeugin, so scheint es, ist ein Opfer ihrer eigenen – wenn auch nur äußerlich zur Schau getragenen – Souveränität geworden. Sie wirkte nicht traumatisiert und brachte sich vielleicht dadurch als Ziel ins Spiel. Sie war eine der wenigen Tatzeugen, bei der eine Demontage irgendwie zumutbar wirkte.
Eine wichtige Person im Tatgeschehen: Der „Mann im blauen Hemd“. Er ist derjenige, der alles versucht hat, die Täter zum Ablassen von ihrem Opfer zu bewegen. Er warf mit Gegenständen – Flaschen waren dabei und mindestens ein Kassenstuhl. Später wird die Verteidigung den Zeugen ausdrücklich für sein mutiges und beherztes Eingreifen loben. Das Gericht wird sich anschließen. Im Fernsehen würde jetzt Applaus aufbranden. Ein Gerichtssaal ist kein Ort des Beifalls – es bleibt still.

Aus einer Zeugenaussage vom Tattag: Vor oder hinter den Männern kam noch ein Mann im blauen Hemd an und er schrie durch den ganzen Laden, warum denn keiner hilft.

Der Tag macht klar: Taten wie diese Tötung werden von den Zeugen unterschiedlich wahrgenommen. „Der eine von den beiden Tätern schlug so eigenartig auf das Opfer ein“, sagt ein Zeuge – „er schlug von oben nach unten. Ich wollte dazwischen gehen, da sagte meine Frau: ‚Geh da nicht hin. Der hat ein Messer.‘ Da war mit klar, warum das so komisch aussah.“ Manches Sichtbare wird erst durch Kenntnis mit Sinn gefüllt. Fehlt der Zusammenhang, entsteht ein Schlagen von unten nach oben – etwas, das nicht zum Schlagen passt. Taten sind ebenso beschaffen: Oft erhalten sie erst durch Zusammenhänge ihren Sinn. Nein, man mag nicht von Sinn sprechen, denn ein Tod wie dieser ist immer etwas Sinnloses, etwas, das niemandem widerfahren sollte. Man erinnert sich an die Einlassung eines der Angeklagten vom ersten Tag: „Ich habe geglaubt, dass ich in der Lage wäre, die schwierige Situation mit dem H.B. zu befrieden. Ich habe meine Fähigkeit, ihn zu einem vernünftigen Gespräch zu bringen, weit überschätzt, so wie ich seinen Hass auf mich maßlos unterschätzt habe. Deshalb ist mein Versuch völlig fehlgeschlagen.“
Auch dieses Gericht hat sich auf die Suche nach einer Wahrheit gemacht, die sich auf Beobachtungen stützt. Es gibt keinen Zweifel an der Tat, keinen an der Täterschaft. Wieder geht es um erzählungsgestützte Einschätzung. Zeugen sprechen, Gutachter werden sprechen. Am Ende wird es darum gehen, was sich fern aller möglichen Zweifel wird feststellen lassen.

Zeuge auf die Frage nach dem Messer: Ich schätze mal, dass es ein Küchenmesser war.
Anderer Zeuge auf die Frage „Was war das für ein Messer – ein Küchenmesser: Das war für mich kein Messer für den täglichen Gebrauch. Das war kein Küchenmesser.

Als das Volk, in dessen Namen am Ende geurteilt wird, erwartet man nicht weniger als eine genauestmögliche Suche nach der Wahrheit. Es geht um ein Urteil, das die Grenze zwischen lebenslänglich und einer zeitigen Freiheitsstrafe seziert. Niemand kann sich wünschen, dass die Zeugen irgendwann ein drittes Mal werden kommen und erzählen müssen.

Die Vernehmung des Mannes im blauen Hemd fand am Tattag um 20.25 Uhr statt und wurde in deutscher Sprache geführt.
Vorhalt: Herr A., Sie sind nach unserem Kenntnisstand ein wichtiger Zeuge des Tötungsdeliktes im LIDL-Markt. Es liegt uns hier eine handschriftliche Skizze des Marktes vor. […] Es wäre gut, wenn Sie uns anhand der Skizze den von Ihnen beobachteten Tatablauf schildern könnten.
Frage: Wann Sind Sie heute zum LIDL-Markt gefahren?
Antwort: Das war auf jeden Fall vor 18 Uhr. Ich bin von der Arbeit gekommen. Ich arbeite als Arzt im Krankenhaus […]. Ich war alleine unterwegs. Ich habe mein Auto auf dem Parkplatz vor dem Markt abgestellt und habe den Markt betreten. Dann habe ich ganz normal meine Einkäufe gemacht.
Frage: Ist Ihnen im Rahmen Ihrer Einkäufe irgendetwas aufgefallen?
Antwort: Nein nichts. Erst an der Kasse. Der Einkauf von mir hat höchstens 15 Minuten gedauert. Ich bin dann mit meinem Einkaufswagen zur letzten Kasse gegangen. Das ist laut Skizze die Kasse 4 und die vom Ausgang aus gesehen erste Kasse.
Frage: Standen an der Kasse vor Ihnen noch andere Leute?
Antwort: Vor mir war ein junges Ehepaar. Das kannte ich aber nicht. Dahinter kam ich dann schon.
Frage: Haben die was von der Situation mitbekommen?
Antwort: Ich weiß nicht.
Frage: Wann haben Sie die Tat angefangen zu beobachten?
Antwort: Da war das Ehepaar wohl noch dabei, die Einkäufe einzupacken. Die waren fas fertig. Zu diesem Zeitpunkt ist mir hinter der gegenüberliegenden Scheibe eine Person aufgefallen. Die konnte ich durch die Schreibe sehen. Das Fenster ist auf die Kassen 3 und 4 ausgerichtet. Es sah so aus, als wenn diese Person das spätere Opfer beobachtet hat. Das Opfer stand an Kasse 3.
Frage: Wie kommen Sie darauf, dass die Person das Opfer beobachtet hat?
Antwort: Das war so ein Gefühl, als wenn die sich kennen würden. Ich dachte erst, dass sie vielleicht minderjährig sind und das spätere Opfer vielleicht Alkohol kauft. Dann habe ich aber gesehen, dass das spätere Opfer nur eine Dose einkaufen wollte. Ich konnte sehen, wie der Kleinere von beiden an vor der [sic!] Scheibe stand. Der hatte kurze Haare.
Da war noch eine andere Person. Der war größer und hatte längere Haare. Der stand an dem Auto an der Fahrertür. Das war ein kleiner schwarzer Mercedes. Ich meine eine A-Klasse. Dann ist der größere von den beiden ins Auto gestiegen und wollte losfahren. Ich konnte sehen, wie das Auto nach unten abtauchte. Ich vermute mal, dass das Auto die Handbremse angezogen hatte und dann ausgegangen ist. […]
Frage: Können Sie mir bitte die beiden Personen näher beschreiben?
Antwort: Männlich, ich denke zwischen 170 und 175 cm, ich denke, nicht größer als ich (ich bin 178 cm groß), mittlere Statur, nicht schlank, aber auch nicht dick, schwarze, kurze Haare. Ich meine, die Sachen, die sie anhatten, waren auch schwarz, aber das weiß ich nicht ganz genau. Dunkle Augen. Er hatte eine hellere Hautfarbe als ich. Im Kinn- und Wangenbereich sah es dunkler aus, aber ob es ein Bart war, kann ich nicht sagen. Sonst ist mir nichts an ihm aufgefallen. Zur zweiten Person kann ich folgendes angeben: Männlich. Die war länger. Ich denke, länger als ich, aber wie groß genau, kann ich nicht sagen. Schlanke Statur. Auch dunkle Haare, aber länger als der Erste. Ich denke, auch er hatte dunkle Sachen an. Weiteres kann ich zu ihm nicht angeben, da habe ich nicht drauf geachtet.
Frage: Würden Sie die beiden wiedererkennen?
Antwort: Ja, die würde ich wiedererkennen. Es wäre aber sicherlich besser, wenn es eine Gegenüberstellung geben sollte, dass diese zeitnah erfolgt. Ich habe auch den kleineren der beiden besser gesehen und auch Augenkontakt mit ihm gehabt.
Frage: Jetzt steht das Auto auf der gegenüberliegenden Seite von den Parkflächen. Wie ging es dann weiter?
Antwort: Dann war sie Sache nicht mehr auffällig für mich. Ich habe die Situation draußen nicht weiter beobachtet. Dann habe ich meinen Einkauf bezahlt. Den hatte ich schon vorher auf das Band gelegt. Ich habe dann die Sachen in meinen Einkaufswagen gelegt. Mit dem Wagen bin ich Richtung Ausgang gelaufen. Dann habe ich gesehen, dass die beiden Männer zwischen den beiden Türen der äußeren Schiebetür gestanden haben. Das sind Schiebetüren. Die standen nebeneinander. Die haben ungefähr in der Mitte der Tür gestanden.
Frage: War der Ausgang durch die beiden versperrt?
Antwort: Ja, der war versperrt. Das waren die beiden, die ich vorher an der Kasse durch das Fenster beobachtet habe. Ich fuhr mit meinem Wagen Richtung der inneren Schiebetür. Dann konnte ich sehen, wie die beiden Täter an dem Opfer gezogen haben. Ob das Opfer auch gezogen hat, konnte ich nicht sehen. Dann habe ich aber bei dem rechten der beiden ein Messer in der Hand gesehen. In welcher Hand kann ich nicht sagen. Ich kann auch nicht sagen, welcher von beiden das Messer gehalten hat. Darauf habe ich da nicht geachtet. Dann habe ich laut geschrien. Das war so etwas wie „Loslassen!“ und „Was macht ihr hier?“. Anschließend habe ich meine Karre in Richtung der beiden Männer geschoben und bin dann selber zurück in Richtung Kasse gelaufen.
Frage: Wie muss man sich das Schieben vorstellen?
Antwort: Das war schon mit Wucht. Ich bin dann direkt hinter eine der beiden Kassen gerannt. Dann habe ich von da gesehen, dass das Opfer versucht hat, mit meiner Karre beide Täter von sich wegzuhalten. Er stand dabei im inneren Bereich vor der inneren Schiebetür. Er hatte die Hände an der Karre. Wie genau er die Karre festgehalten hat, kann ich nicht mehr sagen. Er versuchte mit der Karre auf jeden Fall, die beiden wegzuhalten. Die Karre war dabei zwischen den Türen der inneren Schiebetür. Danach ist das Opfer in Richtung der letzten Kasse – also in der Skizze Kasse 1 – gerannt. Beide Täter sind hinterher gerannt. Da stand ich hinter einer der ersten Kassen. Also auf der Skizze entweder Kasse 4 oder 3. Dann bin ich hinter allen hergelaufen. Ich bin bis vor die letzte Kasse gelaufen. Da bin ich aber vor stehengeblieben. Das ist Kasse 1. Die Kasse war zu. Da war eine Kassentür vor. Ich bin circa 1,5 bis 2 Meter davor stehengeblieben. Von da konnte ich sehen, dass das Opfer wahrscheinlich mehrere Male gestochen wird. Das Opfer stand noch hinter der Kassentür. Die beiden Männer standen auch im Gang der Kasse. Die drei haben alle aneinander gezogen und gerangelt. Ich konnte von den beiden Männern Stichbewegungen mit den Armen sehen.
Frage: Waren die Stichbewegungen von oben nach unten?
Antwort: Eher nein. Ich konnte aber auch kein Messer erkennen. Wer gestochen hat, kann ich auch nicht sagen. Das war so ein Durcheinander. Ich bin dann zu Kasse daneben gegangen und habe da einen Stuhl genommen. Das war so ein Stuhl der Kassierer. Den habe ich auf die beiden Männer geworfen. Ich habe damit auch getroffen. Ob ich nur einen oder beide getroffen habe, kann ich nicht sagen. Dann bin ich wieder zurückgelaufen und habe noch einen Stuhl aus einer anderen Kasser geholt. Ich habe den Stuhl dann auch auf sie geworfen. Da habe ich auf jeden Fall einen getroffen. Wen, weiß ich auch nicht. Wo die beiden Männer da gestanden haben, weiß ich nicht mehr genau. Ich vermute aber, dass sie bereits vor der Kasse – also außen von der Kasse – gestanden haben. Das wäre dann im Durchgangsbereich zum Ausgang. Ich hatte Angst und habe den Stuhl zum Schutz von mir geworfen. Dann habe ich auch mit Flaschen geworfen, um sie auf Abstand zu halten. Das waren Plastikflaschen. Das waren kleine und große Flaschen. Ich kann mich auf jeden Fall an zwei Red-Bull-Flaschen erinnern. Ich habe geworfen, damit sie nicht zu mir kamen. Ich weiß auch noch, dass einer der beiden nach einem Wurf zu Boden gegangen ist. Ob das nach dem Wurf vom Stuhl oder der Flaschen war, kann ich nicht mehr sagen. Wer das war, kann ich auch nicht sagen. Ich weiß auch nicht, wo ich genau getroffen habe. Einer der beiden Männer hat mich dann angeschaut. Der hatte Augenkontakt zu mir. Das war der kleinere Täter. Ich meine, das wäre auch dann gewesen, als einer zu Boden gegangen ist. Der hat mich dann angeschaut und ist dann an mir vorbeigegangen. Die sind dann beide durch den Durchgang in Richtung Ausgang. Ob gerannt oder gelaufen, weiß ich nicht mehr. Als die in Höhe der inneren Schiebetür waren, habe ich noch zwei Red-Bull-Flaschen hinter denen her geworfen. Da war ich schon etwas weiter weg. Ich habe die nicht getroffen, aber die Verglasung der Schiebetür. Die ist dabei kaputtgegangen. Das habe ich später gesehen. Ich habe dann geschrieen, dass man die Polizei und einen Krankenwagen rufen sollte. Ich bin direkt zum Opfer gegangen und habe Hilfe geleistet. Wohin die beiden Männer gelaufen sind, kann ich nicht sagen. Darauf habe ich nicht mehr geachtet.
Frage: Stammt das Blut auf Ihrer Hose, linkes Hosenbein, davon?
Antwort: Ja, das stammt davon. Das Opfer lag, als ich dahin kam, auf dem Boden im Kassenbereich. Es lag hinter der Kasse – also im Bereich des Ladens – auf dem Rücken. Es war ansprechbar. Er hatte ein Messer in der rechten Hand. Er hat das Messer so hoch gehalten. (Zeuge streckt seinen rechten Arm lang dabei aus.)
Frage: Fühlten Sie sich durch diese Geste bedroht?
Antwort: Ja, am Anfang schon. Es sah blass aus und schnappte nach Luft. Es war Blut an seiner linken Thoraxseite zu erkennen. Dann kamen noch mindestens zwei männliche Personen hinzu und wollten helfen.
Frage: Hat das Opfer noch was zu Ihnen gesagt?
Antwort: Nein, er konnte nicht sprechen. Ich habe ihm dann gesagt, dass er das Messer zur Seite legen soll und ich ihm helfen will. Er hat dann auch das Messer auf den Boden gelegt. Ich habe es dann zur Seite geschoben. Das habe ich fast unter das Regal geschoben.
Frage: Ist es das Messer, dass mit TW [Tatwerkzeug] auf der Skizze eingezeichnet ist?
Antwort: Ja.
Frage: Wie groß würden Sie das Messer schätzen?
Antwort: (Der Zeuge hält zwei Finger im Abstand von circa 15 cm Länge auseinander.) Der Griff war farbig. Die Klinge war vermutlich silber.
Frage: Was haben Sie dann mit ihm gemacht?
Antwort: Ich habe dann mit den anderen beiden Helfern die Beine hochgelegt. Da haben wir eine Packung Toilettenpapier darunter gelegt. Das war eine Schocklage. Dann habe ich nach dem Puls getastet. Das war an der rechten Hand von ihm. Das Opfer schnappte nach Luft. Dann hat er aufgehört zu atmen. Die beiden Helfer und ich haben des T-Shirt bis über die Brust hochgezogen. Da habe ich mehrere Wunden gesehen. Das waren auf jeden Fall mehr als 4 oder 5. Das waren blutende Wunden, ca. 1-2 cm breit. Die Wunden waren nicht nur an der Brustvorderseite, sondern auch an der linken Körperseite. Dann haben wir versucht, mit Tuch oder Toilettenpapier die Blutung zu stillen. Ich habe dann reanimiert. Das war eine Herzdruckmassage und Beatmung. Das habe ich hauptsächlich alleine, aber auch mit Hilfe einer der anderen Männer gemacht. Ich habe dann so lange weiter gemacht, bis der Rettungswagen kam. Die Sanitäter haben sich dann um die die Beatmung gekümmert. Ich habe dann zwei Zugänge gelegt. Das war an den Handrücken. Dabei habe ich festgestellt, dass im Oberarm rechts eine ca. 4-5 cm breite, offene, blutende Wunde zu sehen war. Die Sanitäter haben da einen Kompressionsverband angelegt. Wir haben dann weiter reanimiert, bis der Notarzt kam. Der Notarzt sagte dann, dass das EKG keine Herzfunktion zeigte. Mittlerweile waren wir ca. 15-20 Minuten mit der Reanimation beschäftigt. Es wurde dann durch den Notarzt übernommen und ich habe mich zurückgezogen.
Frage: Wann haben Sie zum ersten Mal das Messer beim Opfer gesehen?
Antwort: Das habe ich zum ersten Mal gesehen, als er allein auf dem Boden gelegen hat und ich ihm helfen wollte.
Frage: Haben Sie am Opfer an Händen oder Unterarmen aktive oder passive Abwehrverletzungen gesehen?
Antwort: Auf beiden Handrücken habe ich das nicht gesehen. An beiden Handinnenseiten habe ich nicht nachgeschaut.
Frage: Ist das Messer, welches Sie beim Opfer gesehen haben, vielleicht das Messer, welches Sie bei den Tätern gesehen haben?
Antwort: Die Größe könnte schon stimmen, aber ob es das gleiche Messer ist, kann ich nicht sagen.

Aus einer anderen Aussage: Mir ist noch aufgefallen, dass ein Mann, der an der ersten Kasse (direkt in der Nähe des Ein- und Ausgangs) stand, sein Handy rausgeholt hat und die ganze Sache – also den Angriff – filmte. Das fand ich ungeheuerlich.

Die Rückseite des Tages
Manchmal findet man sich auf der Rückseite eines Tages wieder – dort, wo nichts mehr möglich ist und alles zur Schranke wird.
Man kann in einer Gerichtsverhandlung nicht einfach aufstehen und „Stop!“ rufen. Und man kann sich nicht mit dem Richter verabreden und ihn bitten, zu erklären, wie er den Tag verstanden hat. Manchmal bleibt nur der Weg des Unmöglichen. Heute ist manchmal. Heute gilt Beschreibung am Rande des Unbeschreiblichen.
Im Zentrum des dritten Verhandlungstages steht die Aussage des Bruders des Opfers. Er tritt als Nebenkläger auf. Aus dem Nebenkläger wird ein Zeuge – einer, den keiner einzufangen in der Lage ist. Der Richter nicht. Die eigenen Anwälte nicht. Niemand. Der Vorsitzende Richter versucht, sich in das Leben des Opfers zu fragen – in die Umstände, die Geschichte, die Vorgeschichte. Natürlich: Dem Bruder des Opfers gebührt Respekt. Es geht um einen anhaltenden Schmerz und dessen Verarbeitung. Es geht – im besten Fall darum – irgendwann einen Abschied von dieser Tat zu finden.
Was die Prozessbeteiligten in einer mehr als 60 Minuten dauernden Befragung erleben, lässt sich allerdings nicht beschreiben, weil es sich mit nichts füllen ließe, das Sinn ergäbe. Vielleicht kann der Vorsitzende folgen. Man würde ihn gern fragen, worum es bei den Antworten ging. Er sieht den Zeugen mit einem Blick an, der andeutet: „Ja, ich verstehe Sie.“ Ein Zeuge, der mit einem schweren, fast undurchdringlichen Akzent Antworten auf Fragen gibt, die nicht gestellt wurden, tut sich nicht unbedingt einen Gefallen. Geht es nicht eigentlich um die Sache des Bruders – um Klarheit? Ein Zeuge, dem ein Übersetzer „beigeordnet“ ist, sollte – notfalls – verpflichtet werden, von der Übersetzung Gebrauch zu machen. Aber dieses Zeuge lässt sich nicht vorschreiben. Es bricht auf ihm heraus. Da sitzt einer, den nicht nur die anderen nicht beherrschen. Er ist scheint selbst nicht dazu in der Lage. Er wohnt seinem eigenen Ausbrechen bei. Es lässt sich nichts schreiben über die Aussage des Bruders, weil es nichts zu verstehen gibt. Verstehen kann man einiges, aber es lässt sich kein Sinn finden. Fragen, die zehn Sekunden dauern – Antworten, die das Zehnfache dieser Dauer weit übersteigen. Natürlich gibt es Dinge, die nicht mit Ja oder Nein erklärt werden können, aber: Sie müssen erklärt werden. „Haben Sie etwas verstanden?“, fragt man – sich selbst für blöd haltend – andere auf dem Gang und einer der Prozessbeteiligten antwortet: „Akustisch schon. Aber mehr nicht.“
Kaum etwas lässt sich aus diesen 60 Minuten zusammentragen, außer der Tatsache, dass – vielleicht hat man es falsch verstanden – im wesentlichen alle anderen die Schuld tragen. Dass das spätere Opfer selbst verurteilt wurde – nicht wirklich wichtig. Das Opfer – im Grunde ein lieber Kerl. Einmal hat er, das spätere Opfer, den Bruder (den jetzigen Zeugen also) mit einem Messer im Gesicht verletzt. „Aber das ist unsere Sache“, glaubt man verstanden zu haben. Das fragt die Verteidigung mühselig und teilweise laut werdend aus einem Zeugen heraus, der es sich anmerken lässt: Dass die Verteidigung ihn überhaupt ansprechen darf, ist eine Art Beleidigung, Erniedrigung für ihn. („War Ihr Bruder Ihnen gegenüber gewalttätig?“ „Nein.“ „Herr B., Sie stehen hier unter Wahrheitspflicht! Ich frage sich nochmals: Hat Ihr Bruder Sie mit dem Messer verletzt?“ „Hat er gemacht.“) Der Zeuge entscheidet, was das Gericht etwas angeht und was nicht. Nicht einmal seine eigenen Anwälte sind in der Lage, ihren Mandanten „einzufangen“ und stellen irgendwann das Fragerecht den anderen zur Verfügung. In ihren Mienen ist Resignation zu ahnen. Es hat ja keinen Zweck, scheinen sie zu denken. Auch die anderen scheitern großflächig an diesem Zentralmassiv. Da sitzt einer und versteht nicht, dass niemand ihn vorführen will. Das wäre auch nicht nötig: Er führt sich ja selbst vor. Irgendwie klaglos folgt das Gericht den unverständlichen Einlassungen. All das ist nur schwer zu ertragen. Die gesamte Aussage: Irgendwo am anderen Ende von „unaufgeregt“ – ein mit Crescendo versehenes Ostinato – eine Passacaglia wachsender Feindseligkeit. Würde man wiedergeben, was gesagt wird, setzte man sich dem Vorwurf aus, einen Menschen zum Holzschnitt zu machen.
Man kämpft sich zurück auf die Vorderseite dieses Tages. Die ehemalige Frau des Opfers sagt aus: Ihr ist nicht bekannt, dass es Drohungen von Seiten der Täterfamilie gab. Sie weiß nichts von einer Bedrohung, aber: Sie weiß, dass ihr Mann sich bedroht fühlte. Nein, ihr Mann hat niemals ein Messer bei sich getragen. „Ich hätte das doch gewusst.“ Politisch verfolgt habe er sich gefühlt. „Das war ohne Sinn. Kaum zu glauben.“ Gewalt – ihr gegenüber? Nein. Niemals. Ja – ihr Mann sei als paranoid schizophren diagnostiziert worden. „Irgendwann im Dezember 2013 hat er aufgehört, seine Medikamente zu nehmen.“ Aus eigenem Antrieb. „Er fühlte sich beeinträchtigt.“
Ein Gutachten, das während der Haftzeit erstellte wurde, sagt allerdings nichts über Schizophrenie. Die Zeugin, vom Vorsitzenden als „ich sage mal salopp Gefängnispsychologin“ bezeichnet, erklärt, sie habe das Gutachten „nach Aktenlage“ erstellt. Dem Mann, den sie da beurteilte, war sie nie begegnet. Ein Vorgänger geht – hinterließ ihr eine Akte. Dann die fällige Beurteilung, bei der es um eine eventuelle vorzeitige Haftentlassung ging. Beurteilung nach Aktenlage. Kein Gespräch. Der Mann – das spätere Opfer – wird als „einfach strukturierte Persönlichkeit“ beschrieben – als einer, „der dazu neigt, die eigene Schuld zu externalisieren“. Gutachten sind Keimzellen, aus denen sich alles andere entwickelt. Schnell entstehen Lawinen – Lawinen der Glaubwürdigkeit oder der Unglaubwürdigkeit – erstmeinungsgestützt. Was der eine vorgedacht hat, darüber muss der nächste vielleicht nicht mehr nachdenken. Ein Gutachten fließt ins nächste – und wenn am Anfang ein Irrtum stünde, würde er sich fortpflanzen. Wer widerspricht schon gern den Kollegen? Das Volk hat eine Redewendung dafür: Sie handelt von Krähen, die einander nicht die Augen aushacken. Es sollte für jedes Gutachten ein Pflichtfeld geben, in dem der Gutachter Auskunft zu geben hat: Gab es ein Treffen mit dem Probanden? Hat ein Gespräch stattgefunden oder basiert die Einschätzung auf Aktenlage? Was kann als Gegenargument in Bezug auf das Gutachten nach Aktenlage gelten? Überarbeitung? Personalmangel? Nein. Wenn es um das Leben der Staatsbürger geht, in deren Namen am Ende Urteile gesprochen werden, darf und kann derlei nicht Maßstab sein. Man schämt sich für ein System, in dem so etwas möglich ist.
Einmal während der Befragung der Psychologin rutscht dem Vorsitzenden der sonst ruhigneutrale Tonfall aus. Gleich zu Beginn – die Psychologin hat kaum zwei Sätze gesprochen – meldet sich die Nebenklage zu Wort. „Entschuldigung, wenn ich einfach so unterbreche, aber ich weiß nicht, ob ich weiter zuhören kann. Wird hier nicht gerade die ärztliche Schweigepflicht verletzt?“ Der Richter erklärt, es gehe hier um eine dienstrechtliche Sache. „Aber ist es nicht …“ „Das interessiert die Kammer nicht“, bricht es aus dem Richter. Irgendwie harsch. Irgendwie unwirsch. Derselbe Nebenklageanwalt hat eine Stunde zuvor regungslos mit angehört, als derselbe Vorsitzende ein medizinisches Gutachten, die Mutter des Opfers betreffen, vorgelesen hat. Ein Doktor soundso bescheinigt der alten Dame Verhandlungsunfähigkeit. Von Demenz ist die Rede und von einem schrumpfenden Gehirn. Die Frau ist nicht in der Lage, eine verwertbare Zeugenaussage machen. Die Nebenklage hat keine Einwände. Sie schweigt. Sie hat das Gutachten selbst vorgelegt.
Am Ende des Tages: Ein Gutachter, der schon im ersten Verfahren zu hören war. Er soll dem Gericht bei der Beurteilung der Frage helfen, ob die Tat ein Ehrenmord gewesen sein könnte. Am Ende eines erhellenden Gutachtens zum Thema Jesiden steht trotzdem kein Wegweiser. Wenn die Ehre einer Familie verletzt wird, gibt es viele Möglichkeiten der Wiederherstellung. Wichtig aber ist: Was immer passiert, um die Familienehre wiederherzustellen, muss zeitnah passieren. Eine „Verhältnismäßigkeit der Mittel“ gibt es nur bedingt. (Es geht darum, ob eine Körperverletzung sich auch mit einem Mord „beantworten“ ließe. „Es gibt da keine mathematische Formel“, sagt der Gutachter.)Aber es gibt einen Satz, der im ersten Prozess nicht auftauchte. Nach der Verurteilung des späteren Opfers soll eine Frau aus der Familie der Täter gesagt haben: „Wir sehen uns dann in fünf Jahren.“ Reicht das aus als Ankündigung einer Wiederherstellung der Familienehre?
Der Gutachter lässt keinen Zweifel daran, dass es verschiedene Möglichkeiten der Wiederherstellung der Ehre gibt. Dazu gehören das Zahlen eines „Blutgelds“, aber beispielsweise auch die Stiftung einer Ehe zwischen den verfeindeten Familien und – ja – es kann auch zur Ausübung von Gewalt kommen.
Der Gutachter hat die Angeklagten nicht gesprochen. Er kann die Fragen von Gericht und Anwälten nicht mit Klarheiten hinterlegen. Ein weiser Mann würde, unabhängig von dem Urteil, das die Kammer am Ende fällen wird, zur Versöhnung raten. Aber: Eine Eheschließung hat ja in dieser Verderben geführt. Versöhnung und Externalisierung von Schuld schließen sich aus. Wer hat eigentlich wen verlassen in dieser unglückseligen Ehe, die alles ins Rollen brachte? Der Bruder des Opfers sieht die Schuld bei der damaligen Frau seiner Bruders – der Schwester der Angeklagten. „Sie ist fremd gegangen.“ Dass sein Bruder ein Kind mit einer anderen hatte, erwähnt er nicht. Trotzdem: „Diese Frau“ hat seinen Bruder verlassen. Der Gutachter versteht das nicht. Wäre die Frau fremd gegangen, hätte ihr Mann sie verlassen müssen.
Was hat sie an Neuem ergeben? Der Satz „Wir sehen uns in fünf Jahren“ kam im ersten Prozess nicht vor. Er ist das Torpedo – abgefeuert auf die ansonsten nicht vorhandene Unmittelbarkeit von Ehrverletzung und Wiederherstellung. Damals, in der ersten Runde, hatte man den Eindruck gewonnen: Unmittelbarkeit hat es nicht gegeben. Dass das spätere Opfer seinen eigenen Bruder mit einem Messer im Gesicht verletzt hat, fand im ersten Prozess keine Erwähnung. Es mag in der Akte zu finden sein. Gesagt wurde es damals nicht. Niemand fragt nach diesen Sätzen. Sie gehen unter. Scheingefechte?

4. Verhandlungstag
Kaffee und Konjunktive
Der Verhandlungsbeginn wurde verschoben. Die Presse hat es erfahren. Nicht 11.30 Uhr sondern 14 Uhr. In der Justizvollzugsanstalt ist die Nachricht irgendwie untergegangen. Um 10.30 sollen die Angeklagten zum Gericht gefahren werden. Niemand, scheint es, hat von der Terminverschiebung erfahren. Der Fahrdienst erfährt nur durch Zufall von der Änderung …
Manche Gerichtstage plätschern dahin. Vielleicht ist der vierte Verhandlungstag ein solcher. Beginn: 14 Uhr, Ende 16.15 Uhr – ein nervenschonendes Programm, gefüllt mit den Aussagen von Polizeibeamten. Eine Parade aus Bekanntheiten, erzählt über Bande. Richter: „Sie waren an Zeugenvernehmungen beteiligt. Erzählen Sie mal.“ Dann der Aufmarsch der indirekten Rede: Sie, die Zeugin, habe gewartet, sie habe gedacht, habe beobachtet, vermutet, gehört …
Also: „Die Zeugin sagte, sie habe auf dem Parkplatz eine schwarze A-Klasse beobachtet … “ So geht es minutenlang. Nichts ist unbekannt. Die Tat marschiert vorbei.
Unversehens wird „das Abspielen eines Tonträgers“ mit dem Anruf der Täter zum Ereignis, weil es Wirklichkeit in den Saal spült. Die Wirklichkeit ist traurig – und trotzdem möchte man schmunzeln, denn der Beamte, der in der Leitstelle den Anruf eines der beiden Täter entgegennimmt, weiß noch nichts von der Tat. „Wir wollen uns gerne stellen“, sagt einer der Täter“, und wünscht am Ende des Gesprächs „einen schönen Tag“. Natürlich wäre es ein anderes Gespräch geworden, hätte der Beamte in der Leitstelle gewusst, wer ihn da anruft, aber die Realität ist kein Lehrbuch. Die Dinge passieren nicht, wie man sie sich vorstellt. Kein wilde Jagd, an deren Ende zwei Täter gestoppt und festgenommen werden. „Wir möchten uns gerne stellen.“
Der Anruf wurde für die Akten verschriftlicht.
Am 31. 03. 2014 nahm der Unterzeichner um 18.11 einen Notruf eines Mannes entgegen. Dieser gab an, sich der Polizei stellen zu wollen. […] Das Telefonat gestaltete sich schwierig, da das gesprochene Wort des Anrufers relativ schnell gesprochen und teils schlecht zu verstehen war, u.a. auch wegen der Hintergrundgeräusche.
Anrufer: Guten Tag, hier spricht …
Polizei: Ja? Hallo?
Anrufer: Ja bleiben Sie bitte mal gantz kurz dran. bitte.
[…]
Polizei: Ja.
Anrufer: Es ist ein Vorfall passiert. Können Sie bitte melden, dass die uns orten sollen und die können uns da bitte anhalten.
Polizei: Nee, so einfach ist das alles nicht. Wir sind nicht bei CSI. Was haben Sie denn?
Anrufer: Wir sind auf der Autobahn, jetzt auf dem Rastplatz hier. Autobahn A57.
Polizei: Ja.
Anrufer: Nennen Sie mir mal bitte die nächste Stelle, wo ich hingehen kann.
Polizei: Das kommt drauf an, wo Sie sind auf der Autobahn A57. Die ist lang.
Anrufer: Wir sind Sonsbeck vorbei.
Polizei: In welche Fahrtrichtung? Richtung Holland oder Richtung Köln?
Anrufer: Richtung Köln.
Polizei: Ja, und was ist passiert?
Anrufer: Es ist ein Vorfall passiert.
Polizei: Ja, was ist denn ein Vorfall?
Anrufer: Eine Streitigkeit.
Polizei: Streitigkeit?
Anrufer: Streitigkeit, ja.
Polizei: Ja und Sie sind jetzt auf der Autobahn oder was?
Anrufer: Richtig.
Polizei: Jetzt haben Sie auf der Autobahn angehalten, um sich zu streiten?
Anrufer: Nein, das ist schon vorher passiert. Ich bin auf der Autobahn. Dieser Vorfall ist schon vorher passiert. Nicht auf der Autobahn. Irgendwo anders.
Polizei: Und Sie sind ohne Streit und fahren auf der Autobahn und möchten die nächste Polizeidienststelle anlaufen?
Anrufer: Hier … Ich mach das mal kurz: Wir wollen uns gerne stellen. Bevor die Polizei mich sucht, stelle ich mich.
Polizei: So, dann fahren Sie einfach weiter Richtung Kamp-Lintfort.
Anrufer: Richtung Kamp-Lintfort fahren?
Polizei: Genau. Und in Rheinberg, Anschlussstelle Rheinberg, fahren Sie runter.
Anrufer: Ja.
Polizei: Und da unten ist ein Parkplatz und da warten meine Kollegen auf Sie.
Amrufer: Ach so. Also in Richtung Rheinberg fahren und dann auf den Parkplatz.
Polizei: Genau. Wenn Sie aus Richtung Holland kommen, an Sonsbeck vorbei und dann fahren Sie in Kamp-Lintfort runter.
Anrufer: Kamp-Lintfort runter fahren, ja?
Polizei: Genau. Oder machen wir es anders: Wenn Sie runter gefahren sind, unten an der Abfahrt, fahren Sie links Richtung Kamp-Lintfort. Wenn Sie dann nach Kamp-Lintfort reinkommen, ist ne Ampelkreuzung. Fahren Sie links nach Kamp-Lintfort rein an der Ampel.
Anrufer: Also, ich verstehe das jetzt nicht. Richtung Kamp-Lintfort fahre ich raus.
Polizei: Ja, dann fahren Sie … Nee, in Rheinberg fahren Sie runter. Fahren Sie bitte in Rheinberg runter.
Anrufer: Ich fahre in Rheinberg runter.
Polizei: Genau. Dann fahren Sie rechts herum und an der Ampel links und dann kommt ein Pendlerparkplatz.
Anrufer: Ach so, dann fahr ich an der Ampel rechts und dann wieder links.
Polizei: Nee, sie kommen runter, da ist keine Ampel und dann fahren Sie rechts rum und dann kommt direkt eine Ampelkreuzung.
Anrufer: Ja.
Polizei: So, fahren Sie unter der Autobahn wieder durch, Ampelkreuzung links und wieder links ist ein Penlderparkplatz. Haben Sie verstanden?
Anrufer: Okay, ich weiß Bescheid.
Polizei: Und da schick ich Ihnen die Kollegen jetzt mal hin.
Anrufer: Geht das wirklich nicht auf der Autobahn, Rastplatz oder so?
Polizei: Nee. Vorher gibt es keine Polizei und auch keinen ordentlichen Rastplatz mehr. Kommen Sie bitte Anschlussstelle Rheinberg und da schick ich Ihnen die Kollegen jetzt hin.
Anrufer: Okay.
Polizei: Gut. Sagen Sie mit Ihren Namen noch mal ganz kurz.
Anrufer: …
Polizei: Alles klar. Fahren Sie da hin.
Anrufer: in Kleve anrufen. Kleve weiß Bescheid. In Kleve anrufen, okay?
Polizei: Ja, fahren Sie erst mal nach Rheinberg. Alles weitere klären wir vor Ort.
Anrufer: Schönen Tag noch.
Polizei: Jo.
Die Szene wirkt fast rührend. Da sind zwei junge Männer, die einen Menschen getötet haben (noch wissen sie das nicht) und das ist ein Polizist, der von dem Vorfall nichts weiß.
Später werden die beiden Täter festgenommen.

Beide Personen wurden durch … unter Vorhalt der Dienstwaffe in entschlossener Sicherungshaltung aufgefordert, sich auf den Boden zu legen.

Die Zeugen des 4. Verhandlungstages sprechen viel über andere Zeugen. Wirklichkeit aus der dritten Instanz. Ein Zeuge der Nebenklage es ist der Onkel der beiden Täter (und er heißt so wie einer von ihnen – Vor- und Nachname sind identisch) soll „abgeladen“ werden, meint das Gericht, denn der Mann würde sich ohnehin auf sein Zeugnisverweigerungsrecht zurückziehen. Zeugen vor Gericht werden nicht ausgeladen, sie werden abgeladen. Der Bruder des Opfers sieht die Sache anders. Er möchte den Zeugen hören – will nicht, dass ein Gericht sagt, der Mann brauche nicht zu erscheinen. Er debattiert mit seinen Anwälten – mit dem Richter. Er debattiert noch, als längst der nächste Zeuge aussagt. Die Verteidigung bittet um Ruhe. Man könne sonst der Aussage nur unzureichend folgen. Der Bruder des Opfers beherrscht – im Gegensatz zu allen anderen Beteiligten – nicht das lautlose Reden. Am Ende des vierten Tages wird das Gericht nach kurzer Beratung verkünden, dass der Zeuge „abgeladen“ wird.
Einmal geht es – die Verteidigung spricht das an – um einen Satz, den der ältere der beiden Täter gesagt haben soll: Er würde gern abends auch mal joggen gegangen sein, ohne Angst um die Familie haben zu müssen. Die Verteidigung hakt auch bei einer Aussage nach. Es geht um einen lautstarken Streit, der stattgefunden haben soll. Die erste Frage zielt auf die Situation einer Familie ab, die in ständiger Angst lebte, die zweite Frage sondiert das Terrain, das die Neuverhandlung erst ermöglicht hat: Es geht um die mögliche Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers. War Heimtücke im Spiel oder nicht?
In der Pause am Kaffeeautomaten geht es um die üblichen Konjunktive. Angenommen, es wäre so – dann würde doch vielleicht. Nach der Pause: Ein gelesener Ausflug in den PKW der Täter. Es geht um Fußmatten, PET-Flaschen, „acht Geldstücke unbestimmter Anzahl“ und was sich sonst noch so findet in einem irgendwie ganz normalen PKW. Es ist einer der leichten, kurzen Tage. Die Verhandlung ist nach zwei Stunden und 15 Minuten beendet. „Wir sehen uns dann am Donnerstag um 9 Uhr“, sagt der Richter. Dann stehen 17 Zeugen auf dem Programm.

4. Verhanhdlungstag
Justiz ist eine Wundertüte. Natur der Sache: Inhalt unbekannt. Manchmal. Der fünfte Tag in der zweiten Auflage des Prozesses um den Tod eines Mannes in einer Lidl-Filiale vor zwei Jahren begann mit einem Zeugen, den die Cohen-Brüder wohl „schräg“ nennen würden. Handschellen, Jogging-Anzug, Badeschlappen, Basecap. Ein Alleinunterhalter der anderen Art. Als einer der Justizwachtmeister dem heftig Kauenden nahelegt, bei Eintritt des Gerichts die Basacap abzunehmen und mit dem Kauen aufzuhören, schiebt der Mann lässig die Basecap über den Hinerkopf nach vorn in die Stirn, nimmt sie dann ab und spuckt sein Kaugummi auf den Boden. Er grinst. Das Gericht tritt ein. „Guten Morgen.“ Noch bevor der Vorsitzende den ersten Satz zu Ende gesprochen hatte, macht der Zeuge die Richtung deutlich: „Mein Name ist Hase. Ich steh im Wald. Ich weiß von nichts.“ Gut, dass man mal darüber gesprochen hat.
Im Rahmen Feststellung der Personalien die Frage nach dem Beruf: „Ich putze die Zelle.“ Richter: „Sind Sie mit den Angeklagten verwandt?“ „Wir sind doch alle Brüder und Schwestern, oder? Steht doch in der Bibel, oder?“ Ob er mit dem späteren Opfer im Streit gelegen habe, fragt der Vorsitzende den Spaßvogel. „Möglich. Wenn der verurteilt wurde, wird es so gewesen sein.“ Das spätere Opfere hat dem Zeugen „die Nase poliert“. Der Spaßvogel hat seine eigene Theorie: „Ich denke, die Beamten haben den auf mich gehetzt, aber beweisen“ – er breitet die Arme aus – „beweisen kann ich das nicht.“ Der Richter hat keine Fragen mehr. Schon setzt der Zeuge die Basecap auf. Er hat fertig. Allerdings dürfen auch die anderen Prozessbeteiligten Fragen stellen. Der Bruder des Getöteten stellt eine Frage. Er versucht, eine Frage zu stellen. „Pass auf, wenn du mit mir sprichst, dann rede so, dass ich dich verstehen kann.“ Am Ende unterbindet der Richter das Gespräch der beiden, weil der Nebenkläger keine Frage stellt. Der Spaßvogel schieb sich die Basecap auf den Kopf und wird abgeführt.
Dann: Zwei Polizeibeamten. Brüder. Das muss das Gericht erst herausfinden. „Unser zweiter Zeuge ist ja offensichtlich ein Namensvetter von Ihnen.“ Opferschutzbeauftragter der eine, der andere seit kurzem pensioniert. Ja, am Tatabend hat es auf dem Parkplatz Randale gegeben. „Die Kollegen haben mich dann angerufen. Fahr da mal hin: Sprich die runter.“ Runtersprechen heißt Deeskalation mittels Reden. Die Familie und die Bekannten des Opfers machen ihrem Unmut lautstark Luft. „Es ging laut zu.“ Auch über die Polizei wird geredet. Die seien viel zu weich, nähmen Mörder in Schutz. Der Satz, den die Verteidigung aus dem Opferschutzbeauftragten herausfragt, klingt wie eine Drohung. Die Polizei müsse wissen, dass die Familie des Getöteten nichts akzeptiere als eine Verurteilung wegen Mordes. Ansonsten, so hat der Beamte in einem Vermerk notiert, müsse man (gemeint ist die Familie des Opfers) selbst tätig werden. Starker Tobak. Der Opferschutzbeamte kennt die Vorgeschichte. Da hat sich einiges abgespielt. „Wissen Sie, ob die Schwester der beiden Angeklagten – die frühere Frau des Opfer also – ihren Mann betrogen hat?“, fragt einer der Verteidiger. Die Gestes des Mannes auf dem Zeugenstuhl ist mehr oder weniger eindeutig: Nie und nimmer. Es sei in dieser Ehe oft um häusliche Gewalt gegangen. Ihm, sagt der Zeuge, stehe eine Bewertung nicht zu.
Dann sein Bruder: Am Tatabend hat er mit der Frau des älteren der beiden Brüder gesprochen. Eigentlich hat er nicht gesprochen – sie hat ihm (zwei Stunden mag es gedauert haben) ihr Leben erzählt. Ein Leben, das aus nichts als Angst bestanden habe. Später spricht der Zeuge auf dem Gang von seiner Einsamkeit. Was er habe sagen wollen, hat niemanden interessiert. Es sei aber doch wichtig. Das hier sei kein Mord. Nie und nimmer. Da sei etwas aus dem Ruder gelaufen. Außer Kontrolle geraten. Da sei ein Behälter exdplodiert, der zu lange unter Druck gestanden habe. Die Frau, die ihm all das erzählt habe – eine ratlose Frau. Eine, die keine Erklärung gefunden habe. Eine Frau, die erzählt habe, der Vater der beiden Angeklagten (ihr Schwiegervater) habe immer gesagt, man solle sich an dieser Sache die Finger nicht schmutzig machen. Für ihn, so der Beamte, sei das absolut glaubhaft und schlüssig gewesen. Jahre zuvor, erzählt der Zeuge später außerhalb des Gerichtssaals, sei er „in einem Fall gewesen“, wo ein Familienoberhaupt die Tötung eines Menschen befohlen habe. Der Mann sei verurteilt worden, ohne den Mord begangen zu haben. Hier sei das Gegenteil geschehen, aber niemand befasse sich damit. Noch immer werden von vielen diese Tat als ein Ehrenmord gehandelt – ein Bild, das nicht aus den Köpfen zu bekommen sei.
Der Bewährungshelfer des Opfers sagt aus. Nein, sein Mandant war nicht aggressiv. In den letzten Monaten vor seinem Tod hat der Mandant keine Medikamente mehr eingenommen. „Die machen mich fertig“, habe er gesagt. „Die machen mich kaputt.“ Der Hausarzt des Getöteten wird später aussagen, dass sein Patient im Gefängniskrankenhaus mit einer Schizophrenie dioagnostiziert worden sei. „Ich bin Internist. Ich habe da nicht selbst diagnostiziert.“ Man habe die Medikamente weiter verschrieben. Mehr nicht. Vorher hat der Arzt den Richter gefragt, wie es um die ärztliche Schweigepflicht bestellt sei. „Ihr Patient ist mittlerweile verstorben. Sollten Sie glauben, dem Mann mit Ihrer Aussage zu schaden, müssen sie nichts aussagen.“ Das Ganze seit juristisch interessant. Er habe, sagt der Arzt, den Mann nicht psychotisch erlebt. Er spricht das Wort, als schreibe man es mit einem Doppel-T: Psychottisch.
Später am Tag: Die zweite Gefängnispsychologin, die im Prozess aussagt. Wie die erste Psychologin arbeitete auch sie in der JVA Geldern, wo das spätere Opfer eine Strafe verbüßte. Die erste Psychologin hatte ausgesagt, das spätere Opfer nach Aktenlage beurteilt – ihn also nie gesehen zu haben. Nun sagt ihre Vorgängerin als zweite aus. Jetzt also wird Klarheit geschaffen, denkt man und es verschlägt einem die Sprache: Auch sie hat den Mann nie gesprochen. Auch sie hat ihn nie gesehen. Sie hat zwei Beurteilungen geschrieben, ohne den Mann je getroffen zu haben. „Was ist mit einem System los, in dem so etwas möglich ist?“, möchte man fragen, aber die Psychologin ist längst aus dem Saal – zurück nach Köln. Man könnte einen Gefangenen erfinden – einen Menschen, den er gar nicht gibt, einen, der nie existiert hat – Beurteilungen über ihn würde es reichlich geben. Nach Aktenlage …
Von den 17 Zeugen des Tages bleiben kaum Aussagen. Die meisten: Verwandte der Täter. Nichten, Schwestern. Die erste Frau des späteren Opfers. Sie alle werden vom Vorsitzenden belehrt. Sie alle machen von ihrem Recht Gebrauch, nicht aussagen zu müssen. „Sie müssen als Verwandte nicht aussagen und das darf sich auch nicht negativ auswirken. Für uns ist das so, als würde es sie nicht geben“, sagt der Vorsitzende immer wieder.
Während der Verhandlungstag dahin blättert, fragt man sich nach dem Grund dieser Revision. Der Bundesgerichtshof hat das Nichtvorhandensein von „Heimtücke“ nicht ausreichend ge- und erklärt gefunden. Lässt man die Befragungen vor dem inneren Auge ablaufen, so scheint es um diesen Punkt nie zu gehen. Fast alle Fragen umkreisen andere Dinge. Wenn es Heimtücke war, müsste es um die genauen Umstände des Tatgeschehens gehen, denkt man. Es müsste um die räumliche Situation gehen und um die Rekonstruktion des Ablaufes. Stattdessen ein Hase, der von nichts weiß, eine Psychologin, die nach Aktenlage urteilt, die Frage, ob die Familie der beiden Täter eher europäisch oder orientalisch lebe. Ein Nachbarin wird aus dem Zuschauerraum heraus auf den Zeugenstuhl gebeten. Bankangestellte sprechen über die Sparbücher der Kinder. Da sitzt man, staunt und sucht nach einer Richtung. Der Prozess steht kurz vor der Halbzeit. Haben die Angeklagten heimtückisch gehandelt? War, was da passiert ist, überhaupt ein Mord? Ein bisschen hat es den Anschein, das Gebiet der Heimtücke wird nicht ausreichend betreten. Das Gericht denkt bereits an Gutachten und Plädoyers. Gibt es noch Zeugen, die gehört werden müssten? Die Verhandlung wird am Montag um 9 Uhr fortgesetzt.

5. und 6. Verhandlungstag
Mein Name ist Hase
Mediziner sagen aus. Es geht um den Zustand der Täter bei ihrer Festnahme – es geht um den geistigen Zustand des späteren Opfers. Immer wieder ist von Schizophrenie die Rede. Es habe bei dem Mann erhebliche psychische Auffälligkeiten gegeben. Es fallen Vokabeln wie paranoid, Realitätsverlust, aggressiv. Der Mann habe sich bedroht gefühlt: Von den Justizbeamten. Von Angela Merkel. Von Guido Westerwelle. Er habe Angst gehabt, man wolle ihn vergiften. Ein pensionierter Polizist sagt aus. Nach der Verurteilung des späteren Opfers habe der Mann seiner Frau und den Kindern gedroht: „Wenn ich rauskomme, bringe ich euch um.“
Dann die Aussage des Gerichtsmediziners. Über 40 Wunden hatte das Opfer. Jede einzelne wird erörtert und beschrieben. Man mag nicht zuhören. Später werden am Richtertisch die Fotos gezeigt. Ein Richter aus dem ersten Verfahren sagt aus. Ein weiterer Arzt.
Nach der Mittagspause eine Zeugin, die am Tattag vier Mal mit dem älteren der beiden Brüder telefonierte. Es gab zwei Gespräche am Vormittag, zwei am Nachmittag. Am Vormittag bekommt sie gesagt, sie solle sich nicht mehr melden. Der Richter betritt ein schwieriges Terrain. Er will nicht wissen, wie genau das Verhältnis der beiden beschrieben werden muss, aber er will wissen, ob da mehr war als eine Bekanntschaft. Nach einem ‚Nein‘ wird die Zeugin an ihre Wahrheitspflicht erinnert. Sie spricht mazedonisch. Ihre Aussage kommt „über Bande“. Aus dem Nein, das die Dolmetscherin zunächst übersetzt, wird ein Ja. Einen Grund, warum sie sich nicht mehr melden soll, hat sie nicht erfahren.
Auch ein Zeuge des 6. Tages: Einer der Richter aus dem ersten Prozess, der von den Einlassungen der beiden Angeklagten von damals berichtet. Er wird vom Bruder des Opfers „ins Kreuzverhör“ genommen, der zuvor einen anderen Zeugen in die Enge getrieben hat. Der Zeuge steht am Ende von seinem Stuhl auf, hebt helfend die Hand, fühlt sich bedrängt. Was der Nebenkläger behauptet, will er nie gesagt haben. „Können Sie mir bescheinigen, was ich hier gesagt habe?“, fragt er den Vorsitzenden. „Nein.“ Der Vorsitzende begegnet den Ausbrüchen des Nebenklägers mit großer Geduld und Ruhe.

Der 7. Tag
So gut wie nichts
„Schön, dass man sich wieder mal getroffen hat“ – das fiktive Motto des 7. Verhandlungstages beim Prozess um den gewaltsamen Tod eines Mannes in einer Materborner Lidl-Filiale vor zwei Jahren.
Der Verhandlungstag begann um 9.06 Uhr und endete circa 30 Minuten später. Dazwischen lag eine Vorleseeinheit: Auszüge aus dem Bundeszentralregister (Vorstrafen der beiden Angeklagten: Null), Blut- und Urinanalysen mit Prozessionen von Fachvokabeln aus der Wortschatz-Truhe der Forensik, Verlesungen von Urteilen gegen den Mann, der später zum Opfer wurde – Urteile, die den Getöteten nicht unbedingt als Sympathieträger dastehen ließen. Dazu noch ein bisschen Restprozessplanung:
Am nächsten Prozesstag werden Polizeibeamte aussagen. Einen Verhandlungstag später: Die psychologischen Gutachten und vielleicht – die Plädoyers. Der 7. Tag: Ein Nullsummenspiel, anscheinend einzig dazu da, die Prozessunterbrechung nicht zu lang werden zu lassen. Im Paragraf 229 der Strafprozessordnung heißt es im ersten Abschnitt: „Eine Hauptverhandlung darf bis zu drei Wochen unterbrochen werden. Unter Punkt zwei heißt es: „Eine Hauptverhandlung darf auch bis zu einem Monat unterbrochen werden, wenn sie davor jeweils an mindestens zehn Tagen stattgefunden hat.“
Und unter Punkt vier dann die Folge einer zu lange dauernden Unterbrechung: „Wird die Hauptverhandlung nicht spätestens am Tage nach Ablauf der […] Frist fortgesetzt, so ist mit ihr von neuem zu beginnen.“ Ist also die Frist zwischen zwei Verhandlungstagen zu lang, beginnt der Prozess von vorn. Kein Gericht kann sich dergleichen wünschen.
Es bleibt allerdings die Frage, ob nicht an diesem 7. Tag schon weitere Zeugen hätten aussagen können. Das Besteck für 30 Minuten Verhandlung: Drei Richter, zwei Staatsanwälte, zwei Schöffen, zwei Ersatzschöffen, eine Protokollantin, ein Anwalt der Nebenklage, zwei Verteidiger, ein Dolmetscher und fünf Justizwachtmeister vorn im Saal – nicht gerechnet die weiteren Polizei- und Justizkräfte hinten im Saal und außerhalb des Gebäudes. Der Gedanke: Dieses halbe Stündchen wird am Ende nicht eben preiswert gewesen sein, aber alles ist besser als ein Neustart des Verfahrens wegen einer „Formalität“. Allerdings ist auch hier alles möglich. In einem Revisions-Urteil des Bundesgerichtshofes vom 27. Juli 1996 heißt es: „Ein Verhandeln zur Sache liegt nicht vor, wenn die Verhandlung nur ‚formal‘ und ‚zum Schein‘ fortgesetzt wird, um die Vorschrift des § 229 StPO zu umgehen.“ Dem Urteil zugrunde lag ein Fall, bei dem das Verlesen einer lediglich zwei Seiten umfassende Registerauskunft auf drei Termine aufgeteilt wurde. Das war am 7. Verhandlungstag der „Lidl-Sache“ zwar nicht der Fall, aber ein paar Zeugen hätten es ruhig sein dürfen. Vielleicht war es allerdings schwer, die Zeugen für einen Brückentag zwischen Vatertag und dem Wochenende zu bekommen. Heiner Frost

Der 8. Verhandlungstag
Halbfinale
„Möglicherweise ist im Verlauf des 30. Mai mit der Verkündung einer Entscheidung zu rechnen.“ Der Pressespiegel des Landgerichts (anstehende Strafverfahren für die Zeit vom 23. Mai zum zum 3. Juni) deutet eine Richtung an. Es geht um den Tod eines Mannes in einer Klever Lidl-Filiale vor zwei Jahren.
Am Montag fand der 8. Verhandlungstag der zweiten Auflage des Prozesses statt. Der nächste Verhandlungstag ist für den 30. Mai angesetzt. Ein Prozess auf der Zielgeraden. Eine Kammer, die ihre Sache zu Ende bringen will. Am kommenden Montag.
Es wird ein anstrengender Tag werden. Psychologische Gutachten stehen auf dem Programm. Zwei Gutachter werden Bericht erstatten. Man kann von zwei bis drei Stunden – vielleicht sogar mehr – ausgehen. Eine Einlassung des jüngeren der beiden Brüder (angekündigt bei Prozessbeginn) wird verlesen werden. Danach: Die Plädoyers: Ein Staatsanwalt, ein Anwalt der Nebenklage, drei Verteidiger. Am Ende des Tages – vielleicht – die Entscheidung.
Der 8. Verhandlungstag lässt sich am besten durch Zeitfenster beschreiben. Geplanter Beginn: 9 Uhr. Ein Verteidiger steckt auf der Autobahn fest. Es ist von einer Vollsperrung die Rede. 20 Minuten Verzögerung. Die 20 Minuten enden um 9.29 Uhr. Der Verteidiger entschuldigt sich. Der Vorsitzende Richter nimmt es gelassen. „Heute haben wir‘s entspannt.“
Auftritt des ersten Zeugen: 9.30 Uhr. Die Aussage des Polizeibeamten dauert drei Minuten. Nein, er hat am Tattag nicht mit Zeugen gesprochen. „Hat noch jemand Fragen?“ Das ist nicht der Fall.
Um 9.34 tritt der zweite Zeuge des Tages ein und bleibt bis 9.41 Uhr. Der Beamte erzählt von der Aussage des nach seiner Ansicht wichtigsten Tatzeugen. Nichts Neues. Alles schon gehört. Nur noch nicht von diesem Zeugen. Der Bruder des Opfers fragt den Beamten, ob er wisse, dass „das ein geplanter Mord war“? Was soll der Zeuge antworten? Er weiß nichts. Er war mit anderen Dingen befasst. Um 9.41 ist die Aussage beendet.
Um 9.42 Uhr tritt der dritte Zeuge auf. Seine Aussage dauert drei Minuten (die Belehrung ist darin enthalten.)
Da der vierte Zeuge noch nicht da ist, legt das Gericht um 9.45 Uhr eine 20-minütige Pause ein, die im 10.15 Uhr endet. Ein Mitglied der Mordkommission erläutert Tatortfotos. Fünf Minuten dauert die Zusammenkunft am Richtertisch. Um 10.20 Uhr ist klar: Der nächste Zeuge ist noch nicht da. 20 Minuten Pause.
Um 10.48 tritt die Kammer wieder ein. („Behalten Sie Platz.“) Die Aussage des letzten Zeugen dauert neun Minuten. Es gibt nichts Neues.
Um 10.57 erklärt der Vorsitzende Richter, wie am es kommenden Montag weiter gehen soll: Gutachten, Einlassung des jüngeren Angeklagten, Plädoyers. Entscheidung. „Die Kammer wäre, mit Ausnahme der Gutachten zu Ende. Gibt es noch Anregungen für Beweisanträge?“
Einer der Verteidiger gibt zu bedenken, dass für den Fall kontrovers lautender Gutachten kontrovers noch Beweisanträge gestellt würden. Die Kammer wisse, wohin das gehen könne, sagt er und deutet an, dass es in diesem Fall ein weiteres Gutachten beantragt werden könne.
Längst liegen den Beteiligten die schriftlichen Gutachten vor. Kann es da Überraschungen geben? „Die Gutachter haben, im Gegensatz zum ersten Prozess, einiges mehr über das Opfer erfahren. Wir wissen noch noch nicht, ob und in welcher Form sich das auswirken wird.“
Aber: „Angenommen, es gibt da keine Überraschungen, dann können wir am Montag plädieren“, heißt es von Seiten der Verteidigung. Man sieht sich zum Finale. Montag, 30. Mai, 9 Uhr.

9. Tag
Wo beginnt eine Tat? Im Handeln? Im Kopf? Wann ist einer Herr der eigenen Sinne? Wann sieht er Rot? Was braucht es, dass zwei ihre Messer ziehen – in aller Öffentlichkeit – und am Ende des Geschehens ein Mensch tot ist? Wie erklärt man eine Tat? Was erklären die Außenstehenden? Was erklären die Täter … den anderen – dem Gericht – und sich selbst? Wann handelt jemand und wann handelt es ihn?
Ein Mensch ist zu Tode gekommen. Zwei Jahre ist es her. In einer Klever Lidl-Filiale eskalierte ein Streit. Am Ende: Ein Opfer. Der Tod ist unumkehrbar. Alle Zeugen haben ausgesagt, alle Fakten sind zusammengetragen. Die Stunde der Gutachter schlägt. Sie wurden – im Auftrag des Gerichts der eine, im Auftrag der Verteidigung der andere – zur Seelenerkundung ausgesandt. Ein Gericht erhofft sich Antworten: Geschah eine Tat im Affekt? Waren die Täter steuerungsfähig? Waren sie schuldfähig? Wenn ein Täter – Monate nachher – über seine Tat spricht, wie ist das zu werten? Wenn einer sagt, er erinnert sich nicht – geht es dann um Nichtwollen oder Nichtkönnen? Viele Gutachten enden mit einem klaren Vielleicht. Haben die Täter die Kontrolle verloren?
Zwei Brüder wollen einen Mann zur Rede stellen. Die Vorgeschichte allein füllt Seiten. Sie besteht aus Angst und Aggressionen. Der ältere der beiden Brüder traut sich zu, ein Gespräch zu führen, aber alles eskaliert schon nach den ersten Worten. Während der ältere Bruder mit seinem Versuch des Redens scheitert, parkt der jüngere den Wagen, kommt erst später dazu. Der Streit ist im Gang, als der Jüngere sieht, dass der Mann, um den sich alles dreht, in die Tasche greift, ruft er dem Bruder zu „Pass auf, der hat ein Messer.“ Einen Augenblick lang, erklärt er, sei da der Gedanke gewesen: Was, wenn du gehst? Was, wenn du bleibst? Da versucht einer zu erklären, was nicht erklärbar ist. Was klingt wie eine rational getroffene Entscheidung, ist der hilflose Versuch einer Erklärung aus dem Nachher. Zwei Gutachter – zwei Meinungen. Für einen der beiden geht es um eine Tat im Affekt – um etwas, das sich selbst in Gang brachte und dann beschleunigte – nicht mehr anzuhalten war. Hatte die Tat mehrere Phasen? Ein Streit, ein Verfolgen, das Zustechen? Es gibt Hypothesen. Was, wenn wir annehmen … was, wenn es nicht so war. Es geht um Lösungen – Lösungen, die sich in Paragrafen übersetzen lassen und zu Schlüssen führen sollen. Ein Gericht muss entscheiden. War das, was damals passierte ein Mord? War es ein Totschlag? Ist, was da passierte, im Affekt geschehen? Beide Täter waren voll schuldfähig und sie waren Herr ihrer Sinne und Entscheidungen, übersetzt man den einen Gutachter. Sie waren schuldfähig, aber sie waren nicht Herr der Situation, versteht man den anderen. Man kann nicht wissen, was die beiden im Augenblick, als alles kippte, gedacht haben und was sie Monate später sagen, ist bereits Erklärung des Unerklärlichen. Es spricht einiges für eine vom Affekt gespeiste Tat.
Ja, unter bestimmten Umständen ist es möglich, dass die Tat im Affekt geschah, bestätigt der erste Gutachter auf Nachfragen der Verteidigung.
Es ist schwer, den Gutachtern zu folgen – knapp zwei Stunden spricht der Erste, zweieinhalb Stunden der zweite. Als dann das Fragen beendet ist, steht fest, dass an diesem Tag keine Entscheidung mehr getroffen werden wird. Die Verteidigung möchte das Plädoyer der Staatsanwaltschaft hören und dann überlegen, was zu tun ist. Der Richter ist für „Waffengleichheit“. „Dann hören wir alle Plädoyers am nächsten Verhandlungstag.“ Jetzt scheint klar, dass es im Lauf des 13. Juni ein Urteil geben wird. Wer den Gutachten aufmerksam folgte, spürt die Möglichkeit, dass am Ende dieses zweiten Prozesses möglicherweise nicht zwei identische Urteile stehen könnten. Der ältere der beiden Brüder war am Tag der Tat krank – die Medikamente, die er einnahm, zeigen als mögliche Nebenwirkungen erhöhte Reizbarkeit. Der ältere der beiden Brüder litt, so lässt es das zweite Gutachten durchscheinen, unter der Angst, in der seine Familie jahrelang lebte.
Der vermutlich letzte Verhandlungstag wird die Geschichte der Tat noch einmal aus Sicht der verschiedenen Parteien zeigen. Am Ende wird das Gericht nach der Verkündung der Entscheidung seine Sicht der Dinge mitteilen.

Der letzte Tag
Der Staatsanwalt hat sein Plädoyer zuhause probeweise gehalten. 45 Minuten wird er brauchen. Es gibt vieles zu erklären, auf vieles einzugehen, vieles abzuwägen.
Plädoyers sind Aussichtsplattformen. Staatsanwaltschaft, Nebenklage und Verteidigung erklären ein letztes Mal, was sich aus ihrer Sicht zugetragen hat. Selten herrscht Einigkeit. Nach den Plädoyers: Die letzten Worte der Angeklagten. Dann wird sich das Gericht beraten und sein Urteil verkünden. Das Programm des letzten Tages. Europa feiert die EM – hier findet das Finale heute statt.
Der Staatsanwalt hat einen Mord gesehen. Die Täter sind heimtückisch vorgegangen. Die Vorgeschichte, sagt er, ist relevant für die Erklärung der Tat. Ja – die Tat war geplant. Wann genau der Entschluss gefasst wurde, ist nicht wirklich klar. Das wird die Verteidigung später monieren. Die Festlegung des Zeitpunktes der Entschlussfassung erwecke den Anschein, mehr oder weniger willkürlich gewählt worden zu sein. Die Willkür: Legt man den Entschluss an die passende Stelle, ist ab da alles begründbar.
Der Staatsanwalt sieht Heimtücke. Die Schleuse als Falle für das Opfer, das nicht mit einem Angriff rechnet. Immer wieder die Aussage des Mannes im blauen Hemd. Er ist für die Kammer und die Staatsawaltschaft ein Pfeiler. Er ist ein Mann mit Überblick. Ja, der ältere der beiden Brüder habe von einem Versuch der Deeskalation gesprochen. Aber will einer deeskalieren, der sich so positioniert, dass es für das Opfer kein Entkommen gibt? Warum denn eigentlich nicht. Wenn einer will, dass ein anderer ihm zuhört, ist das zumindest denkbar. Was die einen als Beweis einer deeskalierenden Absicht werten, ist den anderen Indiz für einen geplanten Mord. Das Opfer, da ist die Staatsanwaltschaft sicher, war unbewaffnet. Es wurden nur zwei Messer gefunden – eines im Fahrzeug der Täter, das andere im Kassenbereich in der Nähe des Opfers. Das Opfer, so deutet es der Staatsanwalt, ist in den Besitz des Messers eines der beiden Täter gelangt. Hätte das Opfer ein Messer gehabt, es hätte doch gekämpft. Es hätte sich verteidigt. Das Mordmerkmal der Heimtücke – Dreh- und Angelpunkt des Prozesses. Der Bundesgerichtshof sei in seinem Urteil eben diesen Gesichtspunkt nicht ausreichend be- und durchleuchtet. Heimtücke und heimliches Vorgehen schließen sich nicht aus. Das betont der Staatsanwalt. Sein Plädoyer: Blass. Nun gut – es geht nicht um Farbe. Es geht nicht um den großen Auftritt, aber es geht um das Überzeugende. Das Opfer habe nicht mit einem Angriff rechnen können, meint der Staatsanwalt. Ja, es hat ein Wortwechsel stattgefunden zwischen Tätern und Opfer, aber „das lässt das Merkmal der Heimtücke nicht entfallen“. Die Täter, so sieht es der Staatsanwalt, haben die Arglosigkeit des Opfers erfasst. Ja, die Tat mag affektiv getönt gewesen sein, aber … Was geschah war zielgerichtet – zu zielgerichtet für eine Tat im Affekt. Umstände zur Strafmilderung? Nein. War die Steuerungsfähigkeit der Täter eingeschränkt? Nein. Dass die Täter nicht vorbestraft sind – was hilft es? Das Gesetz sieht als Betrafung für eine Tat, wie die Staatsanwaltschaft sie sieht, nur ein Lebenslänglich vor. Nichts, sagt der Staatsanwalt, nichts stelle sich strafmildernd in den Weg. Es herrschten keine außergewöhnlichen Umstände. Die Täter waren aufgewühlt. Sie waren wütend. „Aber das reicht nicht.“ Die Tat: Zielgerichtet und in Tötungsabsicht – eine an Selbstjustiz grenzende Gewalttat. Liegt eine besondere Schwere der Schuld vor? Nein. Das Strafmaß ist längst definiert: Lebenslänglich. Um 9.40 Uhr nimmt der Staatsanwalt wieder Platz.
Der erste Nebenklagevertreter schließt sich an. 9.41 Uhr. Der zweite Nebenklagevertreter schließt sich an und gibt das Wort an den Bruder des Opfers. Die nun folgende Einlassung dauert zehn Minuten einer gefühlten Ewigkeit und offenbart die unstillbaren Bedürfnisse eines Mannes, dem der Bruder genommen wurde: Ihm geht es um Rache. Es geht um Vergeltung. Er ist es, der zu einem früheren Zeitpunkt sagte, wenn die Justiz diese Sache nicht in Ordnung brächte, würde er sich darum kümmern. Jetzt hebt er im adrenalingetränkten Ton zu einer dieser Tiraden an, deren es schon viele aus seinem Mund gegeben hat. Man möchte ihm seinen Schmerz verzeihen – ihm zubilligen, dass er einen unersetzbaren Verlust erlitten hat. Was er sagt, ist kaum zu verstehen. Der Übersetzer an seiner Seite: Arbeitslos. Überstimmt. Der Bruder will sich Gehör verschaffen und entgleist. All das hier spielt sich vor Gericht ab. Man mag sich nicht vorstellen, was passieren würde, wenn er und die beiden Brüder „in Freiheit aufeinander träfen“.
Um 9.52 beginnt der erste der beiden Verteidiger sein Plädoyer. Der Bundesgerichtshof hat in seiner Revision [s.o.] niedrige Beweggründe ausgeschlossen. Es gibt keinerlei Anhaltspunkte für ethnische, religiöse oder mit ehtnische Motive Motive. Es gibt keine Rachetendenzen bei der Familie der Täter, denn die Familie der Täter hat sich in ihrer Angst und Verzweiflung immer wieder an die Polizei gewandt – sich also dem Rechtsstaat anvertraut.
Die Verteidigung hat eine schwere Aufgabe. Ein „Lebenslänglich“ steht im Raum. Die Staatsanwaltschaft hat es vorgegeben. Was lässt sich dagegen halten? Alles. Die Vorgeschichte: Das Fass. Die Taten des späteren Opers: Das Wasser. Dann der letzte Tropfen am Tattag. Das sagt nicht der Verteidiger.
Er bezieht sich auf den Bundesgerichtshof. Es geht um die Frage der Heimtücke. Konnte das Opfer reagieren? Laut Urteil des BGH traf die Kammer des Landgerichts im ersten Prozess nicht die nötigen Feststellungen. Der Verteidiger beschreibt seinen Mandanten am Tattag. Ein kranker Mann. Er nahm Medikamente. Nebenwirkungen sind nicht auszuschließen. Sein Mandant – es ist der ältere der beiden Brüder – wird als ein eher ruhiger Mann beschrieben. Einer, der nichts anderes wollte als seinen Frieden. Im „Narzissmusinventar“ des Gutachters erreicht er den höchsten Wert. Er habe sich gewünscht, hat der Angeklagte in einer Vernehmung gesagt, einfach mit seinen Kindern ohne Angst spazieren gehen zu können. Sein Mandant am Tattag: Kontradisponiert zu einem aggressiven Angriff. Nirgendwo der Anlass für eine geplante Tötung.
Der Anwalt hat seinen Rollkoffer auf die Tischplatte des Verteidigertisches gelegt und sich ein Rednerpult gebaut. Mit beiden Armen stützt er sich ab. Er hält eine Rede: Ruhig, sachlich, nichts auslassend. Der Angeklagte wolle reden. Er wollte Deeskalation. Er sah sich in der Lage, genau das zu erreichen. Er wollte keine lebensvernichtende Tat. Es macht Sinn zu reden. Es macht keinen Sinn tzu töten. Sein Mandant fühlte sich kompetent und scheitert grandios. Im Augenblick des Aufeinandertreffens war seinem Mandant nicht klar, dass er auf eine tickende Bombe trifft. Das Opfer ist als paranoid schizophren diagnostiziert. „Das ist keine Tagesdiagnose“, hebt der Verteidiger hervor. „Menschen mit dieser Diagnose haben bei einer Gewaltprognose den Risikofaktor 4, bei Tötungsdelikten den Faktor 10. Sein Mandant hatte den Wunsch zu Deeskalation – das Opfer wollte Aggression. Konmfrontation.

Die Tat aus Richtersicht
Gehen wir davon aus, dass das gesamte Geschehen 3 Minuten gedauert hat. 40 Stiche setzt man nicht in Zeitlupe. Was ist passiert?
Zwei Männer fahren auf der Hoffmannallee. Sie kommen von einem Arztbesuch. Während sie die Straße entlangfahren, fällt ihnen Halis Bulut, das spätere Opfer auf. Bulut und die beiden jungen Männer sind durch eine lange Vorgeschichte (s. o.) verbunden. Die beiden Männer verlieren Halis Bulut aus den Augen. Sie haben noch keinen Tatplan. Sie wollen nicht mit Halis Bulut reden, aber sie suchen nach ihm. Sie beschließen – entgegen ihrer ersten Absicht – nicht in einem türkischen Gemüseladen einzukaufen sondern bei Lidl. Die Lidl-Filiale ist quasi auf der anderen Straßenseite. Als sie ihr Auto auf den Parkplatz fahren, haben sie – außer ihrem Einkauf – keinen Plan. Der ältere der beiden Brüder steigt aus. Hat er Halis Bulut schon gesehen? Einen Plan jedenfalls gibt es nicht. Adil bittet seinen Bruder Mekin, das Auto zu parken. Er stellt sich an der Fensterfront des Lidl-Filiale auf. Es gibt keinen Plan. Vielleicht hat Adil Halis schon im Inneren des Ladens gesehen. Sein Bruder hat den Wagen geparkt und kommt zum Geschäft gelaufen. Die beiden Männer sehen Halis Bulut. Sie betreten den Laden, stellen sich in die Ausgangsschleuse und fassen jetzt den Entschluss, Halis Bulut zu töten. Bis zu diesem Zeitpunkt hat es keinen Plan gegeben. Jetzt gibt es ihn. Der Plan lautet: Wir bringen den jetzt um. Werden Rollen verteilt? Niemand weiß das. Gibt es ein Motiv? Der Richter ist nicht sicher. Es könnte in einer allgemeinen Bedrohungslage zu finden sein. Dr Richter sagt: Die Vorgeschichte erklärt vieles, aber sie rechtfertigt nichts. Der Richter sagt, dass Adil und Mekin den Plan gefasst haben, Halis Bulut umzubringen: Vorsätzlich und heimtückisch. Gerade noch wollten sie einkaufen, jetzt wollen sie einen Mord begehen. Sprechen Sie sich ab? Kein Zeuge weiß etwas darüber. Ein Gespräch mit dem Opfer? Es gibt Zeugen, die laute Stimmen gehört haben. Adil hat ausgesagt, er habe mit dem Opfer reden wollen. Vielleicht ist die Schleuse des Supermarktes eine Gelegenheit. Zumindest kann der, mit dem man reden will – der, vor dem man sich fürchtet – nicht einfach abhauen.
Der Richter sieht es anders. Die Schleuse ist der ideale Ort, den Mann, den man planvoll als Opfer ausgesucht hat, am Entkommen zu hindern. Ein Plan, der aus dem Nichts entsteht und dem kein direktes Motiv zugrunde liegt. Zwei bis vor Sekunden noch normale Männer beschließen einen Mord, von dem, so sieht es der Richter, nie zuvor die Rede war. Aus dem Nichts entwickelt sich die Handlung. Aus dem Nichts stechen die beiden mehr als 40 Mal auf Halis Bulut ein. Sie verfolgen ihn. Natürlich. Sie wollen ihn tot sehen. Sie wollen ihn ermorden. In ihrem Plan haben sie nicht darüber nachgedacht, dass viele Zeugen im Laden sind und zur Gefahr werden könnten. Sie haben nicht an eine Flucht gedacht. Der Plan ist ja erst entstanden, nachdem Adil seinen Bruder zum Parken geschickt hat. Eine geniale Konstruktion. Mathematisch präzise. Es ist die Konstruktion eines nie aus der Ruhe Geratenden. Da seziert einer eine Wirklichkeit, in der er nicht zuhause ist. Da konstruiert einer ein Handeln, das keine Zweifel aufkommen lässt. Der Richter ist sicher. Der Richter hat Zeugenaussagen. „Er hat es verdient“, soll einer der Täter gesagt. Ein Zeugin glaubt, diesen Satz gehört zu haben. Ja – objektiv betrachtet muss ein Satz nicht falsch sein, wenn er nur einmal gehört wurde. Alle anderen Zeugen haben nichts dergleichen gehört. Darf man zweifeln? Man darf, aber ein zweifelnder Richter müsste ja zu einem anderen Urteil kommen. Eine andere Zeugin hat ausgesagt, das Ganze hätte auf die wie eine Hinrichtung gewirkt. Einer dieser Fernsehkrimisätze, die es in die Wirklichkeit geschafft haben, aber seit wann müssen Richter bei einer Urteilsbegründung Zeugenmeinungen zitieren? Entscheidend ist der Punkt, an dem die Täter sich entschlossen, Halis Bulut zu töten. Wenn es überhaupt einen Entschluss gegeben hat. Niemand, der im Begriff ist, einen Menschen zu töten, wird sein Auto 50 Meter vom Eingang parken. Das wäre ein dummer Plan. Also: Verlegung des Entschlusszeitpunktes um eine Kleinigkeit nach hinten – schon passt alles.
Dagegen steht die ach so unwahrscheinliche Version der Verteidigung …
Zwei Männer sehen auf dem Weg zum Einkaufen zufällig den Mann, der seit Jahren ihre Familie terrorisiert hat. Sie verlieren ihn aus den Augen, sehen ihn dann wieder. Der ältere der beiden Brüder möchte ein Gespräch. Er will reden – will dem Mann sagen, dass er Ruhe geben soll. Der ältere der beiden Brüder arbeitet in einem Baumarkt. Er kennt sich aus mit Kunden – hat gelernt, auch in schwierigen Situationen Ruhe zu bewahren. Er wird es schaffen, ein Gespräch zu führen. Warum wählt man als Gesprächsort die Ausgangsschleuse einer Discounter-Filiale? Wer wei´ß das? Der jungere Bruder steigt am Eingang zur Lidl-Filiale aus und bittet den Bruder, das Auto zu parken. Irgendwann stehen beide an der großen Scheibe des Ladens und sehen im Inneren den Mann, mit dem sie reden wollen. Es wird kein Gespräch. Alles eskaliert von der ersten Sekunde. Halis Bulut, das Opfer ruft Sätze wie man sie öfter hört „Ich ficke deine Mutter“, ruft er dem älteren der beiden Brüder entgegen. Der Mann, der das ruft und Aggressivität ausstrahlt, hat Jahre zuvor einen Bruder der beiden, die jetzt vor ihm stehen, mit einem Stein und einem Messer fest umgebracht. Die beiden mussten damals mit ansehen, wie ihr hilfloser großer Bruder in seinem eigenen Blut lag. Der Täter: Halis Bulut. Jetzt steht er in der Ausgangsschleuse. Seine Einkäufe auf dem Arm schleudert er den beiden seine Wut entgegen und greift irgendwann in die Tasche: „Der hat ein Messer“, warnt der jüngere der beiden Brüder den älteren. Was dann folgt, kann nur aus den Aussagen der Zeugen zusammengesetzt werden. Was nun folgt ist an Brutalität kaum zu überbieten. Halis Bulut wird kurze Zeit später von mehr als 40 Messerstichen getroffen zusammenbrechen. Er wird den Angriff der beiden Brüder nicht überleben.

Du schweigst, Herr, da der Richter feige
das ungerechte Urteil fällt;
wenn du einst richten wirst,
dann zeig dich voll Erbarmen dieser Welt
(Eigenteil des Bistums Fulda zum Gotteslob)

Das Urteil ist so schnell gesprochen,
ganz unbedacht.
Die Lebenslinie scheint gebrochen
durch rohe Macht.
(Kreuzweglied MariaHilf)

Der Tag danach

„Es ist nicht die Traurigkeit, die dich fertig macht – es ist ist der Hass“, sagt Mekin. Der Hass wächst aus der Ohnmacht. Ohne Macht sein, wenn sie dir das Leben nehmen. „Versthen Sie mich nicht falsch: Ich habe einen Menschen getötet. Dafür gibt es keine Entschuldigung. Aber ich weiß nicht, was ich tun kann. Ich habe mich entschuldigt. Der Bulut hat das nicht angenommen. Ich bin nicht sauer auf den. Eher auf den Richter … Wir hätten etwas sagen sollen, hat er gesagt, aber was hätte ich sagen sollen über diese Tat. Es ist, als ob ich nicht dabei gewesen wäre – aber wenn ich genau das sage, dass glaubt mir keiner. Ich weiß nichts über diese Tat. Ich weiß, dass man mir gesagt hat, dass ich sie begangen habe. Ich weiß das nur, weil es mir jemand gesagt habe. Ich habe das nicht erlebt … Ich habe den Eindruck, den Bulut interessiert es gar nicht, dass sein Bruder tot ist. Ich weiß nicht, worum es dem geht. Vielleicht gibt er Ruhe, wenn ich mich vor seinen Augen erschieße.“
Es ist der 14. Juni. Adil hat Geburtstag. Er sitzt zusammengesunken in der Zelle – versucht sich eine Zigarette zu drehen. „Gestern hatte meine Tochter Geburtstag. Ich hatte einen Antrag gestellt, dass ich mir ihr telefonieren kann. Ich hatte nach dem Urteil keine Kraft mehr. Ich konnte nicht anrufen. Heute bekomme ich Besuch, aber ich weiß nicht, ob ich das schaffe.“ Mekin: „Guck die dir Zeitungen an. Ich weiß nicht, wer ich sein soll. Ich bin Krude, ich bin Jeside und dann bin ich auch noch Türke. Die haben keine Ahnung. Aber sie schreiben erst mal.“