Schreibkraft
Heiner Frost

Tage wie dieser

Man reibt sich die Augen und klappt die Kinnlade zurück in die Ausgangsposition: Das soll es jetzt gewesen sein? Nicht wirklich, oder …?

Ich bin da ganz offen

Der Tag beginnt irgendwie chaotisch. Der Saal A1 des Klever Amtsgerichts taugt in Corona-Zeiten nicht wirklich für ‚Großveranstaltungen‘. Und jetzt das: drei Verteidiger, drei Mandanten, ein Übersetzer. Gespielt wird: die Reise nach Jerusalem. „Also wenn ich mich jetzt hierhin setze und ihr Mandant dann rechts von Ihnen ….“ „Ich schiebe mal diesen Tisch …“ „Halt. Der Tisch muss da stehen bleiben. Das ist doch der Zeugentisch.“ „Und wenn die Zeugen das Stehpult nutzen …“ „Das kann nur der Vorsitzende entscheiden …“
Dingdong: Auftritt der Kammer. Richter, zwei Schöffen. „Wenn jemand unter den Bedingungen hier Bedenken haben sollte – ich bin da ganz offen“, sagt der Vorsitzende. Übersetzung: Muss alles nicht sein. Wenn einer nicht verhandeln möchte, soll er’s einfach sagen.

Wir ziehen das jetzt durch

Die Herren sind aber teils aus Berlin angereist. Da will man nicht unverrichteter Dinge abziehen. Keine Wortmeldungen also. Die Anwälte wollen zu Ende bringen, was sie mit der Reise nach Kleve begonnen haben. „In Berlin würden wir …“ Weit ist‘s zur Hauptstadt, denkt man. „Wir ziehen das jetzt also durch“, tönt es von der Richterbank. Der Ton: noch randoptimistisch. Augen zu und durch, denkt man.
Nach fünf Minuten Stühle- und Tischerücken und Belehrung der im Saal befindlichen Zeugen könnte es nun losgehen. Der Vorsitzende hat allerdings noch etwas bekanntzugeben. Ein Zeuge aus Holland, Herr P., hat über seinen Anwalt mitteilen lassen, nicht erscheinen zu wollen. „Dazu ist er auch nicht verpflichtet“, erklärt der Vorsitzende. „Wenn Sie mir früh genug gesagt hätten, dass Sie diesen Zeugen laden wollen, hätte ich leicht dafür sorgen können, dass …“, sagt einer der Verteidiger.

Hättesolltekönnte

… so beginnen Majestätsinfragestellungen. Vorsitzender und Verteidiger starten eine Diskussion darüber, wer wem zu welcher Zeit hätte sagenkönnenmüssen, was wann hätte passieren sollenkönnen. Der Saal füllt sich mit Eisigkeit und irgendwie angespitztem Tonfall. Die Verteidiger müssten sich dann, bitte, kurz beraten. Der Vorsitzende zeigt eingeschränktes Verständnis. Immerhin: Die Beratung wird erlaubt. Der Verteidiger hätte … Fahrradkette, denkt man.
„Vielleicht beginnen wir dann jetzt mit der Anklageverlesung. Herr Staatsanwalt, bitte.“ Der Staatsanwalt erhebt sich, beginnt vorzutragen – da steht der Verteidiger auf. „Ich muss da mal reingrätschen, Herr Vorsitzender. Ich verstehe den Staatsanwalt nicht. Akustisch.“ Zwischen Verteidiger und Staatsanwalt: ein gelinde gesagt mit erhöhtem Pegel sprechender Dolmetscher. (Vielleicht hört er nicht gut. Es heißt ja, dass Menschen mit einem Gehörproblem auch lauter sprechen als nötig.) Der Vorsitzende zeigt sich vom Einwand des Verteidigers demonstrativ überrascht. Man könne doch wohl annehmen, dass der Verteidiger in der Lage sei, sich auf die Stimme des Staatsanwaltes zu fokussieren. (Wo soll das hinführen?)

Nordwand

Der Vorsitzende hat immerhin „direkten akustischen Zugriff“ auf das Gesagte, während zwischen Verteidiger und Staatsanwalt die Eiger-Dolmetschwand den Aufstieg zum Verständnisgipfel zur akustischen Herausforderung macht. Der Staatsanwalt soll, bitte schön, nochmal beginnen – vielleicht noch etwas lauter sprechen. Aber: Spricht der Staatsanwalt lauter, erhöht sich auch der Übersetzungspegel. Der Übersetzer möge die Lücken nützen. Kein Parallelsprech. Längst ist die Atmosphäre giftdurchtränkt. Von beiden Seiten wird über „scharfen Ton“ gesprochen. Jeder ist sicher: die Schärfe kommt von gegenüber.
Der Staatsanwalt erzählt von zwei Männern (es sind die beiden Angeklagten gleichen Namens), die – mit einem Auto von Holland kommend – am Grenzübergang Elten im Rahmen einer Routinekontrolle angehalten und nach Drogen oder Geld (wenn es denn mehr als 10.000 Euro sein sollten) gefragt werden.

Jede Menge Kohle

Die Angehaltenen verneinen beide Fragen. Bei einer Durchsuchung des Fahrzeugs werden dann allerdings Geldbündel zutage gefördert. Das Geld – man könnte sagen: versteckt. Nach dem Zählen steht fest, dass die Angeklagten mindestens eine der Fragen mit ‚Ja‘ hätten beantworten müssen, denn 217.915 Euro sowie 21.500 Schweizer Franken liegen deutlich über dem erlaubten 10.000-er Wert.
Ein Drogenwischtest ergibt zudem, dass die Hände des Beifahrers sowie auch Teile des Geldes drogenbehaftet sind: Kokain. Ebenfalls gefunden wird ein falscher Fünfziger. Die Angehaltenen erklären, bei einem Freund in Holland zu Besuch gewesen zu sein. Den Namen können sie nicht nennen. Außerdem erklärt einer der beiden, dass der andere eine Stunde lang allein mit dem Auto unterwegs gewesen sei und er – ist es nun Herr Z. oder Herr Z. (sie heißen ja gleich) – von Geld und Drogen nichts wisse.

Nebenbetroffener

Der dritte ‚Angeklagte‘ erweist sich als „Nebenbetroffener“. Wenn man es richtig versteht, gehört ihm das Geld, um dessen Einziehung es hier gehen soll. Das Geld stamme, vermutet die Staatsanwaltschaft, aus illegalen Quellen. Ein Geldwäscheverfahren im Vorfeld dieses Prozesses scheint eingestellt worden zu sein. Der „Nebenbetroffene“: Autohändler. Auch er ist aus Berlin angereist: Nachtfahrt.
Als der Staatsanwalt mit dem Verlesen der Anklageschrift fertig ist, möchte einer der Verteidiger einen Antrag stellen. Es dauert einen Moment – die Sache muss ja schriftlich fixiert werden. Außerdem: „Hatte ich Ihnen schon das Wort erteilt?“ Nach erhaltener Sprecherlaubnis stellt der Verteidiger fest, dass die Anklage aus seiner Sicht unzulässig sei. Weit und breit kein Hinweis auf eine Straftat.

Siedepunkt

Längst ist stimmungstechnisch eine Art Siedepunkt erreicht, wenn nicht überschritten. Der Vorsitzende fragt den Verteidiger, ob er in dieser Art und Weise weiter zu verfahren gedenke. Dann ziehen sich Richter und Schöffen zur Beratung zurück. Als sie wieder auf dem Podium erscheinen, ist die Verhandlung beendet. Die Anklage, so der Vorsitzende, sei sehr wohl zulässig. Das Geld sei im Auto versteckt gewesen, an den Geldbündeln und den Fingern eines der Angeklagten seien Kokainspuren festgestellt worden.
„Herr Vorsitzender, Sie haben mir noch nicht mitgeteilt, wie Sie meinen Antrag beschieden haben.“ „Wären Sie meiner Verhandlung aufmerksam gefolgt, sollten sie mitbekommen haben, dass …“ Die Zeugen werden hereingerufen und darüber informiert, dass sie nicht mehr gebraucht werden.
„Vorhin haben Sie ja gesagt, sie könnten mehr oder weniger leicht dafür sorgen, dass der nicht erschienene Zeuge eine Aussage macht. Kümmern Sie sich darum“, sagt der Vorsitzende. Das, so der Verteidiger, habe sich auf die Zeit vor Beginn der Hauptverhandlung bezogen. Wie das jetzt aussehe … Jetzt jedenfalls ist erst mal Schluss. Man sieht sich. Demnächst.

Warum denn eigentlich nicht?

Natürlich steht einem keine Meinung zu. Andererseits: Warum denn eigentlich nicht? Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es hier und heute nicht einfach um Recht und Unrecht ging. Man hatte den Eindruck, dass mindestens auch über Feindbilder verhandelt wurde – Feindbilder, Eitelkeiten, Machtspielchen. Haupstadt gegen Provinz. Aber: Provinz findet nur im Kopf statt, denkt man. Die Juristerei, denkt man auch, sollte doch im Idealfall Verhandeln auf Augenhöhe ermöglichen – fernab von ‚Persönlichkeiten‘. Und während man es aufschreibt, spürt man: Vielleicht gibt es Ärger, wenn einer so was schreibt. Nein. Kann nicht sein. Darf nicht sein. Wird nicht sein. Diagnose: Alles stand unter einem schlechten Stern. Es gibt solche Tage.