Schreibkraft
Heiner Frost

Pustekuchen

Die Staatsanwaltschaft kann von der Verfolgung einer Tat absehen, wenn …

Manchmal ist es gut, dass keine Balken im Gerichtssaal liegen. Nach manchen Aussagen wären sie aufgrund des Verbiegungsgrades nur noch als Kaminholz zu gebrauchen.

Erpressung und Körperverletzung

Strafverhandlung gegen einen 45-Jährigen aus Goch wegen versuchter schwerer räuberischer Erpressung und gefährlicher Körperverletzung. Laut Staatsanwaltschaft soll der Angeklagte am 3. Dezember 2018 die Geschädigte, welche auf ein Sauerstoffgerät angewiesen ist, in ihrer Wohnung in Goch aufgesucht und von ihr 200 Euro verlangt haben. Dabei habe er ein Messer in der Hand gehalten und ihr gedroht, den Sauerstoffschlauch durchzuschneiden. Der aus dem Nebenraum herbeieilende Bruder der Geschädigten soll dem Angeklagten das Messer aus der Hand geschlagen haben, woraufhin dieser den Zeugen solange gewürgt habe, bis dieser bewusstlos wurde.

Diese Sache fühlt sich irgendwie krass an. Irgendwie total schräg. Als man gerade zu verstehen glaubt, worum es zu gehen scheint, ist der Prozess beendet. Der Paragraph 154 der Strafprozessordnung klärt die Gründe für die (vorläufige) Einstellung eines Verfahrens. Natürlich könnte man zitieren, aber vielleicht geht es ohne Paragraphen. Vielleicht reicht der Verstand. Die Erzählung. Das Absurde.

Durchgemacht

Das Verfahren beginnt mit Verspätung. Bei der Staatsanwaltschaft war eine falsche Anfangszeit notiert. Kann passieren. „Sie sehen blass aus“, sagt der Vorsitzende in Richtung des Angeklagten. „Ich habe die ganze Nacht durchgemacht“, sagt der und seine Verteidigerin liefert die Übersetzung: Ihr Mandant hat vor Aufregung kein Auge zugetan. Dabei ist der junge Mann kein Gerichtsnovize. Er ist Rentner. „Eigentlich sind Sie ja noch nicht im Rentenalter“, sagt der Vorsitzende. Der Angeklagte zählt Erkrankungen auf: Ein schwaches Herz hat er, dazu COPD (eine Lungenerkrankung), dazu Polyneuropathie. („Das müssen wir in der Pause mal nachschlagen“, sagt der Vorsitzende.) Außerdem: schwere depressive Verstimmungen. Der Angeklagte bekommt Methadon. Er hat sich in seinem Vorleben mit einer der gefährlichsten aller Drogen eingelassen: Heroin. Marihuana braucht er, um besser einschlafen zu können. Alkohol? „Nie.“

Umgekehrt

Die Anklage: Aus Sicht des Angeklagten unbegründet. Nicht er war der Schläger: es war der B. – sein bester Freund. Der hat ihn – den Angeklagten – angegriffen. Dann hat er sich gewehrt – den B. in den Schwitzkasten genommen. Aha, denkt man. Vor drei Minuten hat der Angeklagte erklärt, er müsse sich schon beim Aufstehen abstützen, weil er das Schwarze vor Augen sehe. Die Aussage des Angeklagten enthält – wie soll man sagen – Ungereimtheiten. Es passt nicht alles zu allem und auf Nachfragen des Staatsanwaltes findet die eine oder andere Rolle rückwärts statt. Auweia, denkt man: wenn das mal nicht ins Auge geht. Der Angeklagte hat dem besten Freund Geld geliehen und der war dann mit dem Rückzahlen säumig. Konfliktpotenzial. Seine Mutter habe ihm, sagt der Angeklagte, Teile des Geldes geliehen, dass er dann dem B. geliehen habe. Später zieht es die Mutter – sie sitzt im Gerichtssaal und wird vom Vorsitzenden vorsichtshalber mal rausgeschickt – bei ihrer Aussage vor, nicht auszusagen. Eine wirklich gute Idee, denkt man.

Der Angeklagte jedenfalls hatte ja seinerseits den besten Freund angezeigt: Alles verhält sich ja entgegengesetzt zur Anklage. Er: der Angegriffene – nicht der Angreifer. Zwischendurch immer wieder Nachfragen des Vorsitzenden zur protokollierten Aussage des Angeklagten – seinerzeit bei der Polizei. Wieder reimt sich da einiges nicht zusammen. Auch der Staatsanwalt fragt immer wieder mal nach.

„Ich kriege das nicht mehr zusammen.“

Dann: Die Schwester des besten Freundes. Sie will nichts Falsches sagen. „Ich kriege das nicht mehr zusammen.“ Das sei ja alles schon eine Weile her. Daher wolle sie nichts Falsches sagen. „Ich kriege das nicht mehr zusammen, Herr Richter.“ Ob der Angeklagte sie denn tatsächlich angegriffen habe? „Es hat den Anschein gehabt.“ (???) Da soll also einer mit dem Messer vor der Frau gestanden und gedroht haben, ihr den Sauerstoffschlauch zu durchtrennen (auch sie leidet an COPD) und sie „kriegt es nicht mehr zusammen“. „Sie haben aber seinerzeit einen Brief an die Polizei geschrieben“, sagt der Vorsitzende. „Ich zeige Ihnen den mal.“ Die Zeugin erkennt ihre Unterschrift, „aber die Handschrift – das bin ich nicht.“ „Aber wer hat dann den Brief geschrieben?“ „Das muss dann mein Bruder gewesen sein.“ „Aber der war doch auf der Toilette, als der Angeklagte sie angegriffen haben soll.“ „Wenn ich das so gesagt habe, damals, dann stimmt das.“ „Aber den Brief haben Sie nicht geschrieben?“ „Herr Richter, ich bin schon früh aus der Schule weg.“ „Sie meinen, Sie wären gar nicht in der Lage, einen solchen Brief zu schreiben.“ „Das hat wahrscheinlich mein Bruder geschrieben.“

Ihr Verräterratten

Apropos schreiben. Es gibt da eine SMS, die der Angeklagte an Zeugin geschrieben haben soll. Sie wird verlesen und lautet ungefähr so: „Ihr Verräterratten. Alles klar bei euch? Ich warte immer noch auf meine Sch…. Kohle. Zusammen 1450 Euro.“

Aufgerundet

Das sei nicht seine Sprache, gibt der Angeklagte zu bedenken. So würde er sich niemals äußern. Auch der Absender der SMS scheint irgendwie dubios. Der Vorsitzende nennt die letzten Ziffern der Absenderhandynummer. „Das ist nicht meine Nummer“, sagt der Angeklagte, der es – laut eigenem Bekunden – nicht so mit den Zahlen hat. (Eingangs der Befragung wollte der Staatsanwalt wissen, wie lange der Angeklagte schon ohne Drogen lebe. Zwei Jahre. Später stellt sich heraus: Es kann nicht so ganz stimmen. Kommentar des Angeklagten: „Ich habe das aufgerundet.“)

Verstorben

Das Originalhandy der Zeugin – das Handy also, auf dem die SMS ursprünglich ankam: leider abhanden gekommen. Irgendwie brummt einem längst der Schädel. Das Absenderhandy – oder war es das Empfängerhandy, oder waren es beide – war angemeldet auf einen Herrn X. „Diesen Herrn X. scheint es nicht zu geben“, sagt der Vorsitzende. Es gibt ihn doch. Er ist allerdings schon vor Jahren verstorben. Könnte es sein, dass der Bruder der Zeugin die SMS geschrieben hat?

Tragische Helden

Der Staatsanwalt hat Redebedarf. Er möchte eine Anregung machen. Die Zeugin müsste mal auf die Toilette. „Schaffen Sie das alleine oder soll ich Ihren Bruder reinrufen?“ „Mein Bruder muss mir helfen.“ Man könnte all das als absurdes Theater empfinden, wenn es nicht ernst wäre. In diesem Stück treten nur tragische Helden auf. Eigentlich ist das Wort ‚Helden‘ falsch. Man denkt an Thomas Bernhard: Lauter Untergeher. Die Zeugin: in einem jammervollen Zustand. Der Angeklagte: Zwischen den Wahrheiten schwankend.

Versenkt

Der Staatsanwalt regt an, das Verfahren einzustellen. (Wenn die bedrohte Zeugin nur sagen kann, es habe den Anschein gehabt, sie werde angegriffen …) Das Gericht regt eine 10-minütige Pause an. Nach 20 Minuten wird entschieden: Verfahren eingestellt. Die Kosten: Staatskasse. „Bitten wir noch einmal die beiden Zeugen herein“, sagt der Vorsitzende. Draußen warteten ja noch der beste Freund und Bruder der Zeugin und ein weiterer Herr. „Wir werden Ihre Aussagen jetzt nicht mehr brauchen“, erklärt der Vorsitzende. „Es tut uns leid, dass Sie vergebens hier waren, aber das konnten wir so nicht voraussehen. Wenn Sie Auslagen hatten …“ „Wo muss ich hin?“. fragt der beste Freund. „Das müssen Sie bitte schriftlich machen. Mit Schreiben kennen Sie sich ja aus“, sagt der Vorsitzende. Versenkt.