Schreibkraft
Heiner Frost

Opfer über Bande

Maria hat ihr Leben im Griff. Sie ist lebensfroh, selbstbestimmt, unternehmungslustig, unabhängig. Das war nicht immer so.

Mit den Jahren verschwunden

Wenn Maria aus ihrem anderen Leben erzählt, fällt es schwer, eine Verbindung herzustellen. Sie hat ihren Friedhelm mit 14 kennengelernt und mit 20 geheiratet. Schon damals war irgendwie klar, dass ihr Friedhelm ein Problem hatte. Das Problem hieß Alkohol. „Manchmal habe ich in der Rückschau den Eindruck, dass ich mir immer Menschen gesucht habe, die eine Herausforderung darstellten“, sagt Maria heute. Aber: Es soll nicht um Marias Mann gehen. Es geht um ihr Leben – um ihre Geschichte. Es ist die Geschichte einer Frau, die mit den Jahren verschwand. Es ist die Geschichte einer Frau, die einfachste Fragen nicht mehr hätte beantworten können – Fragen wie: Wie fühlst du dich? Was möchtest du? Was empfindet du? Was ist dir wichtig? Natürlich hätte sie Antworten geben können, aber es wären Antworten gewesen, die sie über ihren Mann definiert hätte.

Doppeltes Elend

Alkohol ist eine Krankheit und betroffen sind nicht nur die Erkrankten. Alkoholismus – das ist doppeltes Elend: Da ist das Elend der Erkrankten, aber da ist eben auch das Elend derjenigen, die mit ihren Partnern, Eltern, Verwandten in diesem Krater hocken, aus dem es kaum Entkommen gibt und in dem irgendwann das Gefühl für das eigene Leben verloren geht, weil die Krankheit Regie führt und den Alltag bestimmt. Angehörige von Alkoholabhängigen sind Oper „über Bande“ , deren Seelen nicht selten schwere Kratzer abbekommen. „Für die Angehörigen geht es darum, das Leben irgendwie aufrecht zu erhalten“, sagt Maria und spricht aus Erfahrung.

Wenn du genug liebst

Am Ende verschwindet das eigene Leben hinter diesem Schatten, der sich auf alles legt und alles lahm legt. „Ich habe gedacht, dass ich es schaffen kann, Friedhelm vom Alkohol wegzuholen. Ich habe gedacht: Wenn du ihn nur genug liebst, wird er den Absprung schaffen. Ich habe gedacht: Wenn du nur perfekt genug bist, wirst du ihn retten können.“ Irrglauben – zum Scheitern verurteilt. Nach zwanzig Jahren dämmerte für Maria die Erkenntnis auf: Liebe ist nicht die Rettung. Perfektion auch nicht. Längst hatten Maria und Friedhelm ein gemeinsames Kind. „Auch die Kinder werden zu Opfern“, sagt Maria. Die Krankheit verschlingt alle, die in ihre Nähe kommen.
Maria begriff irgendwann, dass es nicht so weitergehen konnte. Sie begab sich in eine psychosomatische Klinik und ging anschließend in Therapie. Maria lernte einen ihr völlig unbekannten Menschen kennen: Maria. Sie lernte, auf das eigene Innere zu hören – lernte, sich selbst zu vertrauen und sich selbst eine Bedeutung zuzumessen. Sie konnte ihrem Mann sagen: „Entweder du schaffst es, dich vom Alkohol loszusagen oder ich verlasse dich.“ Friedhelm schaffte es. Von 1993 bis zu seinem Tod vor sechs Jahren blieb er trocken.

Unterschiedliche Dinge

„Das alles hätte ich ohne die Al-Anon Familiengruppen nicht geschafft“, sagt Maria heute. „Es gibt die Anonymen Alkoholiker auf der einen Seite und es gibt die Al-Anon Familiengruppen auf der anderen Seite. Diese Trennung ist sehr wichtig. Das sind zwei unterschiedliche Dinge“, sagt Maria. „Mir haben diese Treffen geholfen und Rückhalt gegeben“, sagt sie, die längst ein neues Leben lebt. Ins Alte zurück konnte sie nicht, denn ein altes Leben hat es nicht gegeben – zumindest keines, in dem sie einen selbstbestimmten Platz gehabt hätte.
Die Al-Anon Familiengruppen sind eines nicht: Plätze, um sich Rat zu holen. „Wir treffen uns und jeder hat die Möglichkeit, seine Geschichte zu erzählen, ohne dass darüber diskutiert wird“, erklärt Maria. In den Gruppen bekommen die Angehörigen eine Stimme einerseits und andererseits sind da Menschen, die zuhören und sich auskennen in der Ausweglosigkeit, in der Trost- und Hilflosigkeit, in der Verzweiflung und im eigenen Verschwinden.

Zukunft als Schwebung

Fragt man Simone nach ihrer Zukunft, fällt das Wort von der Schwebe. Sie kann das nicht sagen. Simone ist 42. Ihr Vater ist 73. Er war alkoholkrank. Seit 33 Jahren ist er trocken. Simone war neun, als er mit dem Trinken aufhörte. Sie erinnert sich nicht an die Zeit, in der ihr Vater getrunken hat. Er war nie aggressiv. „Wenn der getrunken hatte, war er still. Er war lieb und nett.“ Simone hat immer gedacht, dass es ihr gut geht – dass sie eine gute Jugend hatte. Bis die Depressionen kamen. „Ich habe das für Burnout gehalten“, sagt sie, die als Kinderkrankenschwester arbeitet. Heute sieht sie das anders. Sie spricht von einem abhanden gekommenen Urvertrauen. „Das hat viel mit meiner Mutter zu tun.“ Die Mutter war die, die hätte helfen können. Aber die Mutter kümmerte sich darum, das Scheinleben aufrecht zu erhalten. Sie log für den Vater. Wenn sie ihn irgendwo abholen musste, blieben die Kinder allein. „Das alles ist mit erst später klar geworden“, sagt Simone.
Vertrauen? Das ist auch so eine Sache? Vor 20 Jahren hatte Simone mal eine Beziehung. Das ging nicht lange gut. Seitdem ist sie Single. „Ich bin Kontollfreak“, sagt sie „und Perfektionistin.“ Sie kann nicht loslassen – bis heute nicht. Sie kann sich nicht anvertrauen. Simones Leben ist das Leben der anderen. Solange es andere Baustellen gibt, fällt die eigene nicht auf. Simone ist ein empathischer Mensch. Ihr Lachen ist hell, offen. „Natürlich wusste ich schon lange, dass es auch Gruppen für Angehörige und Freunde von Alkoholkranken gibt. Aber ich habe gedacht, dass ich so etwas nicht brauche.“ Das funktionierte bis zum Zusammenbruch. Simones Zusammenbruch: Kein lauter Knall – eher schon die Annäherung an die Erkenntnis, dass das Leben nicht mehr funktioniert – dass sie selbst nicht mehr funktioniert. „Ich musste erst lernen, an mich selbst zu denken und herauszufinden, was mich glücklich macht oder zufrieden.“ Eine Beziehung? Ja – die hätte sie gern. Aber bis dahin ist es noch ein Stück.

Ab und zu

Spielt eigentlich Alkohol in Simones Leben eine Rolle: „Ich trinke ab und zu mal einen Cocktail. Mehr nicht.“ Die Vorstellung, aufgrund von Alkohol die Kontrolle zu verlieren, ist Simone unerträglich. „Mein Vater konnte, als er noch alkoholkrank war, nur Auto fahren, wenn er zwei Promille oder mehr ‚drin hatte‘.“
Unverzichtbare Begleiter auf Simones Weg: Die Al-Anon Familiengruppen. Dort finden sie und Maria Menschen, denen sie sich nicht lange erklären müssen. Vier Gruppen gibt es derzeit im Kreis Kleve.

 

Die Al-Anon Gruppen im Kreis Kleve

  • Kleve: Freitags, 20 Uhr, Familienbildungsstätte am Regenbogen 4.
  • Rees: Dienstags, 19.30 Uhr, Jugendheim St. Georg, Bahnhofstraße 32.
  • Kevelaer: Mittwochs, 19.30 Uhr, Petrus Canisius Haus am Luxemburger Platz 1. (Jeden 1. und 3. Mittwoch im Monat speziell für „erwachsene Kinder“ aus Familien, in denen Eltern alkoholkrank sind.
  • Geldern: Montags, 20 Uhr, Familienbildungsstätte, Bökelter Weg 11.
  • Al-Anon Familiengruppen
    Zentrale Essen, Telefonnummer 0201/773007,
  • Al-Anon im Netz: https://al-anon.de/