Flughafen Düsseldorf. Stanford Leary kommt eher underdressed daher: normal, nicht abgehoben. Er trinkt ein Wasser. Er hat 20 Minuten, dann fliegt er weiter: London, Paris, Barcelona.
Rilke?
„You know Rilke?“, fragt er. Was für eine Frage. Er zitiert eine englische Übersetzung – ein Teil aus dem Stundenbuch:
Denn, Herr, die großen Städte sind Verlorene und Aufgelöste; wie Flucht vor Flammen ist die größte, –
und ist kein Trost, dass er sie tröste, und ihre kleine Zeit verrinnt.
Was für ein Auftakt, aber: Wollten wir nicht eigentlich über Musik sprechen? Über Festivals?
Am Himmel erobern dunkle Wolken das Blau. Gewitter im Anflug. „Ist dir schon einmal aufgefallen, wie ängstlich die Menschen heutzutage sind?“ [… und ihre kleine Zeit verrint …] „Wahrscheinlich war es nie so einfach, Versicherungen zu verkaufen?“, sagt Leary. „Dazu kann ich nichts sagen. Ich bin nicht vom Fach.“ „Ich auch nicht.“
Erfahrungen
Festivals sind seine Sache. Da gehört er zu den Big Brains. Er kennt sich aus – das lässt sich kaum ausblenden bei über 35 Jahren Erfahrungen. „Die Welt ist zu einer Welt der Zahlen geworden“, sagt er. „Sie machen aus allem, was du tust, eine Gewinn- und Verlustrechnung. Die Fehler der anderen sind willkommen. Über die eigenen sprichst du besser nicht. Leute zeigen tolle Kritiken vor. Die weniger guten verschwinden in der Schublade. Dabei steckt in ihnen das eigentliche Potenzial. Da finden sich, wenn sie konstruktiv sind, deine Fehler. Da zeigen sie dir, was du besser machen kannst.“
Als Leary vor mehr als 35 Jahren ins Festivalgeschäft einstieg … falsch: Learys Anfang war nicht der Einstieg ins Große. Es war der Anfang von etwas, dessen weiterer Verlauf sich nicht vorhersagen ließ. Andererseits: Gewinner sind meist schon am Start zu erkennen. „Ich bin kein Gewinner“, sagt Leary. „Liebenswert und lebenswert“ – das ist eine seiner Thesen – „lassen sich nicht trennen.“
Understatement?
Was macht den Erfolg eines Festivals aus? „Dass du nicht über Erfolg nachdenkst.“ Okay. So kann man es auch sehen, aber ist das nicht pures Understatement? Leary hält das nicht für Understatement. Man muss an das Publikum glauben – auch das gehört zu seinen Thesen. „Natürlich kannst du ein Festival nach aktuellen Bedürfnissen maßschneidern und Erfolg haben. Ein gutes Festival ist ein Marktplatz. Du musst nicht alles kaufen, was du siehst, aber du musst das Gefühl haben, dass es eine Auswahl gibt. Und Auswahl bedeutet: ein Angebot außerhalb deines Denkens.“
Haltung
Auswahl setzt für Leary immer auch Haltung voraus. („Attidude.“) Es geht also um Haltung? Auch. „Festivals, wie ich sie denke, sind losgelöst von vordergründigen Hierarchien. Nehmen wir an, du hast fünf Bühnen und da spielen sich die Dinge simultan ab. Wer zu welcher Uhrzeit auf welcher Bühne spielt, ist am Ende gar nicht das Ding. Alle glauben immer, abends auf der Hauptbühne – das ist es. Dabei passt nicht jeder auf die Hauptbühne und ich finde es faszinierend, dass man Orte – also Bühnen – durch die Anwesenheit toller Künstler aufwerten kann. Ein Festival – das ist immer auch die Struktur. Es ist die Dramaturgie. Und: das Unerwartbare.“
Leary gehört (siehe oben) zu den Großen im Festivalbusiness. Überall wird er zitiert. Das muss Gründe haben. Festivals, das ist Learys Meinung, sind Möglichkeitsorte. Sie bringen Musiker zusammen und sie bringen ein Publikum zusammen. Und dann bringen sie Musiker und Publikum zusammen. Festivals sind Schaltstellen. Ermöglichungsorte. „Da entsteht eine Zwischenschnittmenge mit einem hohen emotionalen Potenzial. Und da entsteht, wenn ein Festival sich über Jahre enwickelt, eine Art Vertrauensbasis. Die Künstler vertrauen dem Veranstalter, das Publikum auch. Wenn es an dieser Schaltstelle funktioniert, ist das wunderbar. Dann schaust du dir das Festival, wenn es läuft, an, und merkst: Da geht was.“
VIP Lounge
Schluss mit dem Versteckspiel. Stanford Leary ist nicht Stanford Leary sondern Stefan Reichmann und die VIP Lounge am Flughafen ist die Haldern Pop Bar. Wenn einer dir erzählt, dass Haldern am Niederrhein ein Ort ist, den viele Musiker aus der ganzen Welt kennen und schätzen, ist die Bedeutung größer, als es die Menschen in der Region vielleicht sehen. Die Dinge gewinnen an Bedeutung, wenn sie an Entfernung gewinnen. Was du mit den Händen greifen kannst, ist die Wirklichkeit. Wirklichkeit lässt sich schwer mit Bedeutung aufladen. Wirklichkeit vor Ort ist selten eine Ziel-Idee. Dabei sollte es eben genau so sein.
Das Wunderbare an der nächsten Kreuzung – das ist ein bisschen so, als wärst du das Kind von einem berühmten Mensch. Was sollst du sagen, wenn sie dich nach ihm fragen? Die anderen sehen das Idol, du siehst den, der den Müll runter bringt. Mit der Nähe geht die Deckung verloren – es fehlt an Übersicht.
Aus der Ferne denken
Vielleicht muss man Haldern von Detroit aus denken, von Melbourne aus, von London, Paris, St. Petersburg. Es gibt Bands, für die ist dieser kleine Ort am Niederrhein ein großes Ziel – das Haldern Pop eines der Festivals, bei denen man gespielt haben sollte. Vor zwei Jahren war Keith Harris beim Haldern Pop. Der Mann war Manager von Stevie Wonder. Dass so einer sich Haldern ansieht, hat etwas mit der Energie zu tun, die hier zu finden ist.
Auswirkungen
„Unser Problem heute liegt oft da, dass Leute zu wenig mutig sind“, sagt Stefan Reichmann. „Alles wird ständig verglichen. Alles wird gleich in ein Ranking gepresst. Das ist eine Atmosphäre, die Experimente gefährlich macht. Aber was ist ein Experiment? Für uns geht es darum, den Leuten Musik vorzustellen. Das war von Anfang an so und ich fände es toll, wenn das auch weiterhin so bliebe.“
Haldern ist für alle, die da sind, selbsterklärend. Und was ist mit den anderen? Stefan Reichmann: „Als wir vor circa 39 Jahren eher absichtslos in dieses Abenteuer Haldern Pop gestolpert sind, dachte noch keiner an die wunderbaren Auswirkungen auf unsere Region und unser Dorf. Alle reden von Landflucht und Kulturlosigkeit in der Provinz und keiner sieht die Erfolgsgeschichte, die im internationalen Festivalgeschehen eine unglaubliche Reputation erlebt. Diese Geschichte zeugt von dem unfassbaren Potenzial der Menschen und ihrer individuellen Vielfalt.“
Ist ein Festival ein politischer Raum? Ja und nein. Niemand vergisst drei Tage lang sein Leben, seine Herkunft, seine Überzeugungen. Aber Festivals wie Haldern Pop setzen auf den kommunikativen Faktor. Unterschiedliches findet zueinander. Das schafft keine CD.
Von hier aus
„Was mir in letzter Zeit auffällt, ist, dass wir mehr und mehr Karten an einzelne Menschen verkaufen. Und auf der Bühne wächst die Zahl der Solisten“, sagt Reichmann. [ … und ist kein Trost, dass er sie tröste …] Das ist eine Beobachtung. Vielleicht müsste mal jemand ins Detail gehen. Wer Haldern erlebt, begreift, dass eigentlich niemand allein sein muss. Vielleicht klingt das fast schon eine Spur zu naiv. Ein Festival ist kein Allheilmittel, an dem die Welt genesen kann. Aber Festivals sind Angebote und ein Platz wie Haldern ist quasi ein Ort mit Familienanschluss. Eben da sieht Reichmann ein Potenzial. Er spricht vom dritten Ort. „Das ist jetzt nicht von mir, aber man spricht eben von drei Orten: der Erste ist die Familie, der Zweite die Arbeit und der Dritte ist eben der Ort, an dem außerhalb der ersten beiden Kommunikation stattfindet – an dem sich Meinungen entwickeln. Das Haldern Pop ist ein solcher Ort.