Schreibkraft
Heiner Frost

Nils Knoblich: Geschichte erzählen

Als die Mauer fiel, war Nils nicht viel mehr als ein Dreikäsehoch. Nils Knoblich, Jahrgang 1984, wurde vom Erzgebirge an den Niederrhein verpflanzt. Mehrhoog zuerst – später zog die Familie nach Haldern. Ein Katzensprung – das Zweite. Davor: Die Weiche in ein anderes Leben.


Was bleibt zurück von einer Heimat, die so früh verlassen wurde? Manchmal werden derlei Fragen erst später beantwortet. Geschichten über die Heimat hatte Nils oft gehört – von den Eltern, vom Onkel, von den Großeltern: Anekdoten am Kaffetisch, so, wie es sie in vielen Familien gibt. Dass Menschen sich aufmachen, ihre Heimat zu verlassen, ist mehr als andere eine Alltagsanekdote. Man macht nicht einfach fort. Was bleibt von einer solchen Geschichte? Wirkt ein Schmerz nach?
„Meine Eltern hatten einen Antrag auf ständige Ausreise gestellt“, erzählt Knoblich. Sie hielten es nicht mehr aus in dem Staat, der sich DDR nannte und die Bürger gängelte. Einen solchen Antrag auf Ausreise zu stellen setzte Mut voraus. Es galt, sich unbequemen Fragen zu stellen. Im Sommer des Jahres 1989 endlich die Ausreise. Im November: Der Fall der Mauer. „Meine Eltern hat das damals total geschockt“, sagt Knoblich. Plötzlich stand das Land, in das zu reisen für die Knoblichs etwas mit innerem Überleben zu tun gehabt hatte, allen offen.
Nils wuchs am Niederrhein auf, ging in Rees aufs Gymnasium und früh stand fest, dass es nach dem Abi Richtung Kunst gehen würde. Knoblich bewarb sich an mehreren Hochschulen – reichte Mappen ein und bekam mehrere Zusagen. Dass er sich am Ende für Kassel entschied, hatte nicht zuletzt damit zu tun, „dass es in Kassel sowohl eine Comic- als auch eine Trickfilmklasse gab.“
Als die Zeit gekommen war, sich über seine Abschlussarbeit Gedanken zu machen, kam irgendwann die Idee zur Graphic Novel auf: „Fortmachen“. Das Buch – eine Aufarbeitung.
„Bis dahin hatte ich mit meinen Eltern wenig über das Thema DDR und Ausreise gesprochen. Dann wurde mir klar, dass sie, als sie weggingen, ungefähr so alt waren wie ich, als ich mit der Arbeit an Fortmachen begann.“ Knoblich machte die Familie zur Hauptfigur, führte Interviews mit seinen Eltern und begann mit der Recherche, die ihn bis zu den Stasi-Akten seines Vaters und seiner Mutter führte. Die Arbeit mit Texten.
Knoblich verschriftlichte die aufgenommenen Interviews und machte sich Gedanken über Form und Reihenfolge. Die Bilder kamen erst nachher. Geschichte – erzählt aus der ersten Person Singular und trotzdem mit einer großen Portion Allgemeingültigkeit. Schnell wird klar: Geschichte ist kein Abstraktum – Geschichte ist erlebte, dokumentierte, bezeugte Zeit. Geschichte – das sind die Menschen, ist ihr Leben. Jedes Leben – ein Beitrag.
„Ich kenne ein paar Anekdoten von damals“, sagt der Ich-Erzähler, „aber um ehrlich zu sein: Ich habe keine Ahnung, wie das Leben in der DDR war.“ „Papa war zu der Zeit so alt wie du jetzt“, antwortet die Mutter. „Und was ist passiert, dass wir in ein vollkommen fremdes Land auswanderten? Ohne die Chance, jemals die Heimat wieder zu sehen?“ „Komm, wir geh‘n in den Garten. Ich erzähl‘s dir …“ Zeit für den Rücksturz ins Gewesene.
Wie haben denn die Eltern darauf reagiert, dass der Sohn die Familie zum Gegenstand einer Veröffentlichung macht? „Die haben sich total darüber gefreut“, sagt Knoblich.
Hatten die beiden eigentlich jemals an Rückkehr gedacht? „Ich habe das meinen Vater nie gefragt“, sagt Knoblich und fast wirkt es, als sei er selbst überrascht, diese Frage nie gestellt zu haben.
Was da im Gewand eines Comics daherkommt, ist weit mehr als eine unterhaltsame Geschichte. „Wir haben hier Ihren Antrag auf ständige Ausreise vorliegen. Ist Ihnen bewusst, dass Sie, einmal in der BRD angelangt, nicht mehr zurückkönnen, um Ihre Eltern zu besuchen? Wollen Sie sie im Stich lassen? Im Westen ist jeder auf sich allein gestellt, da herrscht Kapitalismus! Dem Staat ist das Wohl des Volkes egal!“, heißt es auf dem Buchrücken. Gewicht wird erahnbar, Druck spürbar. Man ahnt, dass da ein Staat das Grau in die Seelen malt und mit dem Grau das Grauen – die Unfreiheit. Die Gängelei. Nils Knoblich, das wird schnell klar, gehört nicht zu den Ostalgikern.
Wird man mit einem solchen familiären Hintergrund zum politischen Menschen? „Mit meinem Comic möchte ich zur Aufarbeitung der jungen deutsch-deutschen Geschichte beitragen.
Eine Aufarbeitung, die die verklärenden Strategien der sogenannten Ostalgie vermeidet, hat noch nicht ausreichend stattgefunden. 25 Jahren nach dem Mauerfall kann es die Aufgabe meiner Generation sein, die Geschichte aus einer anderen Perspektive zu schildern: Als eine unsentimentale Auseinandersetzung mit dem sozialistisch-geprägten Alltag in der DDR und den Methoden und Instrumenten der Zersetzung und Überwachung durch die Stasi. Das Thema Überwachung hat seit den Veröffentlichungen von Whistleblower Edward Snowden an Bedeutung gewonnen.“
Wenn Knoblich so etwas sagt, macht er nicht den Eindruck eines Menschen, der blind einem Programm folgt. Da ist einer durchdrungen von dem Gedanken, ein Stück Geschichte erlebbar zu machen und dabei hohe Kunst und Realität zusammenzubringen.
Knoblich hat derzeit einen Lehrauftrag an der Filmhochschule Ludwigsburg und lebt in Stuttgart. Neben seiner Lehrtätigkeit arbeitet er an verschiedensten Projekten. Eines davon: Ein Kurzfilm zum Thema „Überwachung“. Wer sich für Arbeiten von Knoblich interessiert, findet einen seiner Kurzfilme unter https://vimeo.com/89845894. 2013 lieferte er für das Haldern Pop Festival einen Trailer. (https://www.youtube.com/watch?v=WM9eQjpOpGM). Für das „Coma“-Album „Hooooray“ lieferte er das offizielle Video (https://www.youtube.com/watch?v=ltSdZErkj1Q.)
Wer „Fortmachen“ liest und sieht, merkt schnell, dass Nils Knoblich ohne den moralischen Zeigefinger zu Werke geht. Eben da liegt die Chance des Buches, das in der „Edition Moderne“ in einer Auflage von 1.200 Exemplaren erschienen ist. (ISBN 978-03731-164-6; Preis: 24,80 Euro.)