Man hätte erst um 11.30 Uhr erscheinen müssen. Verpasst hätte man irgendwie nichts. Was dem Angeklagten vorgeworfen wird, ließe sich dem Pressespiegel entnehmen.
Auftakt des Strafverfahrens gegen einen 24-Jährigen aus Geldern wegen versuchten Totschlags und gefährlicher Körperverletzung. Nach Darstellung der Staatsanwaltschaft kam es nach der Trennung des Angeklagten von seiner damals 20 Jahre alten Ehefrau zu Streitigkeiten, die sich immer mehr zuspitzten. Der Angeklagte soll unter anderem im Internet unter Verwendung der Personendaten seiner Ehefrau sexuelle Dienstleistungen gegen geringes Entgelt angeboten, Nacktbilder des Kindes veröffentlicht und mit Texten hinterlegt haben, aus denen hervorgegangen sein soll, dass dieses gegen Geld zur Durchführung sexueller Handlungen angeboten wird. Auch soll der Angeklagte per sms Todesdrohungen gegenüber der Frau ausgesprochen haben.
Als der Angeklagte am 8. Februar zur Mittagszeit in einem Supermarkt in Geldern auf seine Ehefrau und deren Mutter getroffen sein soll, soll er die Filiale verlassen und mit einem Messer den Hinterreifen ihres Fahrrades zerstört haben. Die Ehefrau, die das Geschehen beobachtet haben soll, soll dem sich entfernenden Angeklagten hinterhergerannt sein, um ihn zur Rede zu stellen. Nach einer kurzen Verfolgung soll sich der Angeklagte umgedreht und mit einem Messer in der Hand in Angriffshaltung auf die Frau zugegangen sein, um auf diese einzustechen. Aus Angst vor einem Angriff soll sie in Richtung des Angeklagten mit einem Tierabwehrspray gesprüht haben. Dem Angeklagten soll es gelungen sein auszuweichen. Er soll sie sodann fest ergriffen haben und ihr wuchtig in die linke Körperseite gestochen haben, um sie zu töten. Als die erheblich im Bereich der Bauchhöhle, der linken Niere und der dahinterliegenden Vene verletzte Frau zu Boden sank, soll sich der Angeklagte vom Tatort entfernt haben. Die in Lebensgefahr geratene Geschädigte konnte durch eine Notoperation – unter anderem durch Entfernung einer Niere und der Leber – gerettet werden. Der Angeklagte hat sich im Ermittlungsverfahren zum Tatvorwurf nicht geäußert. Zur Hauptverhandlung sind zahlreiche Zeugen und zwei Sachverständige geladen.
Der Prozess begann mit einem angekündigten Schweigen. Der Angeklagte wird zunächst nichts sagen. Im weiteren Prozessverlauf wird es eine Einlassung geben. Zunächst allerdings will die Verteidigung das psychiatrische Gutachten studieren. Die mittlerweile vom Angeklagten geschiedene junge Frau tritt im Prozess auch als Nebenklägerin auf. Der erste Tag brachte drei Aussagen – die es Opfers, der Mutter des Opfers und eines Gerichtsmediziners.
Man hatte sich beim Anhören der Anklageschrift gewundert. Da war die Rede von der Entfernung einer Niere und der Leber. Wie das? Man kann nicht einfach eine Leber entfernen ohne eine neue einzusetzen. In der Aussage des Opfers wurde aus der entnommenen Niere ein entfernter Wurmfortsatz. Das wurde schließlich vom Gerichtsmediziner bestätigt. Man habe, so der Arzt, bei der Notoperation eine Entzündung des Blinddarms festgestellt und dann sicherheitshalber den Wurmfortsatz entfernt.
Ein nicht mehr vorhandener Blinddarm? Kein Problem. Die Messerattacke des Angeklagten aber hatte für das Opfer den Verlust einer Niere zur Folge – nicht zu reden von den seelischen Verletzungen, mit denen die junge Frau und Mutter seit der Tat und auch weiterhin leben muss.
Und die Tat? Es geht um versuchten Totschlag und gefährliche Körperverletzung. Juristen fragen genau nach. Es geht um Abfolgen, Reihenfolgen, Kausalketten, Zusammenhänge. Was ist passiert? Der Angeklagte soll am Fahrrad des Opfers einen Reifen zerstochen haben. Gesehen hat das Opfer es nicht. Gehört hat sie es. In einer ansonsten glaubhaften Aussage ist dies ein Detail, das die Vorstellung auf eine Probe stellt. Mutter und Tochter stehen an der Bäckereitheke im Edeka Markt – da hört die Tochter das Entweichen der Luft aus dem Fahrradreifen. Man möchtezu einem Ortstermin einladen und eine Hörprpobe machen. Das Opfer jedenfalls sieht den Angeklagten, geht nach draußen, stellt ihn zur Rede: „Warum hast du das gemacht?“ Er antwortet nicht, bleibt irgendwann stehen. Sie droht ihm mit Pfefferspray. (Das hat schon bei einem ähnlichen Vorfall geholfen.) Diesmal allerdings zieht der junge Mann nicht ab – er beginnt, mit einem Messer zu fuchteln. Die junge Frau sprüht in seine Richtung, „aber der Wind hat das vorbeigetragen“. Ob ein Streitgespräch stattgefunden hat – die junge Frau kann sich nicht erinnern. Ihre Mutter sagt später, sie habe „die Wolke“ (gemeint ist das Pfefferspray) gesehen. „Es ist doch verrückt“, sagt sie, „ich kann mich genau an diese Wolke erinnern, aber nicht an den Rest.“
Irgendwann nach dem Sprayen bekommt der Angeklagte die junge Frau zu fassen und sticht ihr ein Messer „in die Flanke“. Das untere Drittel der linken Niere liegt im Zentrum des Stichkanals. Verletzt werden Nierengewebe und -vene. Die Folge: Entnahme der Niere im Rahmen einer Notoperation. Die Verletzung, sagt der Gerichtsmediziner: „Potenziell lebensbedrohend.“
Die Geschichte im Vorfeld: Zwei junge Menschen heiraten. Die Frau bringt einen Sohn mit in die Ehe, der zunächst bei den Eltern des Vaters lebt. Die Ehe der beiden junge Leute: Zunächst ohne besondere Vorkommnisse. Irgendwann – es geht unter anderem um eine nicht bezahlte Stromrechnung – bricht ein erster Streit aus. Die junge Frau äußert die Vermutung, der Angeklagte könne das Geld „verzockt“ haben. Sie weiß es nicht.
Was anfangs nach lösbaren Problemen klingt, artet später aus. Wie kann einer ein Kind bei Facebook als Objekt anbieten? Die Mutter des Opfers: „Das war ja öffentlich. Das konnte jeder sehen.“ Richter: „Ich bin nicht bei Facebook. Ich konnte das nicht sehen.“ Letztlich spielt es eine zweitrangige Rolle, wer wann was sehen konnte. Es lässt erschaudern, dass da einer ein Kind instrumentalisiert, dass ein Streit derart entgleisen kann. Mutter und Tochter sprechen mit verschwindenden Stimmen. Der Täter schweigt. Man sitzt ratlos da und wartet, wie es wohl weitergehen wird.
Zweiter Tag
Eine junge Frau trennt sich von ihrem Ehemann. Was anfangs nach einer „machbaren“ Situation aussieht, eskaliert bei einem Streit im Februar dieses Jahres. Der Mann zersticht den Hinterreifen des Rades, mit dem die junge Frau unterwegs war. Sie stellt ihn zur Rede. Er fuchtelt mit einem Messer herum, sie setzt Pfefferspray ein, er bekommt sie zu fassen, sticht zu und verletzt die junge Frau so schwer, dass ihr in einer Notoperation eine Niere entfernt werden muss.
Kürzer lässt sich das Unheil kaum beschreiben. Der zweite Verhandlungstag begann mit einer Einlassung des Angeklagten – verlesen von seiner Verteidigerin. Ein schales Leben wird enthüllt: Da hat einer seinen Vater nie kennengelernt. Die Mutter heiratet einen anderen Mann. Der junge Mann hat einen leiblichen Bruder, drei Stiefgeschwister kommen dazu.
Der junge Mann wird von seinem Bruder missbraucht und muss, so erklärt es die Einlassung, die Schwester missbrauchen, während der Bruder zuschaut. Der junge Mann entwickelt eine dissoziale Persönlichkeitsstörung. Verwundert das? Bestimmt nicht. Er beschreibt sich als jemanden, der kaum einem Menschen vertraut – dessen Vertrauen immer wieder missbraucht wird. Irgendwann trifft er das spätere Opfer. Damals ist sie kein Opfer. Sie ist seine große Liebe. Ihr lernt er, der längst eine Rundreise durch verschiedene Pflegefamilien (meist läuft es schlecht) hinter sich hat, zu vertrauen. Anfangs ist alles gut. Ein Himmel voller Geigen. Vielleicht.
„Sie war meine Familie“, liest die Verteidigerin vor. Dann entwickelt sich alles zum Schlechten und mündet in einer Trennung, die der junge Mann zunächst akzeptieren zu können glaubt – aber er schafft es nicht. Alles endet in dieser Tat im Februar. Die Einlassung: Ein Eingeständnis. „Was ich getan habe, ist unentschuldbar“, liest die Verteidigerin. Trotzdem möchte sich der junge Mann bei der Frau, die sich längst von ihm hat scheiden lassen, entschuldigen.
Es werden Zeugen vernommen. Erkenntnisse gibt es kaum. Später verliest der Vorsitzende frühere Urteile, die offenbaren, dass der junge Mann schon vorher entgleist ist: Diebstähle, Fahren ohne Führerschein.
Der Arzt, der die junge Frau operiert hat, sagt aus, dass die Niere nicht zu retten gewesen sei. „Ist es ein Problem, mit nur einer Niere zu leben?“, möchte der Vertreter der Nebenklage wissen. „Im Prinzip nicht. Aber, wenn die Niere ausfällt, haben wir natürlich ein Problem.“
Juristen machen Unkenntnis deutlich. „Ich kenne mich ja nicht aus“, entschuldigt der Vorsitzende seine Frage, ob die Niere nicht hätte gerettet werden können. Die Verteidigerin besitzt auch keine medizinischen Kenntnisse. Ob es sein könne, möchte sie wissen, dass sich ein Stichkanal beim Transport quasi durch Aufreißen vergrößere. „Unmöglich“, sagt der Arzt.
Zwischenzeitlich hat der Nebenklagevertreter einen Antrag auf Schmerzensgeld gestellt. Die Höhe des Schmerzensgeldes stellt er in das Ermessen des Gerichts. Eine Größenordnung allerdings möchte er schon andeuten. Er nennt eine Zahl. Eine Fünf – dahinter vier Nullen.
Dritter Tag
Der vorletzte Tag endet mit einem Plädoyer. Ein Staatsanwalt besichtigt ein Geschehen. Prozesse sind fortdauernde Besichtigungen aus verschiedenen Perspektiven, und natürlich ist – ganz wie im Leben außerhalb der Gerichtssäle – jede Begutachtung vom Standpunkt des Betrachters abhängig.
Der Staatsanwalt fordert acht Jahre Haft wegen gefährlicher Körperverletzung und versuchten Totschlags. Man denkt zurück …
… ein junger Mann zersticht einen Fahrradreifen. Die Frau, die er „meine große Liebe“ nennt, hat sich von ihm getrennt. Nach anfänglicher Einvernehmlichkeit entwickelt sich ein Streit. Der junge Mann veröffentlicht Nacktfotos seiner Ex-Frau und lässt durchblicken, dass sie gegen Entgelt sexuelle Handlungen ausführt. Er will, sagt er, ihr das Leben zur Hölle machen. Man muss sich kurz fassen. Der Angeklagte zersticht den Reifen eines Rades, mit dem seine Ex unterwegs ist. Sie stellt ihn zur Rede. Am Ende führt der junge Mann einen Messerstich aus, in dessen Folge die junge Frau eine Niere verliert. Die Zeit zwischen dem Stich in den Reifen und dem Stich in den Körper wird zur Kernzeit. Die Aussage der Frau: Sie bemerkt, dass er den Reifen zersticht, stellt ihn zur Rede, er fuchtelt mit einem Messer herum, sie setzt Pfefferspray ein, er sticht mit seinem Messer (Klingenlänge 5,5 Zentimeter) auf sie ein und verletzt ihre Niere.
Dem psychiatrischen Gutachter hatte der Angeklagte eine andere Version erzählt. Er zersticht den Reifen, will gehen, die Frau folgt ihm, setzt Pfefferspray ein, er sticht zu. Eine vermeintlich kleine Abweichung, die aber juristisch von großer Bedeutung ist, denn wenn die junge Frau zuerst ihn mit dem Pfefferspray angreift, könnte die Tat des jungen Mannes als Notwehr gelesen werden. Längst aber hat der Angeklagte in einer von seiner Verteidigerin verlesenen Einlassung die Version bestätigt, in der die junge Frau das Spray gegen ihn einsetzte, nachdem er mit einem Messer herumgefuchtelt hat.
Die Aussage der jungen Frau: Zumindest nicht in allen Punkten unangreifbar. Ja, sie habe das Spray eingesetzt, ihren Mann aber nicht getroffen. Der allerdings, erfährt man am vorletzten Tag aus dem Mund zweier Zeugen, war nach der Tat zur Wohnung ihm nicht bekannter Leute gegangen und hatte gebeten, sich die Augen auswaschen zu dürfen. Man habe, so die Zeugen, deutlich sehen können, dass der junge Mann nicht nur stark gerötete Augen gehabt habe – auch das Gesicht sei in Mitleidenschaft gezogen gewesen.
Ist der junge Mann krank? Waren seine Einsichts- und Steuerungsfähigkeit eingeschränkt oder gar „abgeschaltet“? Der Gutachter hat eine deutliche Antwort: Nein. Er breitet das Leben des Angeklagten aus – beschreibt dessen Persönlichkeit, hat allerlei „Seelenvermessungen“ durchgeführt und sagt am Schluss, dass der junge Mann zum Zeitpunkt der Tat voll schuldfähig gewesen sei. Der Staatsanwalt räumt ein: „Wenn der Angeklagte bei seiner ersten Version geblieben wäre, hätten wir ein Problem gehabt: Dann hätte Aussage gegen Aussage gestanden.“ Aber der Angeklagte hat ja die Richtung geändert. Er habe, sagt er, die Tat begangen und er müsse dafür gerade stehen. Eigentlich sagt er: „Man hat eine Tat begangen. Man muss dafür gerade stehen.“ Man denkt an den Gutachter. Der junge Mann, hat er erklärt, neigt dazu, Schuld zu externalisieren – sie also an andere durchzureichen. „Häufig sagt er ‚man‘, wenn er ‚ich‘ meint.“
Wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist, handelt nicht rechtswidrig. Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden. So steht es im Paragraf 32 des Strafgesetzbuches. Hätte die junge Frau ihren Ex mit dem Pfefferspray angegriffen, bevor der mit dem Messer hantierte, so hätte das Ganze vielleicht als Notwehr gesehen werden können. Das sagt der Staatsanwalt. Nun aber steht für ihn fest: Der Angeklagte hat zuerst gedroht, die junge Frau hat sich gewehrt [Notwehr ist die Verteidigung …] So entstehen eine gefährliche Körperverletzung und ein versuchter Totschlag, denn der Angeklagte, so sieht es der Staatsanwalt, ist davon ausgegangen, dass er mit dem Stich sein Opfer zu töten in der Lage war. Die Nebenklage hatte bereits am zweiten Prozesstag ein Schmerzensgeld in Höhe einer Größenordnung von 50.000 Euro beantragt. Die Staatsanwaltschaft sieht diese Forderung als „zu hoch gegriffen“ an und beantragt ein Schmerzensgeld in Höhe von 20.000 Euro.
Strafen sind ein schwer festzulegendes Maß. Das wird immer dann deutlich, wenn man ihnen eine „absurde“ Note verleiht. Was, wenn eine Freiheitsstrafe nicht nur in Jahre und Monate gefasst werden müsste – was, wenn es auch um Wochen, Tage, Stunden, Minuten und Sekunden ginge? Nein, das ist nicht das Lächerlichmachen der Justiz – aber es fordert Stellungnahme. Wie bestraft man, was da geschehen ist? Wie gleicht man geschehenes Unrecht mit einer Strafe ab? Wie beantwortet man Schuld mit Zeit? Wie berechnet man den Wert einer Niere, den Verlust der Lebensfreude, die Angst, die sich in einem Leben ausbreitet … ?
Die Tat, sagt der Staatsanwalt, war nicht von langer Hand geplant. Es ging, heißt es im Plädoyer „um ein paar Sekunden“ – um „ein Augenblicksversagen“. Wie weit kann man einem Täter in die Tat folgen? War ihm klar, dass der Stich, den er führte, den Tod des Opfers zur Folge habe konnte? Kein Affekt, hieß es im Gutachten. Keine Minderung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit.
Nach der Tat flüchtet der Täter. Später stellt er sich – er, der längst mittels eines Fahndungsplakates gesucht wird – der Polizei. „Hat eigentlich jemand einen Anspruch auf die seinerzeit ausgelobte Belohnung erhoben?“, fragt der Staatsanwalt lange vor dem Beginn seines Plädoyers und fast schmunzelt man. Was wäre denn eigentlich, wenn der Täter mit diesem Anspruch aufträte? Es wird einen Paragrafen geben, der solches verhindert, denkt man.
Finale
Der letzte Tag. Man wünscht sich kurze Plädoyers und ein frühes Urteil, damit man es rechtzeitig in die Wochenendausgabe schafft. Deadline: 13.15 Uhr. Das Milchmädchen rechnet. Beginn: 10 Uhr. Plädoyer der Nebenklage: 15 Minuten. Plädoyer der Verteidigung: 45 Minuten. Also: 11 Uhr Beginn der Beratung. Das Urteil um 12.30 Uhr. Alles würde passen. Man wünscht sich, das Hoffnung und Wirklichkeit nicht geschieden werden, aber: Vor Gericht und auf hoher See …
…Das Präludium zum Finale dauert 40 Minuten. Um 10.02 Uhr: Die Nebenklage. Es fällt das Wort von der Gewalteskalation. Das sei beim Vortrag des Staatsanwaltes zu kurz gekommen. Die Gewalt, so der Vertreter der Nebenklage, sei lange vor der Tat eskaliert. Die Folgen der Tat für seine Mandantin: Erheblich. Gravierend. Eine intakte Niere wurde entfernt. Jetzt lebt sie mit einer nachweislich vorgeschädigten Niere. Eine Schwangerschaft? Niemand kann jetzt sagen, ob das gehen wird. Eine hässliche Narbe. Kein Bikini im Schwimmbad. Die Nebenklage sieht die von der Staatsanwaltschaft geforderten acht Jahre als untere Grenze. „Es sollte eher in Richtung zehn gehen.“
11.08 Uhr. Die Verteidigung. Jetzt geht es ans Eingemachte der Rechtsprechung. Wenn einer einen Stich führt und sich dann entfernt – ist er von der Tat zurückgetreten oder ist er mit der Überzeugung gegangen, das Opfer werde sterben? Trifft die Hypothese der Verteidigung zu, ist ihr Mandant vom Versuch einer Tötung zurückgetreten.
Paragraf 24 des Strafgesetzbuches: (1) 1Wegen Versuchs wird nicht bestraft, wer freiwillig die weitere Ausführung der Tat aufgibt oder deren Vollendung verhindert. Wird die Tat ohne Zutun des Zurücktretenden nicht vollendet, so wird er straflos, wenn er sich freiwillig und ernsthaft bemüht, die Vollendung zu verhindern.
Ist der Angeklagte vom Versuch zurückgetrete? Dann bliebe eine gefährliche Körperverletzung, und natürlich sieht die Verteidigung keinerlei Bestätigungen für andere Hypothesen – keine jedenfalls, die man ohne gesunden Zweifel unterstellen dürfte. Ihr Mandant hat gefährliche Körperverletzung begangen. Er hat nie auf die Notwehrstrategie gesezt, die – der Staatswanwalt hatte das am Vortag erwähnt – eine diffuse Sachlage erzeugt hätte. Ihr Mandant hat sich gestellt, er hat zur Aufklärung beigetragen, und er hat zu keinem Zeitpunkt den Tod des Opfers gewollt.
Die Verteidigung zitiert das „Augenblicksversagen“, das der Staatsanwalt formuliert hatte. Die Verteidiung plädiert für eine Strafe von dreieinhalb Jahren. Dem Angeklagten tut unendlich leid, was er getan hat. Er wollte nie töten. „In keinster Weise.“ Es ist 10.40 Uhr. Das Urteil um 12 Uhr.
Wie viel Zweifel kanndarfmuss man haben? Wer ist möglicherweise wann von was zurückgetreten? Wenn der Angeklagte niemals töten wollte – „in keinster Weise“ – kann er dann von etwas nicht Geplantem zurücktreten? Ihr Mandant habe, sagt die Verteidigerin, die Schuld diesmal nicht bei anderen gesucht. Er wolle Verantwortung für das übernehmen, was er getan hat. Das Gericht wird eine Antwort finden. Kaum 90 Minuten bleiben für lebensverändernde Maßnahmen.
Das Urteil
Um 11.30 Uhr sieht man die Kammer den Besprechungsraum Richtung Kantine verlassen. Ein Urteil scheint gefunden. Um 12.03 Uhr betritt die Kammer den Saal. Sieben Jahr wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung. Dazu ein Schmerzensgeld in Höhe von 20.000 Euro. Der Angeklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Ja – es ging um versuchten Totschlag, begründet der Vorsitzende. Im Vorfeld der Tat hat der Angeklagte seiner damaligen Frau gedroht. Mehrfach. Auch vom Tod war die Rede. Was soll man anderes annehmen als eine Tötungsabsicht? Die Aussagen von Mutter und Tochter: Ohne jeden Zweifel glaubwürdig. Als der Angeklagte sich vom Tatort entfernte, hatte er kein Lebenszeichen vom Opfer. Er selbst hat sich so eingelassen – hat nichts davon erwähnt, ein noch lebendes Opfer zurückgelassen zu haben. Auch andere Zeugen haben sich dahingehend nicht geäußert. Kein strafbefreiender Rücktritt also.
Auch ein minderschwerer Fall kann nicht angenommen werden. Daher also: Sieben Jahre. Tat- und schuldangemessen. „Das war das Urteil.“ Dann die Belehrungen, was binnen Wochenfrist zu tun ist. Nach dem die Sitzung beendet ist, wendet sich der Vorsitzende außerhalb des Protokolls ein letztes Mal an den Angeklagten. Er solle die Chance nützen, während der Haftzeit eine Berufsausbildung zu absolvieren und an sich zu arbeiten. Alles Gute.
Draußen: Angenehme 22 Grad. Wochenende. Am Vormittag stand ein riesiger Stapel Toilettenpapier im Gerichtshof. Mittlerweile ist fast alles abtransportiert. „Brauchen Sie was?“, fragt einer der Justizwachtmeister. „Nein danke. Ich bin versorgt.“