Schreibkraft
Heiner Frost

Märchenstunde

Foto: Jörg Michel

Das Foyer der Duisburger Oper füllt sich. Die Besucher: Hand in Hand. Das hat seinen Grund. Die Fans haben Erziehungsberechtigte im Schlepptau. Das Stichwort lautet: Kinderoper, und die Frage taucht auf: Was ist Kinderoper? Da wird doch wohl nicht der Zuckowskirolf die Finger im Spiel haben? Nein. Der Abend ist zuckowskifrei. Dann kann man hin. Kinder und Oper – ja geht dann das? Heut-zu-ta-ge? Ja laufen denn die nicht lieber ins Kino und bekommen Drei-D mit Popcorndusche? Offensichtlich gibt es noch solche, die freiwillig oder mit sanfter Nachhilfe der für die familiäre Programmgestaltung zuständigen Hauptpersonen den Weg in Opernhaus finden. Es ist also noch Hoffnung.

Das Foyer der Duisburger Oper füllt sich. Die Besucher: Hand in Hand. Das hat seinen Grund. Die Fans haben Erziehungsberechtigte im Schlepptau. Das Stichwort lautet: Kinderoper, und die Frage taucht auf: Was ist Kinderoper? Da wird doch wohl nicht der Zuckowskirolf die Finger im Spiel haben? Nein. Der Abend ist zuckowskifrei.
Dann kann man hin. Kinder und Oper – ja geht dann das? Heut-zu-ta-ge? Ja laufen denn die nicht lieber ins Kino und bekommen Drei-D mit Popcorndusche? Offensichtlich gibt es noch solche, die freiwillig oder mit sanfter Nachhilfe der für die familiäre Programmgestaltung zuständigen Hauptpersonen den Weg in Opernhaus finden. Es ist also
noch Hoffnung.

Auf dem Programm: Erbsenzählen für Prinzessinnen. Das Programmheft spricht von 50 Minuten Oper. Mit anderen Worten: Märchenstunde. Vorher: Eine Einführung für Kind und Kegel durch die theaterpädagogische Abteilung, im Bedarf mit Muffin-Unterstützung. Viele haben sich schick gemacht. Kleine Prinzessinnen sind gefühlt in der Überzahl. Spannung liegt in der Luft. Statt Opernglas haben die meisten das Handy im Anschlag und simsen noch schnell, bevor das Licht ausgeht. Später gibt’s Übertitel. Jetzt wird – kurz vor Vorstellungsbeginn – um das Abschalten der
elektronischen Gerätschaften gebeten. Die Prinzessinnensuche richtet sich an Kinder ab sechs. Das macht Sinn. Da lesen sich die Übertitel geschmeidiger. Vor dem Beginn macht sich Bienenstockatmosphäre breit – die Sprachklänge sind – jugendbedingt – ins obere Register verschoben. Manche werfen noch einen Blick in den Orchestergraben.
Muttivatiomiopi erklären ein bisschen was. „Der lange Stock ist ein Fagott.“ Um kurz nach 18 Uhr erlischt das Licht im Saal.

Für junges Publikum gibt es kein Vorglühen. Das Theater muss in der ersten Sekunde zupacken und die Gäste am Schlawittchen haben. Das Orchester „overtürt“ in aller Kürze und schafft Platz für den heimlichen Star des Abends. Guido Wachter gibt den Erzähler und ist so genial wie notwendig. Wachter fackelt nicht lange und besticht das Publikum mit lupenreiner Präsenz. Mehr geht nicht. Man sollte ihn für den Oscar nominieren.

Dann nimmt die Handlung ihren Lauf. Die Abteilung „Bühne und Kostüme“ stellt Raum und Gewänder zur Verfügung, die nicht besser sein könnten. Manches ist ein bisschen abgedreht – nichts ist überdreht – kein Fast-Food fürs Auge
sondern etwas, das noch Raum lässt für eigene Bilder. Es ist wie früher bei der Puppenkiste: Das wehende Cellophan war wirklicher als jeder Ozean. Die Kleinen im Saal zeigen sich auf die Handlung konzentriert. Erste Erkenntnis: Das Auge isst nicht nur mit – hier gibt es kein Catering – es hört auch mit. Und das ist notwendig, denn die Musik ist –
wie soll man sagen – freitonal entrückt. Irgendwie abgekoppelt vom Märchenhaften. Zuckerwatte ist das nicht – ein bisschen ist es ‚Wozzeck auf der Erbse‘. Süffig geht anders. Sentimental auch. Nicht, dass die Duisburger Sinfoniker unter Christoph Altstaedt sich mit Ernst Tochs Partitur nicht größte Mühe geben und Spiellaune verbreiten, aber Töne und Märchen wollen nicht recht zueinander finden. Man versteht die Umsetzung, ahnt, wenn die Noten versuchen, lustig zu klingen oder dramatisch, aber Tochs musikalischer Dialekt wird den meisten der kleinen Zuhörer eher fremd sein. Da müsste es etwas geben zwischen Zimmermann und Zuckowski – etwas, das einen mitnimmt.
Die Inszenierung tut es. Sie kommt so leichtfüßig daher, dass es eine Freude ist. Sie setzt die Liturgie des Märchenhaften perfekt in Szene und würde sogar als Pantomime funktionieren. Gut und Böse werden von der Regie durch das Komische erweitert. Das royale Personal (König, Prinz) ist tollpatschig angelegt, die Prinzessinnen scheinen
in ihrer Affektiertheit direkt einer Casting-Show entsprungen. Trotzdem hat alles seinen Charme und deckt – für die Erwachsenen zumindest – das Doppelbödiggroteske der Unterhaltungsindustrie des 21. Jahrhundert auf, aber die Töne …
Man bewundert die Sänger, wie sie sich, vor allem im höchst diffizilen Schlussbild durch die manchmal bodenlose Vielstimmigkeit arbeiten. Immer, wenn vielleicht eine Konzentrationsdelle beim Publikum auftreten könnte, wird auf der Bühne der Erzähler ins Spiel gebracht. Der facht die Handlung an – dialogisiert mit der Souffleuse, kommentiert und bringt den dramaturgischen Höhepunkt ins Rollen: Es geht um die Beschaffung der Matratzen. Plötzlich kommen von überall Schlafunterlagen – sie kommen aus dem Zuschauerraum, wo Clownsgestalten zu Matratzentransporteuren werden, sie kommen aus dem Orchestergraben, sie kommen von allen Ecken und Enden der Bühne und werden zu einem Matratzenturm von durchaus gewagter Höhe. Dort nimmt dann die Prinzessin, untermalt von einem ausgedehnten orchestralen Intermezzo ohne Gesang ihren Platz auf der Erbse ein.

Was die Regie nun an Einfällen abspult, um den schlechten Schlaf der Prinzessin in Szene zu setzen, darf genial genannt werden. Eben hier funktioniert das Stück: Die Musik stellt einen Raum zur Verfügung, der – unbesungen – die Kulisse im allerbesten Sinn illustriert. Das Publikum sinkt halstief in eine perfekte Illusion. Es gibt kein Entrinnen. Das Theater schlägt zu und übt seinen Bann aus. Es braucht keinen Text, denn selbst die Smartphonegeneration kennt sich in der Handlung aus. Märchen haben Bestand und brauchen keine App – sie brauchen den Zauber des Theaters. Special Effects können sich in Grenzen halten, denn das Märchenkraftwerk haben die Besucher mitgebracht – es haust im eigenen Kopf und erwartet nichts als Freilassung, Entfesselung. Die 50 Minuten sind schnell verweht und eine bestmögliche Investition in die Kontamination des Publikums mit dem Theatervirus.

Am Schluss donnert der Beifall, und er ist berechtigt. Alle da vorne, ob nun sichtbar oder unsichtbar, haben ihn verdient. Was können schon Regie, Sänger, Schauspieler, Dirigent und Orchester für die Schwachstellen in der Partitur. Eigentlich sind es nicht einmal Schwachstellen. Vielleicht braucht Märchen andere Klänge. Tochs Partitur würde auch Berg-Fans Freude bereiten. Die Vorstellung aber beweist das Folgende: Es gibt ein Leben außerhalb des Kinos, des entseelten Fernsehens und vor allem außerhalb der zuckowskischen Weihnachtsbäckerei enthaupteter Töne, die in nichts als Zuckerwatte leben, und sich bei näherem Hinhören als Mogelpackung erweisen. Die Kinderopern der Deutschen Oper am Rhein, liest man im Begleittext, sind erfolgreich. Vier Produktionen hat es schon gegeben, und es
waren mehr als 50.000 Zuschauer dabei. Na bitte. Jetzt können es mehr werden. Gelegenheiten bieten sich reichlich.

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