Schreibkraft
Heiner Frost

Machmamundauf

Foto: Rüdiger Dehnen

Vielleicht beginnt man so: „Warnung! Dieser Text enthält verstörende Informationen.“ Oder: Für Eltern vielleicht nicht geeignet. Oder: Hilf mir, es selbst zu tun. Ja – so wird‘s gehen: Hilf mir, es selbst zu tun.


Nora* möchte das Herz in die Hand nehmen. Phillip lässt sich erklären, was genau der Darm eigentlich ist und Bruce schneidet mit einem Messer die Schwanzflosse ab. Nein – das hier ist kein Proseminar in Sachen Organentnahme – das hier ist die Villa Kunterbunt in Kranenburg. Zu Mittag wird es Fisch geben. Jetzt liegen Doraden auf den Tischen. Keine Filets – keine Fischstäbchen oder Nuggets, bei denen niemand erkennt, woraus die panierten Quader eigentlich gemacht sind. Die Doraden – eigens bestellt: Ungeschuppt und nicht ausgenommen liegen sie da und erregen die Neugier der Kinder, die den Fischen gleich an den Kragen, pardon: an die Schuppen, Leber Herz und Nieren gehen werden. „Leben die noch?“ Vorher mal ein Blick in den Mund. Die Gretchenfrage ist eine Fischfrage. Hat die Dorade Zähne? „Mach ma Mund auf“, wird Köchin Vanessa Wilmsen gebeten und natürlich ist nicht der Mund der Köchin gemeint, sondern der Mund der Dorade. Ergebnis: „Die kann ja beißen.“ Köchin Vanessa Wilmsen und Iris Odenthal, Leiterin der Villa Kunterbunt, erfüllen bereitwillig Mundöffnungswünsche. Dann greifen sie zum Messer. „Wer von euch möchte jetzt mal schuppen?“ Anwärter gibt es reichlich. Hilf mir, es selbst zu tun. Das Motto der Pädagogin Maria Montessori …

Foto: Rüdiger Dehnen

Montessori

Montessoripädagogik ist ein von Maria Montessori (1870 – 1952) ab 1907 entwickeltes und namentlich in Montessori-Schulen angewandtes pädagogisches Bildungskonzept, das die Zeitspanne vom Kleinkind bis zum jungen Erwachsenen abdeckt. Sie beruht auf dem Bild des Kindes als „Baumeister seines Selbst“ und verwendet deshalb zum ersten Mal die Form des offenen Unterrichts und der Freiarbeit. […] Als Grundgedanke der Montessoripädagogik gilt die Aufforderung „Hilf mir, es selbst zu tun“. Quelle: Wikipedia.

…zurück zu Kindern und Fischen. Nach dem Entschuppen kommt eine Schere zum Einsatz: Die Flossen werden abgeschnitten. Auch der Kopf. Natürlich hat keines der Kinder allein ein Messer in der Hand, aber: Flossen und Köpfe müssen runter. (Hilf mir, es selbst zu tun.)
Iris Odenthal: „Wir haben in der letzten Woche die Fische mit Kopf gebraten. Die Kinder wollten aber die Köpfe nicht in der Pfanne haben.“ Die Fische werden aber nicht nur geschuppt und enthauptet – sie müssen auch ausgenommen werden. Maria möchte das Herz mal in die Hand nehmen. Ein Knirps hält einen der abgetrennten Doradenköpfe in der Hand. „Der kommt in die Schüssel zu den anderen Teilen, die wir nicht brauchen.“
Inaugenscheinnahme des Lebens – auch wenn das hier tote Fische sind. Die Kinder finden es spannend. Seit Wochen lautet das Thema in der Villa Kunterbunt: Wasser. Im Wasser, unter Wasser – alles gehört dazu. Sogar die Fensterscheiben der Villa sind im unteren Bereich blau angemalt. Die Kinder haben Mappen angelegt. Darin findet man gezeichnete Fische. Vom eher kleinen Barsch bis zum Potwal sind die Grunddaten festgehalten. Bis zu 20 Metern kann ein Potwal lang werden und dabei bis zu 50 Tonnen wiegen. (Nur mal zum Vergleich: Ein VW Golf wiegt gerade mal bis zu 1,4 Tonnen.) Dimensionen werden ahnbar.
Beim Vorbereiten der Fische für das Mittagsmahl siegt immer die Neugier. Iris Odenthal: „Fragen Sie mal einen Erwachsenen nach dem Seitenlinienorgan.“ (Hatte das nicht was mit dem Gleichgewicht zu tun?) Nein. Es geht um den Ferntastsinn. Iris Odenthal: „Wenn tausende Fische in einem Schwarm unterwegs sind, sorgt das Seitenlinienorgan unter anderem dafür, dass sich die Fische nicht berühren. Wir erklären den Kindern immer: Wenn ihr in der Turnhalle seid, lässt es sich meist nicht vermeiden, dass ihr auch mal zusammenrasselt. Den Fischen passiert das nicht. Die Kinder finden das faszinierend.“ (Anmerkung des Verfassers: Nicht nur die Kinder.)
Zurück zum Anfang: Für die Kinder, die einen Fisch nach dem anderen schuppen, ausnehmen und enthaupten, ist das hier nichts Verstörendes. Gut möglich, dass manche von ihnen irgendwann beschließen werden, keine Tiere mehr zu essen, weil sie etwas von der Qualität der Mitwesen verstanden haben. Tiere sind – auch wenn es angesichts der Lehrstunde paradox erscheinen mag – keine Sachen. Tiere haben Fähigkeiten, von denen Menschen nur träumen können. Trotzdem liegen die Fische auf dem Tisch und werden fürs Essen vorbereitet. Es geht darum, Kindern auch begreiflich zu machen, dass Fischstäbchen nicht aus dem Nichts plötzlich in der Truhe liegen und womöglich immer schon dort waren.
Immer wieder werden Vanessa Wilmsen und Iris Odenthal gefragt: „Machen Fische Töne?“ „Wie atmen Fische? Sie sind doch unter Wasser.“ Das hier ist nicht die erste Fisch-Aktion. „Wir haben schon Schollen, Makrelen und Rotbarsche ausgenommen und Krabben gepult“, erklärt Iris Odenthal. Dass sechs Meter von der Küche entfernt – vorne im Eingangsbereich der Villa Kunterbunt – Zierfische in einem Aquarium ihre Runde drehen, scheint kein Widerspruch zu sein. Da ist dieses Nebeneinander, dass viele von den Kleinen erst später einmal als Widerspruch erleben werden. Man geht nach hause und denkt: Das hier war eine nützliche Lehrstunde. Nicht nur für die Kinder. Ein Schnitzel in der Fleischtheke – oder eingeschweißt in Folie – verdrängt den Gedanken an das Dahinter. Wenn jeder das Tier, das er essen möchte, vorher selbst töten müsste, würde der Fleischkonsum rapide zurück gehen. Wieder einmal entsteht dieses Paradox im Kopf, dass die Kinder hier nicht lösen müssen. Sie werden in – in zwei Stunden – die Fische, die sie vorbereitet haben, auf ihren Tellern finden und essen. Einmal in der Woche ist Fischtag. Und in der Villa Kunterbunt wissen sie jetzt viel mehr über das, was sie gleich essen. (Hilf mir, es selbst zu tun.) *Namen geändert

Foto: Rüdiger Dehnen