Schreibkraft
Heiner Frost

Lesung

Das Publikum trifft tropfenweise ein und hat den interessierten Blick gleich mitgebracht. Vorne, an einem Tischchen mit Flasche und Glas, sitzt einer im Anzug und versteckt die Blicke auf dem Boden, während er zählt. Vor sich auf dem Tisch: eng bedruckte Blätter und Bücher mit Lesezeichen gespickt. Ein Mensch mit wirrem Blick und viel zu schüchtern baut sich vor dem für ihn bereits zu großen Publikum auf und bedauert, dass nicht mehr gekommen sind.

Man freut sich, den Autor für eine Lesung gewonnen zu haben und erhofft sich einen unterhaltsamen Abend. Vorher noch Aussonderungen aus der Vita des Schriftstellers. Preise hier und da. Und neben dem Schreiben ein wirkliches Leben, das doch mit dem Schreiben so gar nichts zu tun hat oder haben möchte.

Neben dem Schreibertisch versprüht eine Stehlampe Atelieratmosphäre. Während der Begrüßung geraten Redner und Schreiber in Blickkontakt und lächeln sich zu. Der Dashastdugutgemachtblick. Der Schüchterne räumt das Feld für die Geschichten.

Der Schreiberblick taucht vom Boden auf und sucht das Publikum. Manche reden noch. Der Schreiber baut die Spannung auf: regungslos sitzt er da. Es wird still. Nicht still genug. Also kein Anfang, kein Lesen – Kraftprobe: das ist die erste Geschichte, aber die ist noch gar nicht geschrieben. Niemand klatscht.

Der Schreiber greift in den Blätterstapel und scheint unentschlossen. Wie er plötzlich doch zu einer anderen Geschichte greift – das ist gekonnt und wird von kaum jemandem bemerkt. Dieses letzte Umlenken bevor es losgeht verbreitet eine Aura des Spontanen. Zwei Galgen, und im letzten Augenblick entscheidet sich der Todeskandidat doch für den anderen. Die Schlinge macht einen gepflegteren Eindruck. Und mitten im ausrinnenden Leben ist das wie eine letzte Verlängerung des nicht mehr Aufzuhaltenden. Vielleicht denkt er noch darüber nach, einfach auf das Geld zu verzichten und zu gehen. Noch einmal der Blick auf das Publikum, durch das Publikum – dann die ersten Worte.

Ein Titel. Dann die Geschichte. Man geht in einen Film, dessen Inhalt man nicht kennt. Und bevor man begreift, worum es geht, läuft schon der Abspann. Der Schreiber senkt den Blick. Vorbei. Ein ruhendes Publikum. Nichts ist schlimmer als ein nicht antwortendes Publikum, das die aufgestaute Spannung schonungslos abgleiten lässt. Vorne bleibt es wieder sekundenlang still.

Der Autor greift zu einem anderen Stapel – nimmt einen Schluck aus dem Wasserglas. Der nächste Titel. Jetzt wird es lustig. Manche lachen laut. Der Schreiber liest weiter – klebt sich an die eigene Geschichte. Zur nächsten Geschichte ein Vorwort. Ansprache der noch immer fast regungslos Zuhörenden. Was soll man auch sagen?: Rührt euch?!

Dann die Preisgeschichte. Das zumindest wissen manche aus der Hörerschaft. Eine Preisgeschichte muss etwas Besonderes sein. Eine unheilvolle Geschichte – gelesen von einem regungslosen Poeten im Anzug. Am Nebentisch sagt eine: chic ist er ja. Und irgendwie süß.

Nach der Preisgeschichte greift der Schreiber zu einem der bereitliegenden Bücher – einem kleinengrauen mit lauter Lesezeichen. Das schafft Respekt. Da liest einer aus einem Buch. Vergessen die Geschichten davor – Geschichten von eng bedruckten Blättern gelesen. Blätter – das bedeutet Wertlosigkeit. Das hat niemand gedruckt. Das hat niemand haben wollen. Ein Buch ist da ganz etwas anderes. Das zieht die Blicke in die Geschichte. Und beim Griff zum Buch bemerkt das Publikum erst: da liegen noch andere Bücher. Die Wichtigkeit des Lesenden steigt mit jedem daliegenden Buch. Aber es dürfen eben nicht nur Bücher sein – das wäre eine Inflation der Wichtigkeit.

Erst die Blättergeschichten – dann ein Buch. Eins nur. Die anderen sieht man, aber sie bleiben unberührt. Nach dem einem Buch wollen sie alle wieder die Blätter und werden denken, daß, was sie jetzt hören, etwas Einmaliges ist. Etwas, das die anderen, die nicht hier sind, nicht kennen. Ohne dieses eine Buch wären alle Blätter nur etwas Belangloses. Nach diesem Buch steigt der Blätterwert. Es reicht nicht, dass einer sich hinsetzt und liest. Eine Dramaturgie muss sein. Ohne Dramaturgie keine Aufmerksamkeit, es sei denn, dass einer die Berühmtheit schon mitgebracht hat.

Nachdem er das Buch benutzt hat, bemerken die plötzlich den Anzug. Jetzt erst wird aus dem Sitzenden eine Erscheinung. Eine Geschichte aus Sri Lanka. Nebenan sagte eine: Der ist bestimmt da gewesen. Ohne das Buch hätte sie gedacht, die Geschichte sei frei erfunden. Jetzt wird aus der Erfindung etwas Authentisches – aus dem Lesenden ein Mensch. Nach einer Dreiviertelstunde kommt es zur letzten Geschichte. Am Ende schweigt der Autor. Der Scheue erhebt sich und versucht, dem Publikum Leben einzuhauchen. Man kann jetzt Fragen an den Autor stellen. Es bleibt still. Keine Fragen. Der Mann am Tisch räumt die Utensilien zusammen und lächelt. Das Publikum tritt ab.