Jeder Sprung setzt eine vorherige Bodenhaftung voraus. So ist auch der Komponist aktiv wie passiv in ein Kontinuum eingebunden, aus dem er seine musikalischen Ideen bezieht. Eine Komposition ist also weniger der Versuch, das absolut Neue zu setzen, als vielmehr der Ausdruck einer jeweils subjektiven Auffassung des Bestehenden und Gegenwärtigen. Der Sprung liegt daher nicht in der willentlichen Überschreitung einer Grenze, sondern in der Ermöglichung des Wunderbaren, dem die Kunst ihren Schwebezustand verdankt.
Das Denken in großen Zusammenhängen macht mir Angst. Wenn ich komponiere, führe ich Selbstgespräche – wenn ich über Musik schreiben soll, unterhalte ich mich mit der Welt. In der Kunst ist Objektivität nur durch ein Höchstmaß an Subjektivität erreichbar. Jedes Verständnis von Kunst setzt ein Mitgefühl (das kommt ja von Mit-Fühlen) voraus, eine Art von synchronisationsfähigem Empfinden. Das Benutzen des Wortes Verständnis im Zusammenhang mit dem Thema Kunst (auch so ein Unwort) stellt an sich schon einen Straftatbestand dar. Ich ersetze es also durch das Wort Auffassung und begebe mich damit auf sicheres Terrain. Es liegt mir nicht, allgemeinverbindliche Erkenntnisse zu publizieren. Wahrscheinlich bin ich eben aus diesem Grund nicht Wissenschaftler geworden. Das allerdings beruht nicht auf dem Ergebnis einer freien Wahl, sondern auf der schlichten Einsicht, daß ich zu nichts anderem in der Lage bin, als eine seelische Giftspritze aufzuziehen, die ich dann der Welt (also dem mich direkt Umgebenden) injiziere.
Mozart zum Beispiel: Die Musikgeschichte könnte für mich durchaus ohne ihn stattgefunden haben. Nichts würde mir fehlen. Und doch bin ich der festen Überzeugung, daß ich wohl anders komponieren würde, wenn es Mozart nicht gegeben hätte (und natürlich auch keinen, der unter anderem Namen sein Vokabular entwickelt hätte). Mozart ist ein Teil meines passiven Wortschatzes und somit Teil eines weltgeistigen Eigentums. Wäre Mozart eine Stadt, sie wäre längst zum Weltkulturerbe gemacht und somit quasi unter Denkmalschutz gestellt worden.
Ich wollte immer Komponist werden. Eigentlich sollte ich schreiben: Ich musste immer Komponist werden, denn ich hatte ja keine Wahl. Allerdings habe ich zunächst Gitarre studiert. Schon während der ersten Semester quälte ich meinen Theorieprofessor (er hieß Bach und war einer meiner besten Lehrer) mit Kompositionsversuchen – so lange, bis er mich an den zuständigen Kompositionsprofessor verwies. Als ich dem Bach eines Tages ein Stück für Querflöte (das war in den Endsiebzigern durchaus modern) zeigte, kommentierte er es bei der Rückgabe mit den Worten: „Es wirkt streng zwölftönig.“ Ich nickte heftig zustimmend mit dem Kopf, ging nach Hause und habe erst einmal herauszufinden versucht, was ’streng zwölftönig‘ bedeutet. Ein Beispiel für den passiven Wortschatz. Ich hatte etwas geschrieben, von dem ich nicht einmal wusste, dass es zwölftönig war. Auch in der Kunst gibt es also, ganz wie im pawlow’schen Leben eine Art der Konditionierung, die man auch Dressur nennen könnte.
Und die ausschließlich von der Intuition geleiteten Menschen können nicht die Geduld aufbringen, bis zu den ersten Prinzipien des rein Begrifflichen und Abstrakten vorzudringen, das sie in der Welt niemals erfahren haben und das dort anders als üblich ist. [1. Blaise Pascal: Logik des Herzens – Deutscher Taschenbuchverlag 1982 – Übersetzung: Fritz Paepcke]
Ich frage mich seither, ob es mir jemals auffallen würde, wenn ich meinen aktiven/passiven Wortschatz verlassen und etwas Neues schreiben würde? Was ich weiß, ist: Seit ich die Mühlen des Studiums der Komposition verlassen habe (seit sie mich also ausspuckten), befällt mich, wann immer ich etwas komponieren möchte, das auf einem tonalen Zusammenhang basiert (und also im landläufigen Sinne „schön“ sein könnte), ein permanentschlechtes Gewissen. Ich spüre dann dieses aufsteigende Fragezeichen – fühle mich als Verräter, Nichtsnutz, Nachsager, Ausgestoßener. Ich wurde als Linkshänder geboren, was damals – in den Endfünfzigern – noch nicht geduldet werden konnte. Wenn ich einen Stift in die linke Hand nahm, sagte immer irgendjemand: pfuidastutmannicht. Heute komponiert man nicht mehr tonal: pfuidastutmannicht! Tonalität ist gewissermaßen politisch unkorrekt, und ein Kommentar wie etwa „dasistaberschön“ ist für viele Komponisten längst vom Lob zur Beleidigung geworden.
Dass alles der Zeit verfallen ist, das ist sicher jene Bedingung der Wirklichkeit, der er am empfindlichsten ausgesetzt. [2. Martin Walser: Liebeserklärungen – Suhrkamp 1983]
Um die Wahrheit zu sagen: ich wäre ziemlich in Verlegenheit, wenn ich Ihnen in der Geschichte der Künste ein einziges Faktum nennen sollte, das man als revolutionär bezeichnen könnte. Die Kunst ist ihrem Wesen nach konstruktiv, Revolution bedeutet Bruch mit dem Gleichgewicht. Wer Revolution sagt, sagt vorläufiges Chaos. Wenn sie sich dem Chaos ausliefert, sieht sie sich unverzüglich in ihren lebendigen Werken, ja selbst in ihrer Existenz bedroht.[3. Igor Strawinsky: Musikalische Poetik – B. Schott“s Söhne, Mainz 1949]
Wenn ich komponiere, verschwende ich keine Zeit – ich verarbeite sie. Zeitverschwendung aber würde bedeuten, mich hinzusetzen und darüber nachzudenken: was war schon da – und was könnte ich demzufolge Neues schaffen – ein Gedanke, der so entsetzlich lächerlich ist, dass jegliche Beschäftigung mit ihm wirklich eine Verschwendung von Lebenszeit bedeuten würde. Einen Aufstand anzuzetteln, wie er nach (und während) der Uraufführung des Sacre losbrach – das könnte heute bestenfalls einer erreichen, der in Donaueschingen eine Etude in fis-moll zur Uraufführung brächte und damit die Wächter des selbstgewählten Ghettos der Ästhetik des 20. Jahrhunderts in Verlegenheit brächte. Nein, nicht in Verlegenheit brächte es sie, ausspucken würden sie vor dem Versuch des Rückschritts. Heute noch etwas Neues zu schaffen, mag man denken, ist ziemlich schwer. Es gab doch schon alles. Man vergisst dabei leicht, dass sich auch Bach nicht anders gefühlt haben wird. Er konnte – genauso wie irgendjemand heute – schließlich auch nur bis zum Tellerrand sehen. Und der Bach-Teller war nicht weniger gefüllt. Würde ich auf dem Ideenteller einen freien Platz sehen, dann wäre (und das nicht nur in der Musik) die Zukunft zum Teil der Gegenwart geworden und hätte somit ihre Bedeutung verloren.
Die Kunst des objektiven Künstlers ist nicht unpersönlich, sondern überpersönlich. Es ist, als hätte er nur den einen Drang, alles, was er vorfindet, in einer einzigartigen Vollkommenheit noch einmal und definitiv darzustellen. Nicht er lebt, sondern der Geist der Zeit lebt in ihm. Alles künstlerische Suchen, Wollen, Schaffen, Sehnen und Irren vergangener und gegenwärtiger Generationen ist in ihm zusammengefaßt und wirkt sich in ihm aus. […] So ist Bach ein Ende. Es geht nichts von ihm aus; alles führt nur auf ihn hin. [4. Albert Schweitzer: Johann Sebastian Bach – Breitkopf & Härtl Wiesbaden – 11. Auflage 1990]
Ein Komponist, der kürzlich in seiner Abschlussarbeit von einer Komposition von Boulez als einem Auschwitz der Musikgeschichte sprach, soll immerhin einigen Ärger bekommen haben. Den Ärger machten die selbsternannten Wächter einer musikalisch korrekten Fortschreitung (allesamt selber Komponisten), die doch ihrerseits nichts anderes tun als ein Ghetto zu errichten und seine Grenzen argwöhnisch zu bewachen. Sie tun dies – und genau da kommt die Doppelbödigkeit ins Spiel – sie tun dies als sich berufen fühlende Schiedskomission – allgemeinverbindlich also, denn „man schreibt“ heutzutage nicht mehr in Dur oder Moll.
Unnötige Übertreibung verdirbt jede Materie und alle Formen, denen sie sich aufdrängt. In ihrer Hast stumpft sie die köstlichsten Neuheiten ab; gleichzeitig korrumpiert sie den Geschmack ihrer Anbeter und dadurch erklärt sich, dass dieser Geschmack ohne Übergang von den tollsten Komplizierungen zu den elendesten Banalitäten springt. Ein musikalischer Komplex mag noch so provokant sein – er ist in dem Maße rechtmäßig, wie er sich als authentisch erweist. Um aber die authentischen Werte von den künstlerischen Exzessen zu unterscheiden, muss man mit einem Spürsinn begabt sein, den unsere Snobs um so mehr hassen, als er ihnen selber abgeht. Unsere avantgardistischen Eliten, die sich dauernd überbieten wollen, erwarten und fordern von der Musik, dass sie ihren Hang nach absurden Kakophonien befriedige. [5. Igor Strawinsky – Musikalische Poetik]
In den meisten Romanen weiß man ja ganz genau, wie die Hauptpersonen aussehen und wie sie sind, weil sie meistens schon am Anfang sorgfältig beschrieben werden, innen und außen, weil man auch bald merkt, welches Instrument sie in dem Konzept dieses Romans zu spielen haben. Sind die Züge der Personen einmal gegeben, so repetieren die Autoren die Charakteristika im Laufe ihrer Erzählung fast mechanisch. Der Eindruck, man könne sich die Personen nicht ohne weiteres ins Gedächtnis zurückrufen, entsteht wahrscheinlich dadurch, dass der Autor nie aufhört, sie zu charakterisieren. Eigentlich handeln diese Personen ja nie, sondern sie sehen nur immer wieder anders aus. Sie erscheinen dem Erzähler jedesmal, wenn er ihnen wieder begegnet, wieder anders, denn inzwischen ist er wieder ein anderer geworden, und die Personen sind ebenso der Zeit Unterworfene, also in stetiger Veränderung befindliche Wesen. Da sich nun der Beobachter, der Erzähler, dauernd im Wandel befindet, und ebenso das Beobachtete, wie sollten daraus eindeutige und leicht dem Gedächtnis anzuvertrauende Personen entstehen? Proust ist so empfindlich für die Wirkungen der Zeit, dass er selbst, als die Hauptperson, genauso wie alle anderen Personen, andauernd in Gefahr ist, seine Identität zu verlieren. [6. Martin Walser: Liebeserklärungen, Suhrkamp]
Ich jedenfalls kann die Zeit nicht abstreifen und sehe auch nur bis zum Tellerrand. Gibt man mir heute 12 Töne, werde ich etwas anderes damit machen, als ich es morgen tun würde oder gestern getan hätte – und doch werde ich am Ende immer dasselbe mit ihnen tun: ich werde sie verarbeiten. Das Ergebnis aber kann ich nur marginal beeinflussen, denn – gottseidank – bin ich nur ein Opfer meiner eigenen Willkür. Mit Sicherheit habe ich nie und werde nie zu den Neumachern gezählt werden. Meine Aufgabe – die Betrachtung des Sprungs – ist also in jeder erdenklichen Hinsicht unlösbar: Über die anderen kann ich nichts sagen, da ich sie nicht verstehe, sondern auffasse. Ich tauge nicht zum Visionär, aber als Pragmatiker bin ich schon gar nicht zu gebrauchen. Und: Es fehlen mir für jegliches Denken die genormten Instrumente. Bestenfalls kann ich Urteile fällen – Vorurteile und Nachurteile. Wenn ich über etwas wie den Begriff Musikgeschichte nachdenke, kann ich keine Sprünge ausmachen – ich stehe vor einem in Bewegung befindlichen Kontinuum, in dessen Verlauf mir alles und jedes logisch erscheint. Ich vertrete sogar die Auffassung, dass gleich nach Bach auch Debussy hätte kommen können. Leider bin ich aber weder in der Lage, eben das zu beweisen, noch könnte ich erklären, warum die Geschichte den uns bekannten Verlauf genommen hat.
Ich glaube auch, dass die Schere zwischen den Machern und ihrem Publikum nie so weit geöffnet war wie sie es derzeit ist. Nie – so mein Eindruck – war die Begründung des Komponierens in einem derart ungesunden Maß wichtiger als das Komponieren selber. Wir reden über Pläne und haben verlernt, ein Ergebnis zu genießen. Eine immer größer werdende Zahl von Experten für immer kleiner werdende Spezialgebiete erklären uns die Welt. Wir erklären das Leben, um es nicht leben zu müssen. Wir erklären das Komponieren, um es nicht ausführen zu müssen. Wir denken über das Gedachte nach, weil das einfacher ist, als eigenes zu denken, ob es nun alt ist oder neu. Es wird also darüber nachgedacht, ob ein Gedanke – eine Tonfolge – neu und demnach epochemachend ist, was immerhin der sicherste Weg ins Verstummen ist. Alles passive Wissen soll in den aktiven Zustand überführt werden, ohne dass jemand merken würde, dass – bezogen auf die Kunst – alles aktive Wissen nichts anderes ist als eine Lebendigkeitsverhinderung. Die Diskussion über die Seinsberechtigung von Geschaffenem ist nichts anderes als ein Zeitvertreib für Wissenschaftswahlbeamten. Die Lücke zwischen der Wissenschaft und der Kunst entsteht durch den Widerspruch ihrer Arbeitsmaterialien. Während die Wissenschaft sich bis zum Platzen mit dem aktiven Wissen vollstopfen muss, existiert die Kunst erst nach der Vernichtung aller wissenden Aktiva. Ich kann nicht komponieren, nachdem ich Mahlers Harmonielehre gelesen habe, weil ich nur noch an Ge- und Verbote denke. Ich kann aber sehr wohl komponieren, nachdem ich sechs Stunden Bach angehört habe. Das Hören reizt zum Widerspruch in Tönen oder zur Nachahmung. Das Wissen reizt mich zu gar nichts.
Wer sich offenhält für das Leben, ja, man kann es nicht anders sagen als mit diesem etwas großen Wort, wer sich dafür offenhält, wer nicht die Gewohnheit zur zweiten Natur werden lässt, die einen hindert, das erste zu entdecken, der wird und wird nicht damit fertig, das, was die Konvention immer für das gleiche hält, immer wieder neu zu benennen, neu zu erzählen; denn die Gleichgültigkeit gibt es eigentlich gar nicht in einem Leben, das in der Zeit verläuft, Gleichgültigkeit entsteht aus der Übereinkunft, dass sich etwas wiederhole auf der Welt; aber wer genau hinschaut, der weiß, dass keine Wiederholung mit dem gleichen Namen zu benennen ist, mit dem gleichen Satz auszudrücken ist. In der gleichen Abstraktion vielleicht, in der Logik mag es Gleichgültigkeit geben, oder in der Mathematik, in der Wirklichkeit gibt es sie nur als eine Mangelerscheinung, als das Resultat einer allmählichen Schrumpfung des Bewusstseins, als eine im Verfall begriffene Empfindlichkeit. [….] In der Bewertung der Haltung „Gleichgültigkeit“ drückt die Sprache aus, dass es sich hier um einen Zustand handelt, den es nur zu Unrecht gibt, nur in Unwahrheit; denn dadurch, dass jemand so tut, als wären ihm mehrere Dinge gleichgültig, irrt er, weil es niemals zwei wirkliche Dinge geben kann, die einem Menschen gleich gelten; und diesen Irrtum der Gleichgültigkeit versieht der genau abwertende Geist der Sprache mit einer Ausdehnung; um dieser Ausdehnung willen hat die Sprache dieses gewissermaßen künstliche Wort hervorgebracht, künstlich, weil ihm eigentlich nichts entspricht, nichts, außer jener Kümmerform menschlichen Bewusstseins, zu deren Ahnung eben dieses Wort entstanden ist. [7. Martin Walser: Liebeserklärungen, Suhrkamp]
Alles Denken, Auffassen oder Empfinden, bezeichne ich als Fortschritt und widerspreche damit dem aktiven Wortsinn, der uns glauben macht, es handele sich beim Fortschritt um eine Bewegung nach vorne. Ein intuitives Bewusstsein kann einen Fortschritt auch durch Anhalten erreichen. Sogar eine Rückwärtsbewegung kann unter Umständen notwendiger Bestandteil eines Fortschritts sein. Es wird kaum einen Komponisten, Schriftsteller, Maler usw. geben, der nicht ohne das Nachahmen großer Vorbilder zur eigentlichen Sprache gefunden hätte. Natürlich kann es im Normalfall nicht als Kunst gelten, eine Bachfuge abzuschreiben. Nichtsdestoweniger kann es dem Fortschritt eines Individuums dienen. Wie ist es – um bei der Bachfuge zu bleiben – mit dem Spielen? Ein Komponist spielt eine Bachfuge am Klavier. Keine Kunst. Ein Komponist spielt zwei Bachfugen am Computer ein, lässt sie danach gleichzeitig ablaufen und deklariert das Ergebnis zum Kunstwerk. Was dann? Wie aber verhält es sich mit der Idee, die Fugen parallel ablaufen zu lassen? Vielleicht handelt es sich nicht einmal um eine Idee, sondern um den blanken Zufall. Das interessiert am Ende niemanden (mehr). Was zählt ist die Entscheidung, die Erkenntnis, dass es möglich ist. In diesem Fall allerdings ist die aktive Erkenntnis von Bedeutung. Eben die aktive Erkenntnis führt zu einer Entscheidung: dem gleichzeitigen Abspielen beider Fugen. Im Nachhinein wird es viele geben, die behaupten, das auch zu können und damit in gewissem Umfang sogar im Recht sind. Bei ihnen handelt es sich allerdings um eine passive Erkenntnis. Die Fugen wieder auseinanderzudividieren und das Ergebnis dann zum Kunstwerk zu deklarieren, müsste allerdings als übertrieben gewertet werden. Die einzelnen Elemente waren schließlich bereits vorher vorhanden. Wie aber verhält es sich, wenn ein Zweiter zwei andere Fugen nimmt und sie gleichzeitig abspielt? Wir würden ihn als Plagiator bezeichnen. Was aber, wenn er vom Experiment des Ersten gar nichts gewusst hat? Pech für ihn, wenn sich nachweisen ließe, dass er der Zweite gewesen ist. So viel – am Rande – zur Gerechtigkeit beim Zuweisen von Verdiensten.
Und noch etwas: Was, wenn ein Kunstliebhaber, der einen vermeintlich echten – sagen wir – van Gogh sein Eigen zu nennen glaubte, plötzlich erführe, dass eben das Bild, vor das er Hunderte von Bekannten in Ehrfurcht führte, nichts als eine Fälschung ist? Er würde seine Achtung vor dem Bild wahrscheinlich schnell verlieren. Warum? Es sieht schließlich dem Original bis auf letzte Tüpfelchen ähnlich. Und wenn er, nachdem er es auf den Müll geworfen hat, erführe, es sei eben doch das Original gewesen?
Was nun noch zum Schluss die Frage des Plagiats anlangt, so ist das Geschrei über die geistige Entwendung eines der überflüssigsten Geschäfte von der Welt. Jedes Plagiat richtet sich nämlich von selbst. Auf ihm ruht der Fluch, der jedes gestohlene Gut zu einem freudlosen Besitz macht, sei es nun geistiger oder materieller Natur. Es erfüllt den Dieb mit einer Unsicherheit und Befangenheit, die man ihm auf hundert Schritte anmerkt. Die Natur gestattet keine unehrlichen Geschäfte. Wir können immer nur unsere eigenen Gedanken wirklich in Bewegung setzen, weil nur diese unsere Organe sind. Eine Idee, die nicht uns, sondern einem anderen gehört, können wir nicht handhaben, sie wird uns abwerfen, wie ein Pferd den fremden Reiter, sie ist wie eine Schmuckkassette, deren Vexierschloss man nicht kennt, wie ein Pass, der fremde Länder öffnet, aber nur dem, dessen Bild und Namenszug er trägt. Man lasse daher die Menschen an geistigem Eigentum nur ruhig zusammenstehlen, was sie erwischen können, denn niemand anders wird den Schaden davon haben als sie selbst, die ihre schöne Zeit an etwas völlig Hoffnungsloses vergeudet haben. […] Und wenn ein großer Künstler oder Denker sich nicht durchsetzen kann, so liegt das immer daran, dass er zu wenig Diebe findet. Sokrates hatte das seltene Glück, in Plato einen ganz skrupellosen Dieb zu finden, der sein Handwerk von Grund aus verstand: ohne Plato wäre er unbekannt. […] Es ist wahr: große Dichter sind oft originell; aber nur, wenn sie müssen. [8. Egon Friedell: Kulturgeschichte der Neuzeit – Verlag Ch. Beck, München, 1984]
Erstaunlich ist trotzdem immer wieder die Tatsache, dass höchst selten ein einzelner Mensch an einer einzigartigen Sache arbeitet. Es scheint also einen Schnittpunkt zwischen aktivem und passivem Wissen zu geben. Ein einmal erreichter Wissensstand ist andererseits nicht für alle Zeiten gültig. Es wäre sonst ein Leichtes, Hieroglyphen zu entziffern: man müsste schließlich nur das passive Wissen bemühen und sich weiter keine Arbeit machen. Demnach ist es ein Irrtum, wenn wir annehmen, auf der höchsten Stufe einer irgendwie gearteten Entwicklung zu stehen. Unser aktives Wissen mag gewachsen sein – vielleicht auch das Passive –, aber ändern tut das letztlich nichts. Und es bleibt die Frage: Hätte Debussy vor Bach stattfinden können?
Anstatt die Ideen von diesen Dingen rein zum empfangen, färben wir sie mit unseren Eigenschaften und prägen allen einfachen Dingen, die wir betrachten, unsere zusammengesetzte Wesenheit auf. (Blaise Pascal?)
Beherrscht dich ein Gedanke, so findest du ihn überall ausgedrückt, du riechst ihn sogar im Winde. Fixativ und Frühlingsarom, nicht wahr? Kunst und – ja, was ist das andere? Sagen Sie nicht „Natur“. […] Natur ist nicht erschöpfend. [9. Thomas Mann: Tonio Kröger – Fischer Bibliothek – S. Fischer Verlag 1980]
Wer also spielt sich zum Richter auf über Alt und Neu, Fortschritt, Rückschritt und Stillstand? Naturgemäß wohl der, der von sich in Anspruch nimmt, der Meistwissende zu sein. Da eine Meistwissenheit heutzutage allerdings schwer zu erreichen ist, müssen es wohl die Experten sein. Aber wir müssen jederzeit bereit sein, eine Autorität zu akzeptieren, die sich nicht auf das Wissen stützt, schon gar nicht auf das Verständnis, sondern eben die Auffassung.
Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille sich lautlos auf – dann geht ein Bild hinein, geht durch der Glieder angespannte Stille und hört im Herzen auf zu sein. [10. Rainer Maria Rilke: Der Panther – aus: Die Gedichte – Insel Verlag – 10. Auflage 1998]
Es gibt Auffassungen, die keine Spuren hinterlassen außer einem Kunstwerk – durch nichts zu beweisen als durch ihr Vorhandensein. Mein Problem: das für ein potentielles Publikum nachvollziehbare Denken. Ich gerate vom Hundertsten in Tausendste und werde zum blümchenwerfenden Terroristen. Mir fehlt das gewohnte Terrain der Kunst, das nach einer anderen „Logik“ verlangt. Kunst stellt ein Gefühl zur Schau. Sprache erwartet – in dieser Form – meist etwas anderes. Besser: Sprache baut schon durch ihr Vorhandensein eine andere Erwartung auf. Die Erwartungen an die Sprache mit der Sprache selbst außer Kraft zu setzen, ist ein interessanter Gedanke, der aber nur schwer denkbar ist: man muss ihn umsetzen. Ich denke nach und schreibe und bewege mich also in einer fortgesetzten Unmöglichkeit. Wenn ich nicht zu mir selber spreche, bewege ich mich auf die Stille zu.
Ich fasse die Kunst – im Sinne Goethes – als die „Vermittlerin des Unausprechlichen“ auf, und eben an diesem Punkt beginnt die Ohnmacht – eben hier setzen sich Widersprüche in Gang. Wenn ich die Möglichkeit habe, etwas Unausprechliches mittels der Kunst zu umschreiben, wenn ich also mittels organisierter Phantasie in der Lage bin, meine Sprachlosigkeit zu umschreiben, dann ist jeder Versuch einer darüber-hinaus-gehenden Erklärung nichts als ein Vehikel und letztlich muss ich eingestehen, dass es sinnlos ist, einen Zustand annähernd (mit Sprache) zu umschreiben, wenn ich ihn doch im selben Augenblick allumfassend (mittels eines Kunststückes) „erklären“ könnte. Das Hereinsprechen (= ein Nicht-Künstler unternimmt Erklärungsversuche) ist letztlich in gleicher Weise Behelf wie das Heraussprechen (= ein Künstler unternimmt Erklärungsversuche). Im ersten Fall unternimmt ein Außenstehender den Versuch, die Ohnmacht, die er nicht selbst gelebt hat, zu umschreiben, im zweiten Fall muss jemand, der sich bereits umfassend geäußert hat, zu einem Hilfsmittel greifen, das nie und nimmer in der Lage sein wird, das eigentliche Kunststück umfassend zu ersetzen.
Kunst wird dann und nur dann erfahrbar, wenn der Betrachter/Hörer/Leser usw. in der Lage ist, in sich eine Gleichspannung zum Erfahrenen zu finden – also: ein Teil von sich im Kunstwerk zu entdecken. Kunst an sich bezieht ihre Kraft aus dem Rückzug in ein höchst subjektives Bezugssystem. Wenn die Seele offen liegt, muss sie geschützt werden. Das Kunstwerk schützt durch die Art seiner Erscheinung (der Code der schönen Form) den Künstler selbst. Er selber kann nicht in zwei Bezugssystemen gleichzeitig existieren – das Kunststück würde im selben Augenblick in seine Einzelteile zerfallen und die Kraft seiner Aussage verlieren. Deswegen ist Erklärung seitens des Künstlers immer ein Notbehelf. Erst nach Fertigstellung des Werkes kann der Künstler in das normale Bezugssystem zurückkehren. Nach dem Augenblick der Rückkehr hat er sich selber vom Kunstwerk entfremdet und kann/will nicht zurück, da alles Sagbare mitgeteilt wurde. Das gleichzeitige Vorhandensein in verschiedenen Bezugssystemen ist ein Ding der Unmöglichkeit – ein reines Gedankenexperiment, das nicht dazu taugt, seinerseits ein Kunstwerk entstehen zu lassen.
Unser Verhältnis zur eigenen Zeit, eben jener Ton: und so kommt der Geist mehr und mehr auf den Hund und schließlich auf uns. [11. Max Frisch: Stichworte – ausgesucht von Uwe Johnson – Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1975]
Wie soll man den Dingen gerecht werden, die man nie gesehen hat? Wenn man in einem derartigen Bereich die Vernunft zum alleinigen Leitstern wählt, dann führt sie uns direkt zur Lüge, weil sie nicht durch den Instinkt erhellt wird. Denn der Instinkt ist untrüglich. Und wenn er uns täuscht, dann ist er eben kein Instinkt mehr. [12. Igor Strawinsky: Musikalische Poetik]
Woran denke ich, wenn ich Sprung denke? In erster Linie an Boden. Der nämlich ist die Voraussetzung für einen Sprung: er ist Start und Ziel. Bezugspunkt – mein zweiter Gedanke. Auch wenn es abgegriffen klingt: Was ein Sprung ist, hängt nicht unwesentlich vom Standpunkt ab. Der vermeintliche Sprung zur Zwölftönigkeit mag für ein ohnehin zurückgelassenes Publikum als solcher gewirkt haben – für die Musikgeschichte war er nichts als eine [notwendige?] Konsequenz aus dem Dagewesenen. Ein Schritt in einer Reihe von Schritten. Eine Art Konsequenz. Die Erweiterung des Raumes. Seit Bach (dieser Name nur deswegen, weil er den meisten bekannt zu sein scheint, und nicht etwa, weil es derartiges vorher nicht schon gegeben hätte) – seit Bach (und in Wirklichkeit schon lange vorher) ist eine Dissonanz fester Bestandteil von Musik. Wenn man, wie ich es bin, am Klavier ein Stümper ist, treten beim langsamen Durchspielen Bach’scher Werke erstaunliche Dissonanzen auf. Nur sind sie, wenden Experten ein, keine etablierten Dissonanzen. Sie bedürfen einer Auflösung und sind somit bedürftig: Bedürftigkeitsdissonanzen. Das sind die Dissonanzen von heute nicht mehr. Heute verhält es sich genau andersherum: eine Konsonanz muss eine Dissonanz nach sich ziehen. Fortgesetzte Konsonanz lässt sich nicht argumentieren. Sie hat kein Fundament und ruft die Sittenwächter auf den Plan.
Auch wenn Mozart in meiner privaten Geschichte der Musik des Abendlandes bestenfalls einen Eckplatz hat – wie Beethoven übrigens auch – ist es doch höchst spannend, den Anfang seines Dissonanzenquartetts (KV 465) aufzulegen und ein Ratespiel mit Unwissenden nach dem Motto Auswelchemjahrundertistdenndas??? zu veranstalten. Ich selbst kam eben so zu diesem erstaunlichen Stück Musik. Eine zeitlang habe ich es ob seines Entstehungsdatums für etwas Besonderes gehalten – heute ahne ich: Das war ein Fehler. Ein Stück ist entweder gut oder nicht; es wird nicht dadurch besser, dass es zwei, zehn oder hundert Jahre älter ist. Es ist bestenfalls erstaunlich, das Dissonanzenquartett in einem zeitlichen Kontext zu sehen, aber wer so argumentiert, umgibt ein Kunststück bestenfalls mit der Aura des Originellen, und ich bin mir nicht sicher, ob das ein Lob sein kann.
Man kann sich auch von der Tatsache inspirieren lassen, dass man einen Zufall nicht schaffen kann. Kunst ist organisierte Phantasie – die Unsterblichkeit im Heimwerkerverfahren. [13. Franz Neige: Wurm und Zwang – copy-us Verlag 1999]
Jedes Kunstwerk ist nichts als der Versuch einer Kontaktaufnahme – es sei dahingestellt, mit wem. Ich hatte nie das Bedürfnis, mit der Zukunft Kontakt aufzunehmen. An der Nahtstelle zwischen der übermächtigen Vergangenheit und einer punktuellen Gegenwart führe ich ein Gespräch. Mein Blick kann nicht weitergehen als bis zum Tellerrand, denn das, was den Tellerrand überschreitet, ist kein Blick – es ist bestenfalls eine Vermutung. Erstaunlicherweise aber ist auch jeder Blick zurück eher eine Vermutung. Ein wirklicher Blick also ist immer die Betrachtung eines sich in Veränderung befindlichen Punktes. Da ich nicht zu den Meistwissenden gehöre, äußere ich die Vermutung, dass es in der Literatur des – sagen wir – 17. Jahrhunderts – keinerlei Denkansatz in Richtung eines „Big-Brother-Phänomens“ gegeben hat. Was will ich damit sagen? Der Nährstoff für den Orwell“schen Gedanken war frühestens mit der Erfindung einer Kamera oder eines Mikrofons gegeben.
Bekanntlich gibt es von Da Vinci Skizzen zur Konstruktion von Hubschraubern. Wie – könnte man sich fragen – lassen sich die Skizzen im Zusammenhang mit der gerade aufgestellten These argumentieren? Wie konnte da Vinci an einen Hubschrauber denken, wenn der Boden für Orwells Buch erst durch die Erfindung von Mikrofon und Kamera bereitet wurde? Die Antwort scheint mir einfach: Libellen. Der Wunsch des Menschen zu fliegen, hätte sich wohl erst viel später einen Weg gebahnt, wenn es keine Vögel am Himmel gegeben hätte. Trotzdem hat über Jahrhunderte hinweg die Fiktion vom eigenen Fliegen nicht Gestalt annehmen können, weil die Kenntnis physikalischer Gesetze nicht so schnell war wie der Wunsch.
Was will ich sagen? Science-fiction gibt es nicht. Science-fiction im eigentlichen Sinne gibt es nicht. Weder in der Literatur noch irgendwo sonst. Es ist wie bei den Comics: Tiere werden mit menschlichen Zügen versehen, damit ihr Verhalten einsichtig wird. In der Fabel übernehmen die Tiere menschliche Charakterzüge, denn ein Buch, das Tiere wie Tiere behandelt und beschreibt, finden wir bestenfalls in der Abteilung Zoologie. Schreibt jemand über Marsmenschen, so erfindet er für diese kein eigenes Bezugssystem, das von dem unseren abzulösen wäre – er spiegelt es bestenfalls vor, denn ein Bezugssystem, das nicht das unsere wäre, würden wir nicht verstehen und wären demnach nur in der Lage, es zu fürchten, denn eine Grundeigenschaft menschlicher Befindlichkeit besteht in der Tatsache, Fremdes zu fürchten oder aber: ihm mit Argwohn gegenüberzutreten. Nichts anderes widerfährt der modernen Kunst: sie wird mit Argwohn betrachtet – man fürchtet sich vor ihr. Kunstwerke werden nicht zuletzt aufgrund von Fragen wie „Was will uns der Künstler damit sagen?“ erfolglos auf eine Botschaft hin abgeklopft. Kunst muss verstanden werden, glauben viele und meinen damit, sie müssten im Kunstwerk den Künstler finden. So wird die Initialzündung zu einer gigantischen Fehlleitung in Gang gesetzt.
Statt sich selber zu suchen (was die größere Mühe macht und mehr Mut erfordert), sucht man nach der Botschaft. Ein Kunstwerk zu mögen bedeutet meiner Ansicht nach in erster Instanz nichts anderes als ein Selbststück zu finden. Dieser Anteil des Eigenen ermöglicht (in zweiter Instanz) die Kommunikation mit dem Kunststück und somit seinem Erzeuger. Oder: Die Kunst stellt eine Art von sicherem Ausflug in ein Anderes dar – allerdings bedeutet das am Ende nur, dass ein Stück Eigenwünschen in ihr umgesetzt zu sein scheint. Genau besehen also ist der Aus-flug am Ende auch nichts als eine Rückkehr zu den eigenen Träumen und somit zum Ich. Wer in einem Kunstwerk nicht den Eigenanteil entdeckt, wird vergebens nach einem Zugang suchen und sich bis zum Schluss mit der dumpfsinnigen Frage beschäftigen, was der Künstler wohl hat sagen wollen. Analysemethoden, wie sie in den Deutschkursen praktiziert werden, sind nichts als ein ins Leere greifendes Notwehrinstrumentarium für Mut- und Hoffnungslose, die nicht bereit sind, sich auf sich selbst zu verlassen und somit auf das unmögliche Verstehen setzen, während das schmerzhafte Auffassen vor ihren Füßen zu liegen scheint.
Deswegen kommt in fast jeder noch so fiktionalen Geschichte immer das Liebespaar vor, das nicht zueinander findet oder eben doch – oder es geht um andere Grundbefindlichkeiten wie Hass, Neid, Eifersucht. Um sie herum gruppiert dann der Autor pseudofiktionale Ereignisse. Jemand, der seiner Zeit wirklich voraus sein würde, würde von der Geschichte verschluckt werden, weil sie ihn nicht verstehen könnte. Er könnte somit kein Bestandteil eben dieser Geschichte oder Geschichtsschreibung werden und wäre ein für alle Mal unbekannt. Sollte also – aufgrund einer wie auch immer gearteten Disposition – irgendwann wirklich ein Sprung stattfinden oder stattgefunden haben, so dürfen wir sicher sein, dass wir nichts davon erfahren werden oder haben. Diejenigen aber, von denen die Geschichte (übrigens immer im Nachhinhein) behauptet, sie seien ihrer Zeit vorausgewesen, waren nur Mehr- oder Anderswissende. Im übrigen: Wenn es möglich wäre, gewissermaßen simultan festzustellen, ob jemand seiner Zeit voraus ist, würde sich das Nachdenken darüber erübrigen. Der Zeit voraus zu sein würde im Bereich der Musik heißen, ein neues Vokabular zu entwickeln. Ein Vokabular aber, das – wenn auch nur für einen eingeschränkten Kreis – auffassbar wäre, kann nur schwer seiner Zeit voraus sein, denn es müsste auf der in einer Person gebündelten Projektion der Vorwegnahme einer Nachzeit basieren. Die Zukunft ist ihrem Wesen nach nicht einsehbar, woraus zu folgern ist, dass keiner sie vorwegnehmen kann. Wer von einer Vorweggenommenen Zukunft spricht, muss sich eher fragen, ob er nicht von einer unverstandenen Gegenwart sprechen sollte. Gerade in bezug auf die zeitliche Ebene gehört der Sprung noch immer ins Reich der Fiktion und kann bestenfalls durch einen Wechsel des Beobachtungsstandpunktes vorgetäuscht werden. Die Gegenwart ist der reale Klotz an unseren Beinen und somit der letzte Sicherheitsgurt der uns daran hindert, vollends den Verstand zu verlieren.
Wir haben eine Pflicht gegenüber der Musik: Sie zu erfinden! [14. Igor Strawinsky: Musikalische Poetik]
Das bringt uns zum Phänomen des Wunderbaren und eben damit zur Schwierigkeit der Rezeption eines Kunstwerkes. Kunst setzt keinen gleichen Wissensstand voraus. Während ein durchschnittlich Begabter Schwierigkeiten haben dürfte, die Relativitätstheorie nachzuvollziehen (also nicht – wie ich – nur das Wort als Gleichsatz für ein Unverständnis einzusetzen), so kann es für denselben durchschnittlich Begabten durchaus möglich sein – ja, es wäre nicht einmal etwas Besonderes – ein geniales Kunstwerk aufzufassen. Ich rede bewusst nicht von Verstehen, denn als einer, der selbst produktiv tätig ist, weiß ich, dass nicht einmal ich die Dinge verstehe, die ich selber mache. Was also ist der Künstler? Ich sage, dass er ein Behälter für das Wunderbare ist. Nicht mehr. Nicht weniger. Und wer die Demut vor dem Wunderbaren verliert und glaubt, nicht mehr der Behälter zu sein, sondern das Wunderbare selbst, wird er vor der Geschichte und vor seinem Publikum scheitern – nicht aber vor den Experten.
An dem Ergebnis wird Ihr Widerstand nichts ändern. Die Freiheit existiert, und auch der Wille existiert, aber die Willensfreiheit existiert nicht, denn ein Wille, der sich auf die Freiheit richtet, stößt ins Leere. [15. Thomas Mann: Tonio Kröger]
Ich besuchte heute morgen die Kindervorstellung eines Zauberers (denken Sie ruhig an Thomas Mann – das ändert nichts daran, dass ich wirklich da war) und hatte (Behälter des Wunderbaren) plötzlich eine Erkenntnis. Es ist mir vollkommen egal, ob der Nachweis möglich ist, dass das Folgende bereits 1 oder 1.000 Mal gesagt wurde. Heute wurde es mir gesagt und hielt erst damit Einzug in meine denkende Seele: Der Zauberer, ein alter Herr mit einem Buckel, saß – ich war wie üblich viel zu früh – an einem der Tische. Ich wusste nicht, wer er war, noch wusste ich, dass überhaupt ein Zauberer anwesend war. Es handelte sich bei der Begebenheit um Presbyterwahlen mit einem Sonntagskaffee. Ich saß also, einen Kaffee vor mir aufgebaut, zufällig neben dem alten Herrn im schwarzen Anzug. Der Mann wirkte ein wenig unbeholfen und sehr in sich gekehrt. Er sei, sagte er, gekommen, um den Kindern eine Freude zu machen. Der Pastor, sagte er, habe ihn eingeladen. Der Mann war sicher weit über siebzig. Und wie er so dasaß mit seinem Buckel und sich bewegte wie ein Rheumatiker, tat er mir leid. Ich verließ den Saal, da ich noch Terminabsprachen mit dem Pastor zu machen hatte. Ich hatte nicht vor, den Saal wieder zu betreten, denn ich halte nichts von Magiern und Schnickschnack. Als ich meine Terminabsprachen geregelt hatte, hörte ich, dass im Saal eine fantastische Stimmung herrschte. Alle zwei Minuten brandete Beifall auf. Die Kinder lachten, die Erwachsenen lachten – ich schlich mich zurück in den Saal. Da stand der alte Mann und bewegte sich plötzlich wie ein anderer Mensch – sprach laut und schnell und führte Kunststücke vor, von denen ich nicht gedacht hätte, dass sie ohne den Einsatz von Technik möglich gewesen seien. Er ließ mich ein Kreidekreuz auf eine kleine Schiefertafel machen und holte sich eine Assistentin aus dem Publikum. Er wickelte die Schiefertafel in eine alte Zeitung und gab sie ihr in die Hand. Sie solle, sagte er, die Tafel festhalten und nicht mehr loslassen. Dann holte er einen Mann aus dem Publikum und gab ihm ein Kartenspiel in die Hand. Er ließ ihn eine Karte hochhalten und dem Publikum zeigen. Dann bat er ihn, das Kartenspiel in die Hosentasche zu stecken. Da stand die Frau mit der eingewickelten Schiefertafel – daneben der Mann mit dem Kartenspiel in der Hosentasche. Dann gab der alte Mann einer Frau im Publikum einen Stift mit einem Block und bat sie, Zahlen zu addieren, die drei Kinder ihr zurufen sollten. Drei Zahlen wurden gerufen und addiert. Die Summe der Zahlen war 19. Der alte Mann bat jetzt den Mann mit dem Kartenspiel in der Hosentasche, das Spiel herauszunehmen und die Karte (es war eine Herzdame) zu suchen, die er zuvor dem Publikum gezeigt hatte. Der Mann blätterte das Kartenspiel durch – die Herzdame (denken Sie an die Blechtrommel?) war verschwunden. Darauf ging der Zauberer zu der Dame mit der eingewickelten Schiefertafel. Er packte die Schiefertafel aus. Auf der einen Seite war noch immer mein Kreidekreuz – auf der anderen Seite war eine Herzdame aufgeklebt – daneben stand die Zahl 19. Ich hatte die ganze Zeit über – man ist ja misstrauisch – den alten Mann genau im Visier. Nicht einmal hatte er auch nur die Gelegenheit, die Tafel zu berühren.
Und während das Publikum und natürlich auch ich begeistert waren und sich noch wochenlang fragen werden, wie Zahl und Karte auf die Tafel gekommen sind, hatte der alte Mann sein Handwerk ausgeübt und wahrscheinlich nichts Magisches dabei empfunden. Er hat es aber bestimmt lange geübt.
So funktioniert das Verhältnis zwischen Künstler und Publikum – es gibt nur einen kleinen Unterschied: Während der Mann genau wissen mußte, was er tat, kann der Künstler sein Kunststück nicht wiederholen. Nichtsdestoweniger übt er eine Magie aus. Er übt Dinge, von denen er nicht weiß, zu welchem Kunstwerk sie sich jemals zusammensetzen werden.
Der Experte ist bemüht, die Magie mittels Analyse zu zerstören und die Kunst zu entzaubern, indem er versucht, ihr das Wunderbare zu nehmen. Was auf der einen Seite Magie auslöst, ist auf der anderen harte Arbeit. Der einzige Vorteil, den der Künstler gegenüber dem Zauberer hat, ist der, dass er nicht nur das Publikum mit seiner Magie begeistern kann, sondern auch sich selbst – allerdings nur dann, wenn er sich als Behälter begreift und nicht als das Wunderbare selber. Somit kann sowohl der Künstler als auch sein Publikum für einen kurzen Moment den Boden verlassen und zum Sprung ansetzen.
Ein Künstler ohne Demut, verliert den Boden unter den Fußen und wird – hoffentlich – in ein Loch springen, aus dem er in der Geschichte nicht mehr auftauchen kann. Die Sprache ist oft genug ein gnadenloses Instrument. Ich schreibe: „Er tat mir leid“. Genau besehen also sage ich: Der Mann tat mir Leid. Ich offenbare also im eigentlichen Sinne ein Ärgernis. Ich bedauere ihn nicht, sondern stelle fest, daß er mit durch sein Dasein ein Leid zufügt. Nach außen hin aber klingt es wohlwollend. Das aber nur am Rande zum Instrument der Sprache.
Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille sich lautlos auf – dann geht ein Bild hinein, geht durch der Glieder angespannte Stille und hört im Herzen auf zu sein. [15. Rainer Maria Rilke: Der Panther – aus: Die Gedichte – Insel Verlag – 10. Auflage 1998]
Der Text erschien erstmals in „Parapluie“, Nr. 7. 1999/200