Schreibkraft
Heiner Frost

Lenzenhorst

Aufstehen um acht. Die Angst vor den Stunden. Die Zigaretten immer fast zu Ende und dann das unangenehme Gefühl, wieder welche zu brauchen: in ein Geschäft gehen müssen, auf das Regal zeigen wie ein Idiot und sich schließlich das Geld aus der Hand zählen lassen. Die Summe kennst du nach dem zweiten Mal und multiplizierst sie mit der Anzahl der Schachteln. Ichleidernichtverstehen – die eigene Sprache entstellen, weil du die andere nicht verstehst. Zeit ist etwas Lähmendes, wenn du zu viel davon hast. Heimat: der Gedanke an die Brüste der Eisverkäuferin, die an dir vorbeigeht: unzählige Male. Nur das tröstet dich:  und die Fahrt nach Auschwitz. Du empfindest nichts im Angesicht der Baracken und hast Angst, endgültig verroht zu sein. Auf dem Gehweg stellst du mit ausgebrannten Augen den Frauen nach: traurige Schönheiten allesamt. Du bist sicher, dass sie das Licht löschen, wenn sie sich zu ihren Männern ins Bett legen. Deine Strafe: keine gemeinsame Sprache zu haben mit dem, was dich jetzt umgibt. Die Menschen: gepackte Kartons, die du nicht öffnen kannst. Eine fremde Ewigkeit wartet auf dich. Wenn du wüsstest, daß du nicht zurückkommst, würdest du anrufen und ihr liebe Sachen sagen. Das Haus liegt am Fuß eines Berges. Oben das Kloster. Auf dem steilen Weg: Pilger. Der Mann im Haus putzt die Spiegel. Die Frau schläft. Die Stille zerrt an dir. Auch die Hunde verstehen dich nicht. Sie sitzen ratlos da, wenn du mit ihnen sprichst. In der Stadt ist es heiß. Die Frauen dünn bekleidet und zu durchsichtig: sie zwingen sich deine Blicke auf. Die Bücher wollen nicht sprechen:  ausgebrannte Texte. Einschlafen über der Stadt, die noch weiter unten am Berg wächst. Die Fenster weit geöffnet. Die Geräusche werden unscharf und verwehen wie frische Wasserfarben unter einer Federboa. In Klänge sinken wie in ein zu weiches Kopfkissen. Dann der Schlaf, den du erst beim Aufwachen bemerkst. Selbst der eigene Schlaf ist etwas Fremdes geworden.  Am Ende jedes Blickes liegt ein Hauch von Traurigkeit …

Er umschreibt dieses schwarztaube Loch der Wortlosigkeit. Da er für die Wahrheit untauglich ist, umgibt er das Unsagbare mit einem Zweitleben. Er hat gelernt, sich gewandt darin zu bewegen und weiß oft selbst nicht mehr, wohin er gehört. Er hat ein Leben erfunden, das zu ihm passen könnte. Er ist neben die Spur getreten, die ihm zugetraut oder zugewiesen wurde. Sein Leben ist eine Garderobe, in der sich beständig Leute an-, aus-, oder umkleiden; am meisten er selbst. Denn während die anderen – so vermutet er – nur Tagesfluchten antreten, ist seine Flucht  längst zum Eigentlichen geworden. Er zählt seine Wunden.

…aus dem großen Kloster oben auf dem Berg wehen Pilgergesänge herüber. Auf Knien rutschen sie durch das riesige Portal. Junge Männer in Mönchsgewändern führen Kinder: lachend, singend, betend. In der Luft hängt jetzt, mitten im Sommer, der Geruch von Öfen, in denen Holz verbrannt wird. Der Weg zum Kloster hinauf ist sehr steil. Sie erreichen das Ziel geläutert. Die Kraft für die Gegenwehr haben sie auf der Steigung gelassen. Oben ankommen können sie nur fromm. Aus dem Portal schwimmen Orgeltöne. Die da singen, klingen, als ob sie gleichzeitig weinen. Und mitten unter ihnen die Brüste der Eisverkäuferin: wie ein Versprechen. Der Mann putzt die Spiegel. Danach geht er in die Stadt und kommt zurück: bepackt mit Einkaufstüten – schwitzend, alt. Zuhause – das ist jetzt hier: zwischen Weihrauch und geputzten Spiegeln. Sie sitzen am Tisch: der Mann – die Frauen. Fotoalben werden herumgereicht. Bilder aus sauberen Leben. Die Frau erinnert sich an eine deutsche Vorkriegssprache:  Silben zuerst, dann kommen Wörter zurück. Er hat keine Sprache, an die zu erinnern sich lohnen würde. Der Mann sitzt und lächelt. Er erinnert sich nicht. Gedanken werden herumgereicht: ausgetauscht.

Er fährt nach Krakau und steht in der Synagoge. Gott schaut zu. Die Farbe blättert von den Fassaden. Die Häuser wehren sich. Er fotografiert den Untergang. Immer wieder hält er die Kamera ins Ziel und schämt sich dafür. Das Kopfsteinpflaster erzählt Geschichten von Sonne und Blut. Ein Mann erzählt von der Vergangenheit und zermalmt die Luft zwischen seinen Händen.

Vor der Marienkirche warten die Bettler. Er geht vorbei. Auf dem Marktplatz tut die Welt, als sei sie in Ordnung. Kinder füttern die Tauben. Ein Mann zieht ihn weg. Nicht füttern die Tauben, sagt er. Tauben nix gut. Er lebt sich ein. Den Menschen wachsen wiederholbare Gesichter …

Einmal in der Woche – manchmal seltener – findet er aus der Amnesie des Empfindens einen Weg ans Licht der Buchstaben und entscheidet, ob er, was da in ihm hockt, mitteilt ( sich selbst mitteilt) oder es wieder versinken lässt in jenen taubstummen Zustand der kreidebleichen Ahnungslosigkeit. Er sitzt am Sterbebett der Träume: Marie, wie sie von hinten die Arme um ihn schlingt und das Signal setzt. Die Lust ist ein austrocknendes Flussbett.  Seine Mitteilungen werden seltener. Das Sagbare: eine langsam dicker werdende Zellenwand aus Buchstaben. Das Unsagbare: Die Gitterstäbe.

… der Abend auf dem Balkon über der Stadt.  Nie waren Grillen so laut. Er weiß nicht, für wen sie singen. Er denkt an die Eisverkäuferin. Ihr Bild in seinem Kopf hat an Gewicht verloren. Er rekonstruiert ihre Bewegungen: das sanfte Auf und Ab. Beim Gehen gibt er reichlich Trinkgeld. So kauft er seine Gegenwart auf der Rückseite der Tage.  Der Mann trägt das Essen auf. Die Frau ruft aus der Küche. Die Sprache: ein Wattebausch, an dem er wieder und wieder abprallt. Zwischendurch wiederholt er die Sätze, die er aufschreiben wird. Der Mann spricht ihn an. Er hört nicht zu. Er zählt die Bilder in seinem Kopf. Draußen: ein schwarzschwitzender Himmel ohne Sterne.  Die Grillen fallen ihm erst dann wieder auf, als er die Türe schließt und das Singen verschwindet. Er wird ein Buch lesen. Der Mann putzt den  Tisch. Nachts kommt das Mädchen zurück. Sie war lange fort. Ein Jahr vielleicht. Die Frau in seinem Zimmer kann nicht schlafen. Sie steht auf und geht in ein anderes Zimmer. Sie kommt nicht zurück. Unten im Haus reden sie. Ein Jahr ist eine lange Zeit. Sie reden bis um vier Uhr morgens – ihre Stimmen sind wie ein Zug aus der Ferne. Als es still ist im Haus, steht er auf und geht auf den Balkon. Er raucht. Vor dem Marienaltar am Fuß des Berges haben sie Kerzen angezündet. Die Frau, die in seinem Zimmer schlief, redet mit dem Mädchen. Sie reden Deutsch: das hört er am Staccato der Stimmen und an der Melodie. Er raucht. Die Frau, die in seinem Zimmer lag, lacht. Er sieht auf das leere Bett. Er wird früh aufstehen und sich an den Tisch setzen mit dem Mann, der die Spiegel putzt. Die Stadt schwitzt. Er fotografiert. Wir setzen uns mit Tränen nieder. Bach ist in der Stadt. Er findet nur schwer zurück aus dem Schlaf ins Leben. Neben ihm die Frau, die sich auf ihn setzt und ihn anstöhnt: die Augen geschlossen. Im Haus ist es still. Sie arbeiten beide geräuschlos. Er fragt sich, was sie denkt. Dann steigt die Frau ab. Widerstehe doch der Sünde. Draußen erwachen die Hunde. Einer bellt heiser. Auf dem Klosterberg werden Schüsse abgefeuert. Jetzt töten sie die Sünder, denkt er. Die Sonne verbrennt den Balkon. Unten hört er die Frau im Bad, wie sie seine Spuren auswäscht. Die Eisverkäuferin überfällt ihn nicht mehr. Er muss sie holen und ihr Köpfe anpassen, die erinnerbar sind. Vor dem Haus steht ein Auto: die Türen und Fenster weit geöffnet. Musik dringt in die Hitze. Der Wind verteilt die Töne über die Stadt. Jetzt, wo die Grillen schweigen, fällt ihm auf, dass die Vögel hier nicht singen. Seit zwei Tagen sind sie ohne Lieder. Das Gewicht der Hitze. Der Mann hackt Unkraut im Garten. Wenn er sich aufrichtet, sieht man, dass er Schmerzen hat. Die teilt er mit jedem, der ihn ansieht. Mit einem Tuch wischt er sich den Schweiß von Stirn und Nacken. Jesus am Ölberg. Die Stimme aus dem Autoradio spricht schnell und laut. Auf dem Balkon versucht er, die Wörter nachzusprechen. Er modelliert die Klänge mit stummen Lippen. Wenn er sich sicher fühlt, gibt er seine Stimme dazu: Klangfahnen entstehen.

Die Frau legt von hinten ihre Arme um seinen Hals. Er wischt sie weg. Wortlos. Sein Kopf, schwerer als sonst, ist unbrauchbar für Gedanken. Vom Klosterberg schlendert eine Pilgergruppe talwärts. Vorneweg ein  Priester mit Kutte. Fahnen. Gitarren. Gesang. Die Stimmen der Mädchen klingen unverbraucht. Sie tragen weiße Blusen. Darunter die Träger ihrer Büstenhalter. Er lebt von der Ahnung. Die Mädchen schwitzen, und ihre kleinen Brüste schaukeln am Steilhang …

Er habe sich, am Ende die Menschen nur noch in Bewegung vorstellen können. Die Vorstellung von unbeweglichen Menschen sei ihm unerträglich geworden. Er habe dann bei jedem Schreibversuch das Gefühl gehabt, nicht das aufschreiben zu können, was er gedacht habe. Zur Übertragung eines Gedankens gehöre die Übertragung der Spannung, die ihn – den Gedanken – umgebe. Ein Gedanke sei nur als Teil einer Geschichte übertragbar, denkbar. Er habe niemals etwas anderes erfunden als sich selbst. Er sei von einem natürlichen Misstrauen denen gegenüber durchdrungen, die behaupteten, dass sie neue Geschichten erfänden. Verständnis sei ohnehin nichts als ein Austausch von Subjektivitäten. Einfache Dinge, das habe er längst begriffen, seien unerträglich und müssten unbedingt verkompliziert werden um hernach wieder vereinfacht werden zu können. Die Sportschuhindustrie habe ihn und seine Seele längst fest im Griff. Er könne sich diesem Griff ebensowenig entziehen wie er an etwas anderes denken könne als an ein silbergraues Haar, das sich unausrupfbar auf seinem linken Schulterblatt festgewachsen habe. Er habe jetzt angefangen, nur noch in Zitaten zu reden. Sobald er das Zitierte als von ihm Gedachtes empfinden könne, sei es ohnehin in sein Eigentum übergegangen. Neuerdings verstärke sich in ihm das Gefühl, er könne die Zeit biegen. Realtität sei für ihn schon lange ein missglückter Versuch, die Phantasie abzubilden. Die Angst stecke ihm im Hals. Er empfinde tatsächlich die Umrisse des Wortes Angst in seinem Hals und spüre deutlich wie das Wort versuche, seine Stimmbänder zu durchtrennen. Während er das Wort im Hals gespürt habe, sei ihm außerdem bewusst geworden, dass es keinen Plural des Wortes Mut gebe. Das habe ihm zu denken gegeben. Auch die Geduld sei nur einzahlig vorhanden. Mehrzahlen müsse man bilden, indem man von Geduldigen und Mutigen spreche.

… der Mann im Garten richtet sich auf und bekreuzigt sich. Die Mädchen grüßen: freundlich und unberührt lächelnd. Vom Berg fließen Glockengeläut und Orgelmusik. Die Mädchen singen: das Geräusch wie ein Tuch über dem angestrengten Land. Die Frau fragt, ob er wieder fahren möchte. Ja. Er will sich verschlucken lassen von der großen Stadt. Sie fahren zu dritt. Er gleitet in die Menge wie in ein Becken mit zu kaltem Wasser. Die Frau trägt ihren Rucksack vor der Brust. Das Mädchen hat eine Sonnenbrille ins Haar gesteckt. So ziehen sie los. Eine leidende Stadt. Sie sitzen zu dritt in einem Restaurant. Der Stehgeiger spielt schlecht. Sein Gesicht ist traurig und zerfasert. Das Mädchen schweigt. Hinter der Sonnebrille weint er in sein Essen. Der Geiger nimmt eine Plastiktüte und zieht weiter. Er läuft schwerer als er spielt. Sein weißer Strohhut ist mit einer dicken Staubschicht belegt. Er spielt schlecht, sagt das Mädchen.

Abends wieder der Balkon. Glockentöne wehen über die Hügel. Er denkt an zuhause wie an etwas Vergangenes. Aus der fremden Sprache tauchen einzelne Wörter wie Leuchttürme auf. Sie blinken nur kurz und verschwinden. Der Himmel ist in ein faltenfreies Blau gelegt.  Grillen und Pilgergesang, Hundegebell und Kinderstimmen. Ein Junge auf einem Fahrrad bekämpft den Berg – gebückt, als würde er gegen den Sturm fahren. Auf der Hälfte steigt er ab.

Immer wieder wird die Nacht durch das Bellen zerrissen.  Die Frau stopft sich Watte in die Ohren, um Schlaf zu retten. Er sitzt und liest – geht auf den Balkon und raucht. In der Stadt regieren fremde Stimmen. Vom Berg fließen Gesang und Glocken. Die Autos sind kilometerweit zu hören. Wenn sie direkt neben dem Haus um die Kurve fahren hinunter in die schwarze Stadt, werfen ihre Scheinwerfer wanderndes Licht an die Wand über seinem Bett: Aufblende – Abblende. Mitten in der Nacht erreicht eine Pilgergruppe den Berg und betet sich den Hang hinauf: fast tonlos der Wechselgesang. Die Schritte schaben am Asphalt. Am nächsten Tag wird er erfahren, dass sie vierhundert Kilometer gewandert sind. Jetzt, das Ziel vor Augen, werden ihre Schritte leicht. Sie zünden Kerzen an. Das Licht erobert den Hang. Im Haus gegenüber wird ein Fenster geöffnet. Jemand stellt eine brennende Kerze auf die angefressene Fensterbank und winkt tonlos nach unten. Was Gott tut, das ist wohlgetan. Nach einer halben Stunde ist der Hang wieder kahl und schwarz. Auch die Hunde schlafen. Er taucht in den Schlaf. Später hört er die Toilettenspülung wie vom anderen Ende des Berges. Gott schläft.

Der Balkon hat kein Dach. Er steht im Regen und raucht. Einmal im Monat wäscht Gott die Sünden vom Berg, sagt der Mann – das Mädchen übersetzt. Die Frau trinkt Wein. Das Mädchen singt auf Italienisch. Einmal im Monat wäscht Gott die Sünden vom Berg. Dann schweigen die Hunde. Das Wasser schießt den Berg hinunter. Eine Puppe schwimmt auf der Sintflut – die Augen weit aufgerissen.  Er steht im Regen und raucht. Mit einer Hand baut er ein Dach für die Zigarette. Der Mann hustet schwer. Die Puppe tanzt über einem Gullideckel. Dann kommt ein Auto und drückt ihr tiefe Reifenspuren ins Gesicht. Auf dem Wasser rutscht ein Teelicht ins Tal. Oben setzen sie die Kerzen ins Wasser, sagt der Mann durch das Mädchen. Und wenn eine Kerze unten ankommt und noch brennt, ist niemand verloren. Eine brennende Kerze muß ins Tal kommen, auch wenn dann die Stadt abbrennt.

Am nächsten Tag fahren sie ins Nachbardorf. Der Papst kommt von hier, sagt das Mädchen. In dem Haus neben der Kirche bewahren sie seine Ski auf. Sie gehen über den Markt. Er kauft getrocknete Steinpilze. Das Mädchen kauft Brot. Die Frau Blaubeeren. Dann fahren sie zurück. Er sitzt hinten im Wagen und isst die Pilze. Trocken. Abends wollen sie grillen. Auf dem Balkon. Er muss essen, sagt der Mann. Er sieht schlecht aus. Er kann nichts essen. Aber er muss. Er soll Wodka trinken. Das gehört auch dazu. Die Frau erzählt Witze. Das Mädchen übersetzt. Sie lachen. Plötzlich fühlt er sein Herz nicht mehr. Er muss hoch. Ins Bett. Er kann nicht schlafen. Die Hunde bellen. Sein Hals wird eng. Er springt auf, aber das Essen ist schneller oben als er unten sein kann. Auf der Treppe hinterlässt er eine breite Spur aus Grillfleisch und Brotresten. Als er die Toilette erreicht, gibt es nichts mehr, das er noch von sich geben könnte. Er sieht sein weißes Gesicht im Spiegel und verliert den Halt. Die Frau stützt ihn und spricht leise auf ihn ein.

Er fühlt sich schwach. Aber er will auf den Berg. Niemand soll mitgehen. Irgendwo oben warten die Brüste auf ihn. Er will sie berühren und endlich schlafen. Er braucht zwei Stunden für die Strecke, die er schon in zehn Minuten geschafft hat. Die letzten Meter kriecht er: den Glocken entgegen. In der Kirche singen sie und drehen sich zu ihm um, als er – die Kleider mit dem Inhalt seines Magens bespritzt – durch das Portal tritt.