Schreibkraft
Heiner Frost

Lachgas und Schulden

Niemand da? Man weiß nicht, warum alle fehlen. Vielleicht liegt es ja daran, dass sogar dem Kaffeeautomaten die Ideen ausgegangen sind. Nichts ist mehr im Angebot. So beginnen trostlose Tage.

86.600 Euro

Verhandelt wird das Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion in Tateinheit mit besonders schwerem Diebstahl. Ist Automatensprenger eigentlich ein Ausbildungsberuf? 86.600 Euro haben zwei Niederländer erbeutet und irgendwie denkt man sofort an die alte Frau und ihr Strickzeug. Von den beiden jungen Männern ist einer bereits verurteilt.
Die Sprengung mit anschließendem Raub der Geldkasetten fand – man reibt sich die Augen – im fernen Köln-Nippes statt. Ja haben die denn da kein Gericht? Mal den Staatsanwalt fragen. Doch, sicher haben die Kölner eine Gerichtsbarkeit. Aber Anklage kann entweder am Ort der Tat erhoben werden (ein feiner Unterschied: Tatort, Ort der Tat) oder – wie hier der Fall – am Ort der Überstellung eines Gefangenen (in diesem Fall) aus den Niederlanden. Gut. Das wäre dann geklärt. Zum Prozess ist ein Zeuge geladen. Ein Zeuge? Ein Zeuge. Außerdem dabei: Eine Dame von der Jugendgerichtshilfe.

Ein Handbuch

Vielleicht ist heute der Tag, ein Handbuch zum Thema Automatensprengung zu schreiben. Die „Arbeitsgemeinschaft“ bei dieser Tat: Teil einer niederländischen „Verbindung“ junger Männer aus Amsterdam und Utrecht. Der Angeklagte des Tages stammt aus Utrecht. Er ist 21 Jahre alt – die Tat geschah im Februar 2019. Es wird darum gehen, ob in diesem Fall Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht zur Anwendung kommt.
Zurück zur ‚Arbeitsgemeinschaft Automatensprengung‘. Die hatte, erfährt man im Lauf der Verhandlung, einen feststehenden Modus Operandi. Zuerst werden – unter Einsatz eines in Deutschland gemieteten PKW – Tatorte besichtigt. (Später am Tag wird eine Kernvokabel Einzug ins Mündliche halten.)

Sauerstoff und Acetylen

Ist ein geeigneter „Einsatzort“ gefunden, reisen die Täter mit einem (meist) schwarz gestrichenen und ansonsten aller reflektierenden (also auch der Nummernschilder) entledigten Materialien mittels Motorroller an. Im Gepäck: Zwei Gasflaschen. Eine enthält Sauerstoff, die andere Acetylen. Außerdem werden gebraucht: Ein Kuhfuß (das ist eine eiserne Brechstange – nur damit Nachahmer nichts falsch machen und auf der Weide friedliebende Rotbunte amputieren), ein Vorschlaghammer und eine „Lanze“ zum Einbringen des Gasgemisches in den Automaten. Die Täter dieser Arbeitsgemeinschaft tragen, erfährt man, gemeinhin spurenarme Regenanzüge der Marke Hema.

Wer weiß …

Der einzige Zeuge des Tages wird ins Detail gehen. „Erklären Sie‘s aber nicht zu genau“, entfährt es dem Vorsitzenden, „wer weiß, was die Presse damit anfängt.“ Man blickt sich um? Ist doch kein Kollege da. Meint der etwa mich? Also doch das Handbuch schreiben. Jetzt erst recht. Haltstop: Kurz nachgedacht und das Handbuchprojekt verschoben – es wäre ja womöglich Anleitung zum … Die Zusammensetzung des Gasgemischs muss also weiter geheim bleiben. Wahrscheinlich gibt‘s Einschlagendes im Internet. So viel darf gesagt werden: Der Vorschlaghammer dient als Schlüsselersatz fürs Automatenhäuschen.
Zurück zur Arbeitsgemeinschaft: Für einen Raub mit vorgelagerter Sprengung brauchen die jungen Männer in der Regel circa drei Minuten. Schnell verdientes Geld, möchte man meinen, aber die Vorbereitungen sind natürlich auch in Betracht zu ziehen. Immerhin, Spötter behaupten ja auch, Fotografen arbeiteten nur eine Hundertstelsekunde. Es ist eben nicht nur die Tat – es ist der Weg dorthin.
Zurück zum Anfang. Der Angeklagte lässt seinen Verteidiger eine Einlassung verlesen und beantwortet hernach noch Fragen zur Person.

Irgendwie einseitig

Bis zum 18. Lebensjahr legt der junge Mann eine irgendwie bruchlose (übertragen und im wörtlichen Sinn) Karriere hin. Nach der Realschule die Fachoberschule. Jura soll es sein. Nach zwei Wochen die Erkenntnis: Irgendwie langweilig. Irgendwie einseitig. (Vielleicht hätte er das ja besser ausgelassen. Er muss sich nicht selbst belasten.) Dann: Sozialarbeit. Er macht erste Schulden. Die Schulden sind am Ende Teil des Reizes, sich aufs Sprengen und das große Geld einzulassen. Drogen? Er konsumiert Lachgas. (Davon hatte man noch nie gehört.) So viel zur Person.
Anschließend bittet der junge Mann nochmals um das Wort. Es tut ihm leid, was er getan hat. Er hat eingesehen, dass man mit Verbrechen keine Probleme löst. Er hat die Konsequenzen nicht gesehen. (Waren das jetzt schon die letzten Worte? Kommen die nicht erst nach den Plädoyers?)

Baldowern

Dann der einzige Zeuge des Tages. Mit dabei hat er das Wort des Tages. Zuerst benutzt er es – schließlich greift es der Staatsanwalt im Plädoyer wieder auf und schließlich schafft es „ausbaldowern“ zur Urteilsbegründung auch in den Richtermund. ‚Baldower‘, schlägt man nach, bedeutet Kundschafter. Ausbaldowern ist also auskundschaften. Gut, das hätte man gewusst, aber bei der Herleitung hätte es gehapert. (Auch so ein Wort.) Der Zeuge erzählt, wer wo etwas ausbaldowert hat und spricht über die Handschrift der Täter.
Der Zeuge kennt sich aus mit Automatensprengung. Er gehört zu einer Sonderermittlungseinheit. Auf den Angeklagten ist man unter anderem durch die Auswertung eines Chats gekommen. Dass er in Nippes dabei war, belegen – neben den Fotos einer „Sofortbildkamera“ am Tatort – DNA-Spuren, die von einer Sturmhaube gesichert wurden. Die Sturmhaube wurde mitsamt dem für die Anreise benutzten Roller in einem See acht Kilometer vom Tatort entfernt versenkt. Die Absicht „Spurenvernichtung“ hat – sagen wir – nicht wirklich funktioniert. Der Angeklagte ist geständig. Später wird der Staatsanwalt sagen, der Angeklagte habe nur zugegeben, was man ihm auch habe nachweisen können. Der Zeuge: höchst eloquent in Sachen Automatensprengung. (Der perfekte Co-Autor für das Handbuch.) Zu möglichen Hintermännern schweigt der Angeklagte – vielleicht im Interesse der eigenen Sicherheit.

So oder so

Die Jugendgerichtshilfe sieht in Sachen Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht zwei Möglichkeiten: Beides ist vertretbar. Nochmals sagt der Angeklagte, dass es ihm leid tut.
Der Staatsanwalt ist sicher, dass dem Angeklagten mit Erwachsenenstrafrecht beizukommen ist. Der Tatort: ausführlich ausbaldowert. Die Tat: akribisch und professionell vorbereitet und ausgeführt – unter Einsatz gefährlicher Werkzeuge. Schwerer Diebstahl also. Das Geständnis: irgendwie nicht aufsehenerregend. Da gesteht einer, was ohnehin nicht zu leugnen wäre. Lange vor der Tat war der Angeklagte – unterwegs in einem in Deutschland gemieteten Wagen – auf der Autobahn angehalten und befragt worden. „Er hat uns in dieser Verhandlung nicht sagen wollen, wozu dieser Wagen gemietet wurde“, sagt der Staatsanwalt. Das lasse doch irgendwie nur einen Schluss zu. Strafmildernd – strafschärfend – alles wird austariert und führt zu einem beantragten Strafmaß von drei Jahren. Erwachsenenstrafrecht. Keine Frage.

Glasklar

Der Verteidiger sieht die Dinge naturgemäß in einem anderen Licht: glasklares Geständnis, lückenlos. Ja – die Tat ist keine Kleinigkeit. Es bedurfte hoher krimineller Energie, aber: Der sie beging, ist – keine Frage – nach Jugendstrafrecht zu verurteilen. In der U-Haft ist sein Mandant zur Einsicht gekommen. Im sozialen Hintergrund: eine intakte Familie. Alles kann gut werden. Zwei Jahre Jugendstrafe – zur Bewährung auszusetzen.
Der Angeklagte sagt nochmals, dass er bereut, getan zu haben, was er getan hat. „Das Urteil dann in einer halben Stunde“, sagt der Vorsitzende. Es dauert dann doch 50 Minuten. Zwei Jahre, zehn Monate, Haftbefehl bleibt in Vollzug. Jugendstrafrecht. Keine Frage. Man müsse die Äußerungen des Angeklagten durchaus ernst nehmen, man glaube ihm seine Reue und die Einsicht, aber: der das hier und heute sagte, ist ein Gereifter. Zu wenig valide Informationen darüber, ob der Angeklagte zum Tatzeitpunkt entwicklungsverzögert war. Also: Zweifel. Also: im Zweifel Jugendstrafrecht. Die Tat: Natürlich professionell – schon das Ausbaldowern des Tatortes. Und natürlich auch der Rest. Eine solche Tat begehe man nicht aus einer Laune heraus. Es braucht Vorbereitung.

Wie bitte???

All das: hingehaucht aus Richtermund und auf dem Weg zum Berichterstatter unterbrochen durch das Übersetzungsecho. Man blickt auf die gebogenen Drähte auf den Tischen der Beteiligten. Waren das nicht sogenannte Mikrofone? Dienen sie nicht zur Verstärkung akustischer Signale? Vielleicht glaubt ja jemand Viren übertrügen sich durch Schallwellen. Vielleicht ist das Einschalten einfach zu kostspielig. War nicht die Anlage sündhaft teuer? Vielleicht ist sündhaft ja das falsche Wort im Gerichtssaal, aber: Man hätte schon gern mehr verstanden. Man soll ja nicht reinbrüllen, wenn der Richter spricht. Schade eigentlich. Wie gern hätte man das Urteil genauer ausbaldowert.
Auf dem Weg zum Ausgang ein Blick zum Kaffeeautomaten: Alles wieder bestens.

So kann es an einem Tatort aussehen. (Dieses Bild gehört nicht zum beschriebenen Fall.)

 
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