Schreibkraft
Heiner Frost

Justitias Rücksicht

Herr B. muss kauen. Alles muss weg. Da sitzt er (ein Riese) auf der Anklagebank und kaut und kaut …


Was man ihm vorwirft, hat Gewicht: Statur und Tat werden synchronschwer. Es geht um Vergewaltigung, sexuelle Nötigung, Nötigung und Widerstand gegen die Staatsgewalt.
Die Staatsanwältin liest. B. kaut.

Die Vorwürfe

B. soll gegenüber seiner ehemaligen Lebensgefährtin am 15. August 2018 auf dem Gelände der LVR-Klinik Bedburg-Hau – unter Androhung von Gewalt – zu sexuellen Handlungen genötigt haben. Nur einen Tag später soll er sich unbekleidet zu der Wohnanschrift seiner ehemaligen Lebensgefährtin begeben haben und diese – unter Androhung eines Messereinsatzes – vergewaltigt haben. Nur wenige Tage später, am 20. August, soll sich B. erneut unbekleidet zur Wohnanschrift seiner ehemaligen Lebensgefährtin begeben haben. Unter Vorhalt des Messers soll er die Frau aufgefordert haben, sich auszuziehen, was diese sodann auch aus Angst getan haben soll. Der Zeugin gelang es aber, die Polizei zu verständigen, gegenüber der der Beschuldigte übergriffig geworden sein soll. Aufgrund einer psychischen Erkrankung soll nach Darstellung der Staatsanwaltschaft nicht auszuschließen sein, dass der Beschuldigte zu den Tatzeitpunkten schuldunfähig gewesen ist. Ihm droht eine geschlossene und unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB.

Das Leben

Das klingt nicht gut. Es folgt, was nach Verlesung der Anklage immer folgt. Der Vorsitzende belehrt den Angeklagten – erklärt ihm „dass Sie hier überhaupt nichts sagen müssen. Sie werden das sicher mit Ihrem Anwalt besprochen haben.“ Zur Person: Ja. Zur Sache: Nein. Der Richter fragt sich in B.s Leben. Die Antworten: Wenige Silben. Das Nötigste. „Sie haben Ihre Jugend in verschiedenen Kinderheimen verbracht. Wieso waren es verschiedene? Ist da etwas vorgefallen?“ B. möchte dazu nichts sagen. Er möchte auch zum Verhältnis zu seinen Eltern nichts sagen. Der Vorsitzende sagt: „Natürlich müssen Sie uns gar nichts sagen, aber manchmal hilft es uns bei der Beurteilung der Umstände, wenn wir ein bisschen etwas erfahren.“ B. will nichts sagen. „Sie könnten mir das falsch auslegen.“ Er kaut.
Was gibt es in B.s Vergangenheit? Was ist (mit) ihm geschehen? Der Verteidiger lässt durchblicken, dass es um die Dinge gehen könnte, die öffentlich zu erzählen B. nicht gewillt ist. Vielleicht, so der Anwalt, müsse über den Ausschluss der Öffentlichkeit nachgedacht werden. Ein formaler Antrag wird gestellt. B. kaut. Das Gericht zieht sich zurück und verkündet nach Beratung, dass für die Teile von B.s Aussage, bei denen es um heikle Punkte gehe [wieder eine zerkratzte Seele], die Öffentlichkeit ausgeschlossen wird.
Am Eingang zum Saal wird ein Schild angebracht. Kurz schießt es einem durch den Kopf: Warum wird einer, der mutmaßlich vergewaltigt hat, geschützt? Das Gesetz kennt Rücksichten und legt die Augenbinde an. Es ist gleich, auf wen Rücksicht zu nehmen ist. Es wird, wünscht man sich, wenn das Opfer aussagt, auch Rücksicht genommen werden. Später – man hat sich verabschiedet – sagt die Frau aus, aber man hatte längst beschlossen, sich die Geschichte ihres Leide(n)s nicht anzuhören. Vielleicht sollte man erst zum Gutachten wieder anreisen.

Der Ausschluss

Paragraph 171b
Die Öffentlichkeit kann ausgeschlossen werden, soweit Umstände aus dem persönlichen Lebensbereich eines Prozessbeteiligten, eines Zeugen oder eines durch eine rechtswidrige Tat Verletzten zur Sprache kommen, deren öffentliche Erörterung schutzwürdige Interessen verletzen würde. Das gilt nicht, soweit das Interesse an der öffentlichen Erörterung dieser Umstände überwiegt. […]

Abgang

Und dann wären da noch die Plädoyers: Für die Schlussanträge in Verfahren […] ist die Öffentlichkeit auszuschließen, ohne dass es eines hierauf gerichteten Antrags bedarf, wenn die Verhandlung […] oder zum Teil unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattgefunden hat.
Vielleicht an dieser Stelle Herrn B. und seine Opfer mit den Dingen allein lassen und sich nicht alles anhören – nicht weiter darauf herumkauen. Das tut B. schon selbst. Was das Gesetz ihm am Ende aufbürdet, wird sich berichten lassen.