Schreibkraft
Heiner Frost

Jürgen Vogdt: Wolkenkratzen

Jürgen Vogdt: aus der Mimi-Serie. Foto: Lucas Hans

Jeden Tag eine Zeichnung. Jede Woche mindestens ein Buch. („Lesen gehört zur Ernährung.”) Jede Stunde mindestens ein Widerspruch. Jürgen Vogdt: Künstler. Malen ist ein einsames Geschäft. Für die große Masse der Kunstschaffenden bleibt am Ende vom einsamen Geschäft nur die Einsamkeit. Die vogdt’sche Lesart von Gedankenübertragung: „Zeichnen bringt das Gehirn aufs Papier.” Vogdts Linien: Grenzlinien. Gedankenstriche. Seine Kunst: Der Versuch einer Emigration ins eigene Land. („Auswandern kann ich doch nur, wenn ich hier bleibe.”)

Foto: Rüdiger Dehnen

Zwei Minuten

„Was du nicht in zwei Minuten erklären kannst, schaffst du auch nicht in zwanzig.” Ein einstündiges Werkstattgespräch offenbart die enge Mensur einer Berufsbezeichnung: Jürgen Vogdt, Künstler. Atelier und Kunstlager: Tausende Bilder und Zeichnungen. Lebensnachweise. Vogdts Kunstbegriff Schaffen als „Nicht-Lassen-Können“. Die Kunst als das Edle? Eher nicht. („Kunst ist Kommunikation.”) Ein Fluch als Rettung.

Ahnungslos

Vogdt als Jungspund: Irgendwie lässt sich das kaum denken. Die Vorstellung streikt. Vogdts Anfangsentfernung zur Kunst: unendlich. Dann taucht aus dem Nichts der Ahnungslosigkeiten ein Name auf: Beuys. „In Düsseldorf fand damals eine Ausstellung statt. Ich komme da rein und stehe vor dem ‚Stuhl mit Fett‘. Der erste Kulturschock meines Lebens. Ich hatte doch keine Ahnung. Nie Kunst gesehen. Zwei Stunden habe ich den Stuhl umkreist. Das waren meine ersten drei Semester.” Einbruch ins Allerheiligste des Kunstbegriffs. So fing alles an …

Schund

Fragen nach der Kunst stellt man besser nicht. Kunst ist Phantasie im organisierten Zustand. Und die Inspiration? Lesen. Am liebsten amerikanische Krimis. Vogdt nennt das Schund und es klingt fast wie ein Qualitätsmerkmal. „Was ich brauche: Erzählung pur – keine Literaturversuche.” Das sagt ein bekennender Joyce-Fan. Kein Ding kann ohne sein Gegenteil gedacht werden. Das Gegenteil von Vogdt ist … Vogdt. Kaum ein Buch in seinen Schränken und Regalen, zu dem es keine Zeichnung gäbe oder ein Bild. Interpretation mit einem anderen Stift. Denken in Linien. Jede Zeichnung: Erinnerung an das, was nicht gelebt werden kann. Jedes Bild: Erinnerung an das, was das Leben übrig lässt. Lieblingsfarbe: Rot.

Kartoffeln

Vogdts Kunst: eine weite Landschaft: Weidelandschaft: ein Leben aus Hinsehen. Vogdt ist ein Gewächs vom Niederrhein. Müsste er eine Pflanze sein – er wäre Kartoffel: Über der Erde giftiges Gestrüpp. Unter der Erde das Eigentliche: Delikatesse unter Tage. Vogdt ist kein Herdentier, aber auch als Hirte wäre er eine Fehlbesetzung. Vogdt: Ein Wolf, mit dem keiner tanzt. Ein Ei ohne Schale. Einer wie Vogdt ist unzumutbar – am meisten für sich selbst. („Als Künstler bist du eine Art Insekt.”)

Foto: Rüdiger Dehnen

Meinen Bildern ist egal, wer sie gemalt hat

Wie sieht sich Vogdt im Spiegel? „Grandios gescheitert.” Letzter Wille: „Bevor man stirbt, die Tür zumachen und alles anstecken.” (Daraus ist zum Glück nichts geworden.) Und die Bilder? „Meine Bilder wissen nicht, dass es sie gibt”, sagt Vogdt und ergänzt: „Meinen Bildern ist egal, wer sie gemalt hat.“

Es hat sich nichts ergeben …

Ein Niederrheiner bewegt sich nicht weit. Die Region ist die Welt, und die Welt ist die Region. („Auswandern kann ich nur, wenn ich hierbleibe.”) Die letzte Vogdt-Ausstellung liegt Jahre zurück. („Es hat sich nichts ergeben.“) Jetzt wird er gezeigt. Groß. An prominenter Stelle. Jetzt ist er tot. („Meinen Bildern ist egal, wer sie gemalt hat.“) Den Bildern vielleicht. Anderen nicht. Vogdt ist Erfinder einer ästhetischen Welt, die sich aus ihrem Drumherum speist. Einer wie Vogdt atmet Leben ein und Kunst aus. Vogdts Kunst ist gemalt, gezeichnet, gedacht, geschrieben, verloren, verwundet, verwundert, verbrannt, vergessen. Kunst als Viertaktmotor: Ansaugen, verdichten, zünden, ausstoßen …

Fälsch dir einen Vogdt

Reagiert Vogdt auf die Welt oder ist es umgekehrt? Das richtet sich nach der Tagesform – nach dem Verschwinden im Denken. Manchmal wird Vogdtsches Denken auf dem Papier wiedergeboren. Vogdt hätte gern einiges aus meiner Sammlung zurück: Das Problem: Er kann es sich nicht leisten. „Fälsch dir einen Vogdt“, sage ich. „Dafür bin ich nicht gut genug“, sagt er. „Kauf dir einen Vogdt“, sage ich. „Kann ich mir nicht leisten“, sagt er. „Pech gehabt“, sage ich.

Rarität

Vogdt taugt nicht für den Markt. Er istwar vielleicht zu fleißig. Wert entsteht durch Rarmachung. In Vogdts Kunstscheune lagern Bilder und Zeichnungen zu Tausenden. Irgendwann in den Siebzigern brannte ihm das Lager aus. Frühvogdt gibt es seitdem nicht mehr. Das wäre also ein Ansatz: Frühvogdt als unbezahlbare Kunstrarität. Das Feuer hat kein Gedächtnis. Alle Werke aus der Nachbrandzeit: Unverletzt erhalten. In Schubladen. Kisten. Schränken. Mappen. Die Scheune ist so voll, als wäre das Feuer nie zu Besuch gewesen.

Foto: Rüdiger Dehnen

Einsamkeit

Malen ist (auch) Auseinandersetzung mit der Einsamkeit. Mit der Verzweiflung. Mit dem eigenen Kern. Mit dem Leben der anderen. Mit der Kunst der Welt. Mit dem Kühlschrank. Mit der Flasche. Mit der Wahrheit. Mit der Täuschung. Vogdt ist ein Luftballon auf der Suche nach Stecknadeln. Ein anderer Viertakt: Zustechen. Peng! Luft raus. Abwarten. Vogdt pumpt sich wieder auf. Ein Stehaufmännchen. Nach außen. Innen arbeitet ein Seismograph, einer, der – abseits von der eigenen Erschütterung – Schwingungen aufspürt. Vogdt sagt: „Zeichnen ist wie Klavierspielen. Du musst täglich üben.”

Finale oder: Zwei Ringbücher

Da liegen sie: zwei schwarze Ringbücher: 42 Zentimeter breit, 29,5 Zentimeter hoch ist jedes Blatt. „Nachmittage” steht auf der ersten Seite des ersten Buches. Dann die Zeichnungen: Protokolle eines Verschwindens. Jede Zeichnung mit einem Titel und einem Datum versehen. Alles ist voll Energie. Alles ist voll Abschied. Letzte Grüße. Die erste Zeichnung: ’schwarz wald, 9 22′. Noch drei Monate bleiben dem Zeichner.

Still halten

Vielleicht darf man all das nicht pathetisch sehen. Vielleicht muss man einfach ruhig bleiben. Stillhalten. 20 Zeichnungen – dann nur noch leere Seiten. Wie im Frieden … Die Titel: Wegweiser? Manche lesbar – andere nicht zu dechiffrieren. Es ist diese Schrift, die immer schon eine Zumutung war und sich dem Lesen widersetzte wie der Künstler auch. Eindeutigkeit ist für andere. Grundbedingung für Annäherungen: Hineinversetzenwollen. Echo werden. Beim Vogdt-Echo kommt nicht zurück, was vorgesagt wurde. Er ruft „Hallo” – zurück kommt: „Tschüss”. Vielleicht. Er ruft „Du kannst mich mal” – zurück kommt: „umarmen, vielleicht”. Vielleicht. Oder: „Sagjetztwas”. Vielleicht. Oder: „Hallo”. Vielleicht. Der Gedanke am Ende des Stiftes: Allein ist nicht allein genug. Zeichnen: Leben mit anderen Mitteln. Zeit verdunsten. Die Kraft der Vorstellung kombiniert mit der Unwucht des Erlebens.

Wohltemperiertes Glühen

Die Zeichnungen: betäubend. Betäubt. Wohltemperiertes Glühen. Ohne nachlassende Energie. Unfassbar. Zum Heulen eher als zum Lachen. Kraftvoll versiegend. Ein Lebenstrümmerfeld? Nein! Aufgeben ist nicht Teil des Plans. War es nie. Niemals. Wer weiß schon, woher die Titel kommen? Assoziationen eines Augenblicks: jeder einzelne. Manches poetisch: „meerwärts”. Manches kämpferisch: „Glut”. Alles hat eine Richtung: ungeahnt. Unbekannt. Man fragt sich, was am Ende eines Lebens mit dem Denken passiert: mit den Hoffnungen, mit den Gewissheiten, die niemals welche waren. Niemals wissen, wohin. Immer wissen, wohin nicht. Zwei schwarze Mappen: Kein Vermächtnis, obwohl es sich leicht so lesen ließe. Tränentreibend wäre das. aber man muss Vogdt nicht mit dem Tod aufblasen, um Energie zu spüren. Vogdt: Weiterleben auf Papier.

Energiebeweis

Man steht in einer Scheune – umgeben von tausenden Arbeiten. Zeichnungen, Bilder, Objekte. Jedes Stück ein Energiebeweis. Hätte er’s nicht gemacht, denkt man: Er hätte platzen müssen. Alles muss raus, denkt man. Da malt einer, weil er nicht anders kann. All das, denkt man, hätte gereicht, um zwei Leben zu füllen. Aber neben dem Kunstvogdt gab es noch den anderen Vogdt. Falsch: eine Scheinidee. Ein totes Gleis. Es gab immer nur einen Vogdt. Alles gehorcht dem Viertaktprinzip: Ansaugen, Verdichten, Arbeiten, Ausstoßen. Vogdt – ein Kunstmotor.

Am Ende

Januar 2023: Ein letzter Anruf. Das Telefon schellt. „Hier ist Jürgen. Das ist unser letztes Gespräch.” Die Stimme: eine fernschwache Botschaft. Vogdt – ein Verschwindender. Man steht und erstarrt. Sprachlosigkeitenstille. „Kann ich zurückrufen? Morgen vielleicht?” „Wahrscheinlich nicht. Sag jetzt etwas.” „……… gute Reise ……..”

Sollen wir mal einen Termin machen?

„Wir wollten doch immer mal den Vogdt besuchen”, sagt Harald Kunde. „Sollen wir mal einen Termin machen?” „Wie viel Zeit hast du? Wie weit willst du reisen?”, frage ich. „Wieso?” „Vogdt ist tot. Verstreut irgendwo.” Asche in meinem Hirn. Ein Freund ist abgereist: jetzt wohnt er bei den kleinen Traurigkeiten. Es bleibt, was bleibt, wenn man einen Freund verliert … Eine der letzten Zeichnungen: Grenzwelt. Jetzt arbeitet er anderswo: Wolkenkratzen …

„Nein, ich glaube nicht, dass meine Arbeit notwendig ist; dennoch muss ich sie tun. Sie ist meine Reflexbewegung des Widerstandes gegen das Grausige, Lächerliche, Unentwirrbar Dunkle innerer und äußerer Welt. Sie ist der natürliche Ausdruck meiner Freude am Geschenk des Daseins und meines Zweifels am Wert dieses Geschenks. Sie ist ein so wesentlicher Teil von mir, dass ich mich selbst verneinen müsste, wollte ich sie je verneinen. Dazu fehlte mir ja auch eventuell nicht die Lust, aber die Kraft.” (Alfred Polgar)

Katalogtext zur Ausstellung: „Lebenslinien. In Memoriam Jürgen Vogdt“ im Museum Kurhaus Kleve. 25. November 2023 bis 7. April 2024

Die Ausstellung „Lebenslinien – In Memoriam Jürgen Vogdt“ wird am Freitag, 24. November, um 19.30 Uhr eröffnet. Roman Yusipey (Akkordeon) und Anja Speh spielen die Uraufführung „Wolkenkratzen“. Das Stück entstand für die Ausstellung.