Schreibkraft
Heiner Frost

Intensivstation Theater

In der Küche hinter der Bühne stehen Rosen bereit. In ungefähr 45 Minuten werden Crischa und Sjef sie denen übergeben, die jetzt auf ihren Auftritt warten. Es sind die Schüler der Klasse 7 der Euregio Realschule in Kranenburg.

Zusammenwachsen

Sharon van Willigen ist Lehrerin in der Klasse 7. Ihr Grund, mit mini-art das Projekt zu machen: „Ich wollte gern, dass die Klasse zusammenwächst. Wir haben mit drei Klassen unserer Schule eine Vorstellung von mini-art besucht. Dann war für mich klar: Wir machen das. Ich habe Anträge gestellt und es hat funktioniert.“

Zentralperspektive Schüler

Eine Woche hat die Klasse gearbeitet. In einer Woche haben alle – zusammen mit Crischa Ohler und Sjef van der Linden – das Stück entworfen, entwickelt und geschrieben, das sie gleich aufführen werden. Das Manuskript, das in dieser Zeit entstanden ist: Zehn Din-A4-Seiten, 25 Szenen: Besichtigungen der Welt aus der Zentralperspektive des Schülerseins. Das Publikum: Zwei weitere Klassen der Euregio Realschule. Als der Bus am Theater mini-art vorfährt, regnet es in Strömen. Der Wetterumschwung: das Präludium. „Stell dir vor … die Klasse 7“ – so heißt, was gleich gespielt wird.

Potzblitz!

Kann man in einer Woche ein Theaterstück einüben? Crischa Ohler beantwortet die Frage für das Publikum und Sjef van der Linden übersetzt die Antwort ins Niederländische. Das ist das Schulsystem: Es geht zweisprachig zu. „Wenn wir ein existierendes Stück genommen hätten, würde es nicht funktioniert haben“, erklärt Crischa und das niederländische Echo antwortet. „Alles, was ihr gleich seht und hört, ist in einer Woche hier entstanden und alle Texte haben die Schüler selbst geschrieben.“ Potzblitz, denkt man: Von Null auf Hundert in einer Woche: keine leichte Aufgabe.
Dann beginnt die Aufführung. Manchen der Schauspieler merkt man an, dass sie sich wohlfühlen auf der Bühne – andere scheinen sich zu jedem Wort, zu jeder Bewegung erst überreden zu müssen. Im Rampenlicht zu stehen, ist keine einfache Sache. Das Stück: Eine Reise durch eine wolkenverhangene Schulwelt. Erzählt wird von einer Klassenfahrt, die nicht gut gelaufen ist; von Mobbing und der Angst vor der Angst. Fragen werden gestellt: Was wünsche ich mir für die Welt? Für mich selbst? Für meine Klasse? Es geht um die Selbstakzeptanz, ums Ausgeschlossenwerden und Ausgeschlossensein – um das, was ‚Soziale Medien‘ genannt wird.

Angst

Szene 4: „Es war einmal ein Mädchen. Das wurde seit der Grundschule gedemütigt, weil sie nicht ‚die Schönste‘ war. Jeder hat sie ausgelacht und gemobbt. Sie wurde geschubst. Ihre Taschen wurden auf den Müll geworfen. Als sie älter war, wollte sie wegen ihres Aussehens operiert werden. Angst ist ein hässliches Wort. Und trotzdem so wahr. Jeder kennt sie. Auf seine eigene Art. […] Ich hoffe für dich, dass du das nicht hast. Aber falls doch, dann glaub mir – du bist nicht allein. Irgendwo auf der Welt gibt es jemanden, dem du dich anvertrauen kannst. Du musst nur die richtige Person finden. Viel Glück dabei.“
Ein kleiner Junge wird von einem größeren ausgeraubt: Muss Geld und Handy abgeben und wird am Schluss – am Boden liegend – getreten. Was ist das für eine Welt, denkt man? Das Stück: Schwarz. Irgendwie. Da ist dieser Spalt, durch den man in zerkratzte Seelen blickt. Es ist der Blick in eine angstgefüllte Welt.

Du bist das Problem

Szene 10 – ein Dialog: „Der Lehrer gibt mir die Strafe und dir nicht.“ „Der Lehrer mag mich einfach.“ „Das hat damit nichts zu tun.“ „Doch.“„Warum bin ich überhaupt noch dein Freund, wenn du nie auf meiner Seite stehst?“ „Also … ich bin das Problem?“ „Ja. Du bist das Problem, ja.“ …
Ein Raum voller Verwundeter. Die da auf der Bühne agieren, sind irgendwie Kriegsberichterstatter, denkt man – Ausgewiesene aus dem Seifenblasenland. Das Theater: eine Intensivstation auf seelischer Ebene. Was wünschen sich diese Jugendlichen für die Welt? „Dass wir die Welt nicht zerstören. Dass wir Vorurteile und Hass überwinden. Dass jeder glücklich ist – auch die Tiere.“

Frieden in meinem Kopf

Was wünschen sie sich für das eigene Leben? „Ein Haus. Freunde. Glück. Money. Frieden. Gute Arbeit. Etwas Sinnvolles tun. Dass sich meine Eltern vertragen und Freunde bleiben.“
Ein Film läuft ab: Familienfhede – die Kinder als Kollateralschäden. Immer am Rand eines Abgrundes, der alles Familiäre verschlingt. Und dann dieser einer Satz, der sich liest wie ein Brandzeichen: „Frieden in meinem Kopf.“ Hinter fast jedem Wunsch, denkt man, steckt eine kleine Katastrophe, denn jeder wünscht sich, was er nicht hat.
Längst ist man an einem Punkt angelangt, an dem Sprachlosigkeit in den eigenen Kopf einzieht. Da haben Kinder eine Woche lang in ihrem Leben gegraben und man hofft, dass es da auch helle Flecken gibt: Freudenorte. Es muss sie geben, weil alles andere unaushaltbar, unertragbar wäre. Auf der Bühne: Energie. Irgendwie. Alles muss raus.
Szene 21: Kaputt. Wir schreiben das Jahr 2055. Alles kaputt. Die Menschheit hat die Erde kaputtgemacht. Es gibt kaum noch Tiere … und wenige Pflanzen. Alles, alles kaputt!!! Es ist überall Hungersnot, weil die Menschen überall ihren Müll liegen gelassen haben.“
Am Ende: Die Rosen. Der Applaus. Die Erleichterung. Und – vielleicht – in manchen Köpfen das Gefühl: etwas erreicht zu haben. Man klatscht für: Alan, Ben, Dayton, Dewi, Emil, Fedde, Finn, Iliya, Isabell, Lea, Lot, Louise, Mila, Mina, Noor, Sophie.

Crischa Ohler, Regisseur Rinus Knobel und Sjef van der Linden.

Theater mini-art im Internet

mini-art Theaterprojekte mit Kindern und Jugendlichen

Das Theater mini-art bietet theaterpädagogische Projekte für alle Schultypen und -stufen, für Gruppen aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie, aus der freien Jugendarbeit etc. an, in denen die Teilnehmer*innen unter der Leitung von zwei erfahrenen Theaterpädagogen und Regisseuren ihre eigenen Stücke bzw. Szenencollagen entwickeln, schreiben und aufführen.

Kulturelle und emotionale Bildung als Grundgedanke eines demokratischen Zusammenlebens ist wichtig für Kinder und Jugendliche. Selbst wir als Erwachsene sind momentan oftmals stark verunsichert und ratlos, wie sich unserer Gesellschaft weiter entwickelt. Wie können wir Kinder und Jugendliche stark machen? Sie darauf vorbereiten eigene Werte, ein gesundes Selbstvertrauen und ein Gefühl für ein Miteinander zu entwickeln und eigene Entscheidungen zu treffen?

Die Theaterprojekte haben immer Themen aus dem eigenen Erfahrungshintergrund der Kinder und Jugendlichen als Ausgangspunkt: Gewalt, Liebe, Identität, Vorurteile, Mobbing, Inklusion, Grenzen, Lebensperspektiven etc. Die Themen werden in Vorgesprächen mit den Lehrer*innen und möglichst auch mit den Schüler*innen vorbereitet.

Die Arbeit mit den Kindern/ Jugendlichen während der Projektwoche umfasst Textarbeit, Körperarbeit und Sprecherziehung sowie die inhaltliche Auseinandersetzung.

Zum einen geht es dabei um die Vermittlung von Grundlagen des Theaterspielens, zum anderen um die Erarbeitung eines gemeinsamen Themas, das im Vorfeld ausgewählt wird und zu dem die Teilnehmer*innen eigene Texte schreiben, die von den Dozenten von mini-art bearbeitet und zur Weiterarbeit in die Gruppe zurückgegeben werden. Aus diesem Material werden dann Monologe, Dialoge, Szenen, Choreografien etc. entwickelt.

Bei diesen Projekten erfahren Kinder und Jugendliche Theater als sinnliches Medium der Wahrnehmung, der Reflexion, der Auseinandersetzung und der Darstellung. Sie werden in ihrem kreativen Potential gefördert, aber vor allem auch in ihrem Selbstwertgefühl, ihrem Verantwortungsbewusstsein, ihrem Sozialverhalten, ihrer Integrationsbereitschaft. Wir definieren dabei die Theaterarbeit immer als Wachstumsprozess für den Einzelnen und für und durch eine Gruppe.

Die Projekte finden in den Räumen des Theaters statt, sodass die Kinder und Jugendlichen die Theatermittel wie Bühne, Licht, Ton, Fundus kennen lernen und unter professionellen Bedingungen arbeiten können. In der Regel dauern diese Projekte eine Woche (5 Tage) und finden täglich in fest vereinbarter Arbeitszeit statt.

Die in den Projekten entstandenen Szenencollagen werden am Ende mehrere Male vor öffentlichem oder halböffentlichem Publikum aufgeführt. „Die Lernerfahrung im ästhetischen Gestaltungsprozess sind intensiver, wenn es nicht nur um das Spiel, sondern auch um das Gestalten eines Kunstproduktes geht, das wiederum Mitteilungscharakter hat.“ (W. Sting)