Herr A. hat Schreiner gelernt und arbeitete in einem Küchenstudio. Herr A. hat zwei Schwestern: Eine ist bei der Kripo, die andere ist Erzieherin. A.s Vater: verstorben. Das Verhältnis zu seiner Mutter, sagt A., „könnte nicht besser sein“. A. sagt auch: „Ich bin ein familiärer Mensch. So weit – so gut.
Ein unbeschriebenes Blatt
A. spricht leise. Er spricht nicht nur leise. Irgendwie scheint er ein leiser Mensch zu sein. Unauffällig irgendwie. A. ist die Blaupause für das unbeschriebene Blatt, denkt man. Er raucht nicht, trinkt nicht, nimmt keine Drogen. Er hat keine Vorstrafen. Einer, der nie aufgefallen ist.
Und dann – seine dritte Partnerin ist schwanger – trennt er sich von ihr. Es ist der Heiligabend des vergangenen Jahres. A. hatte vorher zwei andere Frauen – hat mit jeder ein Kind. Drei Monate nach der Trennung – es ist jetzt Mitte März 2023 – möchte Vera, A.s letzte Freundin, noch ein paar Sachen aus der Wohnung abholen, in der die beiden zusammen gelebt haben. Es ist der 15. März. Vera kommt zu A.s Wohnung. A. hilft beim Packen. Alles irgendwie normal. Dann fährt Vera los und A.? Der holt ein Messer, setzt sich in seinen Wagen und folgt Vera. Irgendwann überholt er deren Wagen, bremst ihn aus, steigt aus seinem Auto, geht zu Veras Wagen – das Messer, das sie nicht sehen kann, hat er in der Hand. Sie habe etwas vergessen, sagt er. Sie öffnet das Fenster der Fahrertür – da beginnt A., auf die völlig ahnungslose Frau einzustechen. Er sticht der schwangeren Frau in Kopf und Hals. Fügt ihr erhebliche Stich- und Schnittwunden im Gesicht, am Hals und am Oberarm zu. Irgendwann gelingt Vera die Flucht. Sie fährt ihr Auto auf den real-Parkplatz in Rees. Sie hat einen Notarzt gerufen. A. folgt Veras Auto. Als sie zum Parkplatz fährt, biegt A. ab. „Wollten Sie sie töten?“, fragt der Vorsitzende und man glaubt, ein „Ja“ gehört zu haben. Ein Angriff aus heiterem Himmel … andererseits: Der Himmel über A. und Vera kann nicht heiter gewesen sein.
Kein Reim
A.s Stimme: längst verschwunden. Er kann sich keinen Reim machen auf die Tat – seine Tat. Gewalt, sagt er, sei nie ein Thema gewesen. Vera und er, sagt A., hätten herausgefunden, dass sie nicht zueinander passen. Dann: die Schwangerschaft. Sie habe das Kind gewollt. Er nicht. Im November 2022: eine erste Trennung. Vera zieht aus. Kommt später zurück. Heiligabend 2022 das endgültige Beziehungs-Aus. Drei Monate später: die Tat.
Taten wie diese lassen einen ratlos zurück. A.s Aussage hinterlässt nichts als Fragezeichen. Vielleicht, denkt man, wird, wenn Vera aussagt, ein anderes Bild entworfen, aber es bleibt dabei: A. war nie gewalttätig. Man kann ihn und diese Tat nicht synchronisieren. Irgendetwas versperrt die Einfahrt zum Verstehen.
Auch das psychiatrische Gutachten kann A.s Handeln nicht erklären. Da sitzt einer, der auf die Frage des Vorsitzenden „Wollten Sie die Frau umbringen?“ mit „Ja“ antwortet. Jetzt kann er sich keinen Reim machen. Nicht auf die Tat. Und vielleicht nicht auf sich selbst. „Wie geht es Ihnen in der Untersuchungshaft?“, fragt der Vorsitzende und A. sagt: „Gut.“
Danke fürs Gespräch
Da sitzt einer, der seinem Opfer später am Tattag eine Nachricht schreibt: „Danke für das gute Gespräch.“ Man ist fassungslos. Was, wenn A. einen Tumor im Hirn hätte? Man erfährt: Nie vorher hat es irgendein Anzeichen gegeben und nie danach.
A.s Befragung durch den Vorsitzenden: Ein Zusammenstückeln des Gewesenen. „Was haben Sie gemacht?“ „Ich habe mich ins Auto gesetzt und bin ihr gefolgt.“ „Und dann?“ „Dann habe ich sie überholt.“ „Und dann?“ „Dann bin ich ausgestiegen.“ „Und dann?“ „Dann habe ich an die Scheibe der Fahrertür geklopft.“ „Und dann?“ … Ein Mosaik zum Selbstzusammenbau, aber: Die Anleitung fehlt. Man gräbt in den Erinnerungen. Man hat über viele Prozesse berichtet. Das hier ist irgendwie beispiellos. Das hier ergibt keinen Sinn. Eine schwangere Frau. Sie möchte das Kind. Der Vater: Er möchte das Kind nicht. Ist das ein Grund, mit dem Messer auf die werdende Mutter einzustechen? War da ein Narzist am Werk? Einer, der mit Zurücksetzung nicht umzugehen gelernt hat?
Die Trennlinie
Man erfährt, wie dünn die Trennlinie zwischen Leben und Tod war. A.s Messer: eingedrungen in die Fettschicht, verfehlte Veras Hauptschlagader nur um Millimeter. Der Tod also in allernächster Nähe. Die Staatsanwaltschaft sieht am Ende einen versuchten Mord. A.s Opfer: völlig arglos. Die Strafe: Lebenslänglich. Das Urteil: Zehn Jahre wegen versuchten Mordes, gefährlicher Körperverletzung und versuchten Schwangerschaftsabbruchs. Veras Kind, das ja auch A.s Kind ist: Auf der Welt. Noch ahnungslos, aber die Zeit des Fragens wird kommen. „Mama, wer ist mein Papa?