Schreibkraft
Heiner Frost

Haldern Pop – ein Plädoyer

Natürlich hatte „Satchmo“ Recht: „Doesn‘t matter what you play. It does matter how you play it.“ Satchmo – das war der Mann mit der Trompete und der Stimme, die klang, als sei einer auf einem Noppenfeld unterwegs – der, der irgendwie in keine Schublade passte. („Es interessiert nicht, was du spielst – wichtig ist, wie du es spielst.“) Nichts kann wahrer sein.

„Alles hängt mit allem zusammen“, sagt Stefan Reichmann. (Is‘ klar, denkt man.) Und dann sagt er: „Übrigens – der Sack Reis in China ist umgefallen.“ Festivals gibt es längst viele – aber natürlich gibt es kaum mehr Publikum. Was bei einen Event anreist, fehlt anderswo. Die Augen zu verschließen bringt nichts. „Und natürlich sollen die Jungen auch Festivals machen“, sagt Reichmann. Der Sack Reis aber steht nicht in China. Er steht gleich nebenan. Ignoranz wäre fatal, denn: Die Kapazitäten sind endlich.
Die gute Nachricht: Die Phantasie ist es nicht. Haldern Pop ist eines der Festivals, die Phantasie zeigen. Immer wieder. Jedes Jahr. Aber: Nichts ist selbstverständlich. Tausend Karten sind noch zu haben. Ist das der Untergang? Wenn man Pessimist ist, vielleicht. Aber Haldern ist eine Wundertüte.

Überraschung

„Ein gutes Festival“, sagt Stefan Reichmann, „hat immer auch etwas mit dem Unerwateteten zu tun.“ Aber: Die Leute wollen sich auch im Erwartbaren wohl fühlen. „Als ich jung war, habe ich bei Partys aufgelegt“, blickt Reichmann zurück. „Das darf ich schon lange nicht mehr. Die Leute sagten irgendwann: ‚Wenn wir Party machen, wollen wir die bekannten Sachen hören. Du kommst immer mit dem Zeug, was niemand kennt.‘“ Klar – ein Festival wie Haldern ist immer auch ein Stück Party: Du triffst alte Bekannte – auf dem Platz, auf der Bühne. Aber wer sich nur noch im Bekannten aufhält, vereinsamt.
Zeit für Mahler: „Tradition ist die Bewahrung des Feuers – nicht die Anbetung der Asche.“ Mahler? War das der aus Wien? Genau. Und wer weiß, wenn‘s Mahler noch gäbe, vielleicht würde einer wie Reichmann ihn nach Haldern holen. Die Mischung macht‘s. Bachs Musik haben sie schon gespielt in Haldern. In diesem Jahr: Beethoven und Schostakowitsch. Ja, sind denn die total bekloppt? Kempowski würde antworten: „Ja, aber gut bekloppt.“

Kompatibel?

Es ist nicht wichtig, was du spielst. Was zählt ist, wie du es spielst. Die Leute merken, wenn einer brennt. Haldern war, ist und wird hoffentlich weiterhin ein Labor fürs Fantastische bleiben.
Wenn Reichmann über Festivals spricht, merkt man, dass es verschiedene Ansätze gibt. Du kannst ein Festival aus der Sicht des Publikums sehen, aus der des Machers und aus einer irgendwie ganz persönlichen. Nichts von den dreien ist alleinseligmachend. Es gibt kein Patentrezept – nicht für Hits, nicht für Festivals. Wer spielt auf der großen Bühne, wer auf der Kleinen? Wer füllt das Große, wer das Kleine? Was ändert sich, wenn Musiker vom Kleinen ins Große wachsen? Muss, was massenkompatibel ist, entseelt sein? Natürlich nicht. Egal, was du spielst – es zählt, wie du es spielst.
Natürlich schauen sich Leute im Internet an, wer alles dabei ist – hören sich die Musik an. Gut so, denn man kann in Haldern nicht alles schaffen. Was zählt ist trotzdem, dass man nicht nur das Erwartete mitnimmt. Das Überraschende macht den Unterschied – das, womit man nicht gerechnet hat.

Durch die Decke

„Ich finde es schade, dass es viel zu oft nur darum geht, wer bei uns war und anschließend durch die Decke gegangen ist. Wir hatten Konzerte, die waren einfach unglaublich – und trotzdem hat man von den Leuten später nichts gehört“, sagt Reichmann. Natürlich ist es anstrengend, selbst hinzuhören, aber eben das macht es aus. Wer nicht wieder lernt, sein eigener Influencer zu sein, schwimmt im Strom und verpasst vielleicht das Außergewöhnliche. Das Plakat für Haldern Pop 2019 ist ein Infragestellen des Glattgeleckten. Da finden sich Rechtschreibfehler, die dann – ganz wie beim Diktat – angestrichen werden. Das Ganze sieht aus wie ein Plakat auf Probe. Als Reichmann den Entwurf zeigte, glaubte jeder, dass es eben ein Entwurf sei. Man muss begreifen, dass dieses Plakat ein Entwurf des Realen ist. „Ausreichend +“ steht noch da, als hätte ein Lehrer seine Spur hinterlassen.
Headliner? Natürlich gibt es Headliner beim Haldern Pop. Auch das brauchst du. „Aber“, fragt Reichmann, „wer macht denn die Headliner? Und kann nicht Haldern Pop ganze andere Headliner haben als ein anderes Festival?“
Das ist ein Pochen an die Festival-Weltordnung. Aber Türenöffnen fängt immer mit Anklopfen an. Die Welt ist nicht mit einem Nein zu entwickeln. Es braucht das Ja. Und dass es noch Karten gibt für das Haldern Pop, das ist auch eine Chance. Für die, die noch keine haben, aber auch für die, die über das Festival nachdenken. Automatismen gibt es längst nicht mehr. Wer daran glaubt, ist wahrscheinlich ignorant.
„Wir glauben jedes Jahr daran, dass wir das beste Programm der Welt haben“, sagt Reichmann. Das ist nicht arrogant – das ist der Wahnsinn der Begeisterung. Ein Festival braucht das: die Träumer, die Bedenkenträger, die Denker, die Macher, die Mischung. „Ein Festival ist wie ein Dorf“, sagt Reichmann: „Wenn‘s gesund ist, ist Platz für alle.“
Egal, was du spielst. Was zählt ist, wie du spielst. In diesem Sinne: Karten gibt‘s noch. Und wer vom 8. bis zum 10. August noch nichts vorhat und an Überraschungen glaubt, sollte einfach mal hingehen. Es dürfte sich auch in diesem Jahr lohnen.

Die eigene Spur

Haldern hat ein spezielles Publikum. 35 Jahre Festival hinterlassen Spuren im kollektiven Gedächtnis. Längst ist ein unsichtbares Erbe entstanden – eines, das den Bogen weit über das Gehörte spannt. Haldern schreibt Musikgeschichte und ist noch dazu ein niederrheinisches Gesamtkunstwerk. Das Festival ist kein Bambus – nichts, das rasant wächst und ein dann ungebremstes Eigenleben führt. Haldern Pop ist langsam gewachsen und zur eigenen Spur geworden. Das heißt nicht, dass immer alles gut und richtig ist. Aber die Halderner sind vorsichtig. Nicht im ängstlichen Sinn. Es geht um Entwicklung in kleinen Schritten. Über Wachstum ist viel diskutiert worden, aber Haldern ist irgendwie vorsichtig unbeugsam. „Prosperierende Orte sind mutig, energetisch und selten fehlerfrei“, sagt Stefan Reichmann. Fehler müssen – bei aller Vorsicht – gemacht werden dürfen. Sie sind Teil einer funktionierenden Entwicklung. „Prosperierende Orte sind im besten Fall randvoll mit Optimisten und einer Handvoll Speptikern, um nicht in Niedlichkeiten zu ertrinken“, sagt Reichmann. „Tradition ist die Bewahrung des Feuers und nicht die Anbetung der Asche“, sagt Mahler. „It doesn’t matter what you play – what counts is how you play it“, sagt Satchmo. Provinz findet nur im Kopf statt. Sagt der Autor.