Schreibkraft
Heiner Frost

Goldene Hochzeit

Foto: Ingo Schaefer

Im Fernsehen: Die Exhumierung einer zerbröselten Erinnerung. Gottschalk. In Düsseldorf: Goldene Hochzeit. 50 Jahre Hans van Manen. Man ist als Pilger angereist. Ganz ohne Präsente, denn bei dieser  Feier wird, denkt man, das Publikum beschenkt. Die deutsche Oper am Rhein – eine Wallfahrtsstätte. Reliquien gibt es trotzdem keine. Das Leben wird gefeiert. Der Tanz. Der Esprit. Das Unverwüstliche. Da dreht ein ganz Großer die Ehrenrunde. Alles ist Zugabe. Geschenk. Da ist einer mit der Bühne verheiratet. Bis dass der Tod euch scheidet …

Keep Going

Es wird jetzt also von einer Gala die Rede sein. Sie kommt daher im Gewand eines Festaktes. Dergleichen folgt unerbittlichen Ritualen, zu deren schlimmsten Ingredienzien die Reden gehören. Hans van Manen, wir werden es drei Mal hören, schuf 1971 sein erstes Ballett für die Düsseldorfer. „Keep going.“ Das erste van-Manen-Ballett außerhalb der Niederlande. Startschuss für den Weltruhm.

Man sollte über Ballett nicht groß reden. Auch über die Choreographen nicht. Man sollte keinesfalls Sätze sagen wie: „Im Mittelpunkt seiner Kunst steht der Mensch.“, Das ist eine Art Entmündigung des Publikums, denn der Redner scheint ja zu glauben, dass man sonst nie drauf gekommen wäre. Wäre man drauf gekommen, müsste niemand kommen und es einem sagen. Der Mensch in der Mitte. Was, bitte schön, soll denn sonst im Mittelpunkt stehen?

Zwischen den Festaktstationen wird man beatmet: Tanz. Da sieht man‘s, hört man‘s, fühlt man‘s. Und: Sie zeigen einen Film. Daisy Long hat ihn gemacht. Zeitgeschichte mit van Manen. „Ich gehe in Pension, wenn ich tot bin“, sagt er. Und er sagt: „Bei meinen Stücken braucht niemand ein Programmheft. Sie erklären sich selbst.“ Mehr braucht es doch eigentlich nicht. Es braucht nicht die dritte Begrüßungssentenz. Wir wissen doch nun, wer an Wichtigkeiten angereist ist.

Lasst tanzen

Schiebt den Vorhang auf. Lasst tanzen. Stattdessen schiebt man ein Rednerpult auf die Bühne. Rednerpulte sind immer eine Art von Androhung. Menschen treten auf Bühnen und möchten Eindrücke vermitteln: witzig, gelehrt – und ja: auch gelobt soll jemand werden. Gewürdigt.

Martin Schläpfer ist aus Wien angereist. Er – der Laudator. Sicher doch. Wer, wenn nicht der. Schläpfer ist Choreograph. Einer der besten, die denkbar sind. Wahrscheinlich würde er unter vier Augen mit seinem Freund aus Amsterdam die anrührendsten Worte finden. Jetzt wird, was an Schönheit, Innigkeit und Inspiration möglich hätte sein können, diesem Laudatoren-Anspruch geopfert: dass eine Laudatio Ausdehnung – Dauer also – haben muss; dass erklärt werden soll, was nur der Tanz erklären könnte (man müsste ja sonst nicht tanzen, weil alles in Worte zu fassen wäre); dass Wort werden muss, was Gefühl ist. Gute Schriftsteller können das. Aber: Man würde doch auch keinen Schreiberling die Laudatio tanzen lassen. Sie würden einen Fragen, ob man noch alle Latten am Zaun hat. Festredner gehen gern in diese Bedeutsamkeitsfalle. Sie müssten doch nur da stehen und „Danke“ sagen – „Danke für 150 Ballette; Danke für die Freundschaft; das Vertrauen; das Miterlebendürfen.“ Schnell wäre alles Sagbare gesagt. Und dann steht einer da und redet sich und alle um Kopf und Kragen. Vorgefertigte Gedanken. Dramaturgie? Fehlanzeige. Eine Laudatio ist kein Stegreif. Aber es soll doch wenigstens den Anschein haben.

Tanz als Nachwort

Bitte tanzen, denkt man. Und sie tanzen. Das Tanzen allerdings ist – bei all dem Gerede – zum Nachwort geworden. Dann die eigentliche Ehrung: Urkundenübergabe. Der Geehrte hält einen Zettel in der Hand. Bitte, bitte nicht mehr reden, denkt man, Dann tritt das Wunder ein: Van Manen spricht. Es gibt kein Manuskript. Da öffnet einer spontan die Seelentür. Da ist – endlich, endlich, endlich – einfach einer er selbst. Er kann sich den Namen des neuen Ballettchefs nicht merken. Das tut doch nichts zur Sache. „Normalerweise bedankt sich der Geehrte bei seiner Frau. Die gibt es nicht.“ Van Manen bedankt sich bei seinem Ehemann. Seit fast 50 Jahren sind die beiden zusammen. Van Manen bedankt sich bei denen, ohne die es seine Kunst nicht gäbe. Alles, was er sagt, ist irgendwie von Zerbrechlichkeiten umhüllt: alles spricht im Subtext vom Vergehen der Zeit und somit vom Vergehen des Menschen. Er werde, sagt van Manen, keine Ballette mehr erschaffen. „150 sind genug“, sagt er. Da spricht einer, der mit den Dingen zufrieden ist. Man denkt an den Film zurück und an van Manens Satz: „Ich bin Choreograph, weil ich nichts anderes kann.“ Entwaffnender kann nichts sein.

Es blitzt

Dann – zum Abschluss: „Solo“. Drei Tänzer, Bach und van Manen. Da blitzt alles auf und ist Vorschau und Rückblick zugleich – spannt den Bogen von der Trauer bis in die Komik. Alles ist durchdacht atemlos. Wenn wir von diesem Mann, der nichts anderes kann als Choreographieren, nur dieses Stück hätten – es wäre noch immer Trost und Pflaster genug, um die Welt in Ordnung zu träumen.Ob er, wurde van Manen in den 70-ern gefragt, nicht ein Vietnam-Ballett machen wolle. Antwort: „Über Vietnam werde ich reden.“ Einer wie er lässt tanzen, was zu tanzen ist. Bei einem wie ihm ist man aufgehoben. Nichts bleibt Randnotitz. Es geht um alles. Immer.

Hans van Manen. Foto: Ingo Schaefer

Auf der Rückfahrt versucht man, Fragen zu klären. „Was war das für ein Stück bei ‚Solo‘ und wer hat gespielt?“ „Das steht nicht im Programmheft.“ Da stehen nur Komponistennamen. Keine Interpreten. Keine Titel von Stücken. „Und wer war eigentlich der Pianist?“ „Das steht da auch nicht.“  Das geht gar nicht. Immerhin: Im Internet findet man seinen Namen: Eduardo Boechat. Natürlich sind die Redner erwähnt. Da stimmt doch etwas nicht, denkt man. Und was war‘s nun? Youtube weiß die Antwort. Da ist es: Hans van Manen, „Solo“. Musik: Corrente und Double aus der Partita Nr. 1 h-moll für Violine von Bach. Wunderbar, denkt man: van Manen ohne rednerischen Zuckerguss. Aber: Ballett muss live.