Schreibkraft
Heiner Frost

Fliehkraft bleibt Fliehkraft

Polizeioberkommissar Johannes Look ist zeitig aufgestanden an diesem Samstagmorgen. Frühstück um fünf. Abfahren um sechs. Geplante Ankunft in Weilerswist: 8 Uhr. Der Verkehrssicherheitsberater der Kreispolizeibehörde Kleve ist zum Profi-Training bei Daimler Chrysler eingeladen. Es geht um Kleintransporter. Und da Look mit der Jugendverkehrsschule häufig im Sprinter unterwegs ist, bietet sich ein Training an. Johannes Look nimmt nicht zum ersten Mal an einem Training teil, aber: Sicherheit kann man gar nicht oft genug trainieren, und ab und an bringt ein neues Training auch wieder neue Ideen für die Arbeit. So wird es auch heute sein. Die Sache mit den Sprudelkästen … aber davon später.

Grund genug

Hintergrund von Looks Teilnahme sind Fakten: Im Jahr 2001 waren deutlich mehr Fahrer von Kleinlastern in Unfälle mit Personenschäden verwickelt als 1991. Die Zahl der beim Kraftfahrt-Bundesamt registrierten Kleinlaster stieg in diesem Zeitraum um 127 Prozent. Das entspricht einem Anwachsen von 792.179 auf 1.796.908 registrierte Fahrzeuge. 1991 waren 61 Prozent aller unfallbeteiligten Fahrer eines Kleinlasters  auch die Hauptverursacher. Kurz gesagt: Die rasenden Kleinlaster sind ins Gerede gekommen. Grund genug für Daimler Chrysler, allen Käufern eines neuen Sprinters ein Sicherheitstraining kostenlos quasi huckepack anzubieten, um zu zeigen, dass (wie so oft bei Unfällen) nicht etwa die Autos Schuld haben.

Der kommt später. Der fährt zu ökonomisch

Beim Profi-Training in Weilerswist wird den Fahrern neun Stunden lang ausreichend Gelegenheit gegeben, jede Menge über ihr Auto, aber noch mehr über das eigene Verhalten zu lernen. Vier Trainingseinheiten warten auf die Fahrer, und  für jede der vier Einheiten steht den Teilnehmern ein Trainer zur Verfügung. 40 Teilnehmer, vier Trainer und somit vier Gruppen à zehn Fahrer werden simultan ans Werk gehen.

Auf dem Programm stehen: Ökonomische Fahrweise, Ladungssicherheit, Technik und Bremstechnik. Als Looks Gruppe nach einem kurzen zweiten Frühstück und einer allgemeinen Einweisung durch den Cheftrainer Ronald Geyer an den Start geht, steht erst einmal ökonomisches Fahren auf dem Plan. Bei der Einführung hat es bereits erste Diskussionen um das Fahren in niedrigen Drehzahlbereichen gegeben. Bringt es das? Lauter Experten sind am Start. Und irgendwie sieht es jeder anders. Als bei der Vorstellung der Trainer Robert Koch, der Mann für die Ökonomie, noch fehlt, scherzt einer der Teilnehmer: „Der kommt später. Der fährt zu ökonomisch.“ Einerseits ein Witz — andererseits schon eine Anspielung auf die allzeit beste Ausrede der Fahrer: Zeitdruck.

Gute Reifen hinten

Beim Öko-Training gilt es, eine vorgegebene Runde zu fahren. Dauer: 10 Minuten. Der Spritverbrauch wird digital gemessen. Die Stunde der Wahrheit. Der Verbrauch schwankt zwischen 8,5 und 12 Litern. Da könnte demnach reichlich gespart werden. Koch spricht über Drehzahlbereiche: 2.000 Umdrehungen, meint er, sind eine gute Zahl. „Manche schalten ja erst, wenn die Hämorrhoiden schon wackeln und der Motor heult.“ Scherze sind gut für die Motivation. Nach der technischen Unterweisung wird die Runde nochmal gefahren. Jetzt liegt der Verbauch bei allen deutlich niedriger. Koch hat auch mit der falschen Meinung aufgeräumt, die besseren Reifen sollten immer vorne beziehungsweise an der Antriebsachse montiert werden. Blödsinn. Die Geradeaus-Stabilität kommt immer von der Hinterachse, und genau da gehören im Zweifel die besseren Reifen hin.  Kaffeepause. Johannes Look hat beim Öko-Fahren schon in der Vorrunde gut abgeschnitten. Er hat längst gelernt, dass man mit vorausschauendem Fahren besser weg kommt.

2. Station: Ladungssicherheit. Cheftrainer Geyer übernimmt die Gruppe. Ein Freiwilliger wird gesucht. Der soll mal eben den Sprinter holen, der ein wenig abseits steht und damit eine Vollbremsung hinlegen. Look meldet sich, steigt ein, fährt  los, bremst: Bumms macht es im Laderaum. Dumm gelaufen. Auf der Ladefläche steht ein 1.000-Liter-Tank. Geyer erklärt, dass bei dieser Übung „noch NIE!“ einer vor dem Losfahren hinten rein geguckt hat. Der Tank ist mit Ketten so festgemacht, dass er nur einen Meter nach vorne krachen kann. Im Ernstfall hätte der Fahrer „einen neuen Anstrich“ gebraucht. Und doch: Es passiert immer wieder: Ein Auftrag kommt rein, der Fahrer wird losgeschickt. Zeitdruck. Kontrolliert wird nicht. Schlechte Karten, wenn dann ein Unfall passiert, denn die Berufsgenossenschaft zahlt nicht. Zu viele Verstöße gegen die Sicherheit.

Schlecht gerutscht

Die Gruppe soll jetzt versuchen, den 1.000 Liter-Tank richtig zu befestigen. Zurrwerkzeuge gibt es genug. Meinung über die Richtigkeit auch. Es ist wie im wirklichen Leben: Zehn Experten — elf Ratschläge. Dann kommt die Sache mit den Sprudelkästen: Zwei davon stehen hinten auf der Ladefläche. Die Türen bleiben offen:“Damit ihr alle was sehen könnt.“ Einer soll den Wagen zehn Meter vorfahren und dann in die Eisen gehen. Alle wissen, was passieren wird. Die Kästen fliegen quer durchs Fahrzeug. Das Auto kommt zurück. Geyer legt eine Anti-Rutsch-Matte zwischen Kastenunterkante und Ladefläche. Wird’s das bringen? Die Gruppe zweifelt. Geyer animiert den Fahrer, jetzt mal ein bisschen mehr Gas zu geben und härter zu bremsen. „Das hält nie“, sind die Experten sich einig, und werden prompt eines besseren belehrt. Der Fahrer gibt Gas, bremst: Die Kästen haben sich nicht einen Millimeter bewegt. Look nickt: Eine Superübung. Kleiner Aufwand — große Einsicht. Sowas zieht mehr als zehn Minuten Vortrag.

Schwerpunkte

Dann stellt Geyer drei 50-Liter Kanister auf die Ladefläche. Einer ist voll, einer halb voll, einer leer. Dieselbe Übung. Preisfrage: Welcher kippt zuerst. Endlich mal sind sich alle einig: Der Leere. Ab geht’s. Zehn Sekunden später steht fest: Sie haben sich alle getäuscht. Der Volle fällt zuerst. Grund: Der Schwerpunkt liegt höher. Schlussfolgerung: Auch das muss beim Beladen bedacht werden. Und: Wer da glaubt, auf dem ‚fahrenden Hochsitz‘ sicherer zu sein, der irrt. Abschließend demonstriert Geyer die Sache mit dem Schwerpunkt noch mal zum Miterleben: Ein Sprinter mit eingebauten Tanks kann die Flüssigkeit von der Ladefläche unters Dach pumpen. Zunächst fährt Geyer ein Ausweichmanöver mit tiefem Schwerpunkt: Kein Problem. Die Flüssigkeit wird hochgepumpt — das Ganze noch mal. Jetzt wäre der Sprinter gekippt, wenn er nicht die Seitenausleger gehabt hätte. Trotzdem steigen die zwei Beifahrer (diese Übung darf nur der Trainer fahren) mit Puddingknien aus dem mit Überrollbügeln gesicherten Führerhaus.

Mittagspause

Danach geht es um Technik. Ein Auto unserer Tage hat wesentlich mehr Technik an Bord als seinerzeit die Mondlandefähren der NASA. ABS, ESP, BAS, ASR. Preisfrage: Seit wann gibt es denn ABS? „Zehn Jahre“ schätzt einer. In Wirklichkeit sind es fast schon 30. Bei den Brems- und Ausweichmanövern lernen die Fahrer, dass die Technik viel bringt. Trotzdem: Die Physik ist nicht zu überlisten. Fliehkraft bleibt Fliehkraft und Bremsweg bleibt Bremsweg. Ein Ausweichmanöver auf regennasser Fahrbahn ist mit 25 Stundenkilometern noch zu machen. Zwei Kilometer mehr, und plötzlich heißt es: Rien ne va plus. Nichts geht mehr. Die Grenzen sind eng gesteckt, und die vier Trainer bringen es fertig, aus Vollprofis in Sachen Kleintransporter bisweilen kleinlaute Anfänger zu machen.

Nach neun Stunden erhält auch Look sein Diplom. In Sachen Ladungssicherheit hat er jede Menge Denkanstöße bekommen. Beim Bremsen und Öko-Fahren gab es für ihn eher wenig zu lernen. Fest steht: Die Sache mit den Sprudelkästen und den Kanistern wird er seinen Kunden, den Fahranfängern, künftig jedenfalls auch demonstrieren.