Man ist längst verhornhautet, wenn es vor Gericht um „Handel mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge“ geht. Es sind diese Portionsgeschichten, die bei römisch I beginnen und sich ins Endlose fressen.
(Am soundsovielten brachte der Angeklagte soundsoviel Marihuana/Kokain mit soundsoviel Wirkstoffgehalt … so reiht sich nicht selten Tat an Tat und man hat das Gefühl, die Stare sammeln sich zum Winterflug auf der Hochspannungsleitung.) Drogenprozesse besucht man, wenn spektakuläre Mengen sich ankündigen, aber all die kleinen Elende zwischendurch – für die Täter kippt das Leben aus den Angeln. Unwahrscheinlichkeiten marschieren auf. Man hat doch jede Geschichte schon gehört. Diese vielleicht nicht.
Aberwitzig
Sie trug sich in Geldern und Sonsbeck zu und suchte man nach Worten, dann wäre „aberwitzig“ eine Vokabel. Andererseits: Es ist nichts Witziges an dieser Geschichte. Sie handelt von zwei Sichtweisen auf dieselben Geschehnisse. Sie handelt davon, wie viel Zweifel man zulassen möchte, kann, muss. Für einen Staatsanwalt wachsen Zweifel auf einem anderen Acker als für einen Verteidiger. Gut, dass es Richter gibt. Sie schaffen Ordnung im Gestrüpp von Vermutungen. Meistens jedenfalls.
Ein Mann möchte, sagt er, Gutes tun. Er möchte helfen. Er hat Verwandte, Bekannte, die an Krebs leiden. Cannabisöl, hat er recherchiert, kann Schmerzen lindern – als Medikament dienen. Das Internet ist voll davon.
Der Mann – nennen wir ihn Jerry – begibt sich ins Dunkel: Das Dark-Net ist ein Bereich des Internets, der Vieles ermöglicht. Auch Anonymität gehört dazu. Der Mann gerät an einen Arzt. Der könne ihm, sagt der Arzt, das Cannabisöl besorgen, das Jerry braucht, um denen zu helfen, die ihm wichtig sind. Dafür soll Jerry Kunden beliefern. Er schickt ihnen Marihuana und Cannabis, der Arzt stellt Jerry das Öl zur Verfügung. Win win. Die Sache weitet sich aus. Jerry hat viel zu verschicken. Er bekommt Bedenken – teilt sie dem Arzt mit. Der schickt „drei Herren“, die keinen Spaß verstehen. Sie schüchtern Jerry ein. Noch beim Vorlesen seiner Geschichte gerät Jerry ins Stocken. Es rüttelt ihn. Der Richter unterbricht für zehn Minuten. Er macht weiter: Mit dem Vorlesen nach der Pause und mit dem Verschicken der Drogen. Längst hat er im Keller seines Hauses einen Raum, in dem er die Sendungen vorbereitet. Er will Handlungsabläufe optimieren, sagt er. Die Devise: Dinge, die du nicht tun willst, tue schnell. [Der Staatsanwalt kann das nicht verstehen. Nicht mögen und optimieren gehen in seinem Kopf keine Freundschaft ein.]
Wenn Jerry Lieferungen vom Arzt erhält, fährt er auf einen Parkplatz. Man kennt sein Nummernschild – das hat er dem Arzt gegeben. Jerry nimmt Pakete entgegen und mitunter fährt er auf einen weiteren Parkplatz und jemand kommt, um etwas zu holen. [„Woher konnten Sie wissen, dass Sie die Sachen dem Richtigen geben?“, fragt der Staatsanwalt und man denkt: Das kann der jetzt nicht ernst meinen. Jemand sitzt im Auto – mit einer Tüte Drogen. Drei Menschen auf der Welt wissen davon – er, der Auftraggeber und der Abholer. Der kommt – er weiß ja, um welches Auto es sich handelt – und fragt nach der Tüte. Wie oft passiert es, dass einer mit einer Tüte voll Drogen auf einem Parkplatz sitzt und jemand kommt und sagt: „Ich möchte die Tüte abholen?“]
Hornhaut auf den Ohren
Jerry jedenfalls spielt das Spiel. Er bekommt das Öl und verschickt – im Auftrag des Arztes – den Stoff. Eine Bezahlung will er nicht. Er will, sagt er, keine Geschäfte machen.
Als Jerry wieder einmal aussteigen will, bekommt er Besuch. Man schlägt ihn. Treffer in der Nierengegend. Jerry erstattet keine Anzeige. Er hat Angst. Sie brechen in sein Haus ein. Er zeigt niemanden an. Er möchte nur raus aus dieser Nummer, aber das schafft er erst, als die Polizei bei ihm auftaucht. Er hat sie nicht gerufen. Sie nehmen ihn fest.
Am Klever Landgericht dürften sie in Sachen Drogen schon so ziemlich jede Geschichte gehört haben. Hornhaut auf den Ohren. Niemand trägt mehr einen Helm, obwohl sich vermutlich oft genug die Balken biegen. Der Staatsanwalt erzählt eine andere Geschichte:
Strafverhandlung gegen einen 37-jährigen wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zehn Fällen. Laut Staatsanwaltschaft soll der Angeklagte in umfangreiche Drogengeschäfte verstrickt gewesen sein. Hierzu soll er Drogen an eine Vielzahl von Abnehmern auf den Postweg gegeben haben. Insgesamt soll es sich um über 140 Briefsendungen mit Marihuana, Haschisch und Amphetamin gehandelt haben. Anlässlich einer Wohnungsdurchsuchung sollen im Keller des Wohnhauses des Angeklagten dessen (professionell eingerichtetes) ´Drogenlager´ (unter anderem mit Waagen, Klebe-Labels, Papier- und Folienschneidemaschinen, Etikettierer sowie einen elektrischen Portionierautomaten) entdeckt worden sein. In diesem Raum sollen zudem – neben einem umfangreichen Bestand an (Alu-) Versandtüten und Briefumschlägen und bereits vorgefertigten Empfänger- und Versandlabels – das Haschisch und Marihuana-Sortiment des Angeklagten entdeckt und insgesamt circa 20 Kilogramm Haschisch und weitere knapp 17 Kilogramm Marihuana sichergestellt worden sein.
Das klingt so ganz anders. Jetzt ist Jerry ein professionell agierender Drogendealer mit einer aberwitzigen Geschichte, für die es keiner Beweise gibt. Das Dark-Net ist ein spurenloskeimfreier Aufenthaltsraum. Das kann Vorteile haben. Für Jerry ist alles ein Nachteil.
Er wirkt nicht wie ein Zyniker. Er gibt Auskunft über das Geschehene, aber schnell ist zu merken, dass der Staatsanwalt die Sache mit einem gewissen Zynismus sieht. Da findet man im Keller von Jerry eine „Drogenversandstelle“ und dann kommt der mit der Gutmenschengeschichte – einer, der sein Leben straffrei absolviert hat, der eine Firma gegründet und Lehrlinge eingestellt hat. Aber natürlich sagt das nichts über die kriminelle Energie eines Menschen aus.
Man sitzt da und denkt: Wenn du jetzt Jerry wärst und wüsstest, die Geschichte, die du erzählst, ist wahr – dann wird einem der Hals eng, denn: Niemand glaubt, was man erzählt hat. Die da zuhören, haben zu viele Ausreden gehört, zu viel Absurdes, zu viele Fluchtversuche auf Geschichten-Ebene. Jerry hätte wissen müssen, dass er nicht machen durfte, was er gemacht hat. Er weiß es. Er wusste es. Wie blauäugig kann jemand sein? Was kann man glauben? Trotzdem hat er getan, was er getan hat. Er wird seine Strafe akzeptieren. Er will, sagt Jerry, wieder ein Ehrenmann sein.
Sudden Death
Man hatte sich so schön eingenistet: im großzügigen Vertrauen (dem Angeklagten gegenüber); im Zweifel (an den Anschuldigungen); im Glauben (an das Gute). Und dann das: Am zweiten Verhandlungstag hatte man nichts Großartiges erwartet. Drei Zeugen. Nicht mehr. Nicht weniger. Und da läuft die Kammer ein und spricht nach dem Morgengruß von neuen Umständen. Der Staatsanwaltschaft ist es unter Zuhilfename einer Spezialfirma gelungen, die Daten aus dem Handy des Angeklagten auszulesen. Demnach ergibt sich nun ein anderes Bild. Es ist nicht nur vom Handel mit Betäubungsmitteln (BTM) auszugehen. Die neuen Erkenntnisse führen zu der Annahme, dass es um bandenmäßigen Handel geht. Das ändert die Eingangsvoraussetzungen. Vorher hätte Jerry – natürlich nur mit dem nötigen Wohlwollen der Kammer und mit einem ‚vielleicht‘ – mit zwei Jahren davonkommen können. Nach den neuen Erkenntnissen würde sich das Strafrahmenfenster erst bei fünf Jahren öffnen und bei 15 schließen. Drei potenzielle Mittäter sind verhaftet worden und es ist davon auszugehen, so der Staatsanwalt, dass eine Zeugin beeinflusst werden sollte. Nicht genug damit: Der Staatsanwalt wendet sich an den Verteidiger und lässt durchblicken, dass er eine Verwicklung des Verteidigers in die versuchte Zeugenbeeinflussung für möglich hält. Ehrenhaft sei das nicht, sagt der Staatsanwalt und man ahnt, dass Truppen im Anmarsch sind. Einer der vor zwei Tagen verhafteten vermeintlichen Mittäter soll sich eingelassen und etwas gesagt haben wie: „Ich kann das eine oder andere berichten.“ Das klingt nach ‚Geschäftstüchtigkeit‘. Der Inhaftierte aber soll auch gesagt haben, man sei verwandt und also werde er nichts sagen.
Jerry sitzt mit gesenktem Kopf neben seinem Verteidiger. Der Staatsanwalt macht deutlich, dass er die Einlassung des Angeklagten vom ersten Tag für … man hätte mitschreiben sollen … irgendwie fiktional hält.
Das Gericht sieht die Staatsanwaltschaft im Wissensvorsprung. Ein „fair trial“ sei nun nicht möglich. Zehn Minuten Beratung. Dann wird verkündet: „Der Prozess wird abgebrochen.“ Es folgen Begründungen. Irgendwann wird es mit einer neuen Anklage weitergehen. Alles auf Anfang. Und wer sind eigentlich die beiden jungen Leute im Zuschauerraum? Das interessiert den Staatsanwalt nun doch. Praktikanten, stellt sich heraus. Glaubt man noch an das Gute? Warum nicht. Vielleicht unter anderen Vorzeichen.