Schreibkraft
Heiner Frost

Eigentlich ein ganz Lieber

„Entschuldigung, darf ich Sie was fragen“, sagt der junge Mann aus dem Zuschauerraum zu der Dame von der Jugendgerichtshilfe. „Wer sind Sie?“, fragt die Dame. „Ich bin der Onkel des Angeklagten“, sagt der junge Mann. „Das ist eigentlich ein ganz Lieber.“

Es geht nicht, sonst bist du tot

Das könnte man natürlich auch anders sehen. „Strafverhandlung gegen einen 19-Jährigen aus Kleve wegen Vergewaltigung in drei Fällen, davon in zwei Fällen tateinheitlich mit Körperverletzung sowie wegen Bedrohung, versuchter Nötigung, Körperverletzung und gefährlicher Körperverletzung. Laut Staatsanwaltschaft soll der Angeklagte der Zeugin am 6. März – nachdem diese ihm mitteilte, dass sie von ihm schwanger sei, aber keine Beziehung mit ihm wolle – eine Whatsapp-Nachricht geschrieben haben mit den Worten ‚Es geht nicht, sonst bist du tot“. Zudem soll er die Zeugin am 22. März aufgesucht und 1.000 Euro verlangt haben, damit er sie in Ruhe lasse, nachdem die Zeugin ihm mitteilte, dass sie das Geld nicht habe, soll er sie gewürgt haben. Laut Staatsanwaltschaft suchte der Angeklagte die Zeugin zudem gemeinsam mit zwei anderweitig Verfolgten am 30. Mai an ihrem Arbeitsplatz in einem Supermarkt auf. Nach einer verbalen Auseinandersetzung sollen der Angeklagte und die anderweitig Verfolgten die Zeugin hin und her gestoßen haben, so dass sie stürzte und Schmerzen an der rechten Bauchseite erlitt.
Der Angeklagte soll sich darüber hinaus am 17. Juni in die Wohnung der zum damaligen Zeitpunkt im 6. Monat schwangeren Zeugin begeben haben und sie dort geschlagen, gewürgt und vergewaltigt haben. Im Anschluss daran soll der Angeklagte zunächst mit der Zeugin in die Küche gegangen sein, wo diese der gemeinsamen anderthalb Jahre alten Tochter etwas zu essen machte und sie im Anschluss erneut vergewaltigt haben. Im weiteren Verlauf des Tages soll die Zeugin wiederholt versucht haben, den Angeklagten dazu zu bewegen, die Wohnung zu verlassen, woraufhin dieser mit einem scharfen Brotmesser in Richtung der Zeugin gestoßen und sie im Anschluss erneut vergewaltigt haben soll. Als die gemeinsame Tochter gegen Abend wach wurde, soll er von der Zeugin abgelassen und die Wohnung verlassen haben.“

Es war alles ganz anders

„Eigentlich lieb“ hatte man sich anders vorgestellt. Aber: man lernt ja nie aus. Es war alles ganz anders, erklärt der Angeklagte dem Gericht. Eigentlich ist er doch das Opfer. Die junge Dame hat ihn gestalkt. Nicht er hat Geld von ihr verlangt – sie hat ihm Geld geboten: Er sollte eine Vaterschaftserklärung unterschreiben.
Er weiß nicht mehr, was drin stand, aber er hat unterschrieben. Das Geld hat er nie bekommen. Und noch etwas: „Die Frau ist doch psychisch krank, Herr Richter. Das merkt jeder, der mit ihr zu tun hat. Da können Sie alle fragen.“ Der Angeklagte hat die junge Frau – sie ist sechs Jahre älter als er – natürlich nicht mit einem Messer bedroht. Er wollte ihr nur beim Auspacken eines Schrankes behilflich sein. Dann hat sie ihm gesagt, das mache jemand anderer.

Wenn, dann

Das Gericht projeziert eine Whatsapp-Schlacht an die Wand. Wilde Drohungen hat der Angeklagte geschrieben. Er hat das, sagt er, natürlich nicht so gemeint. „Wenn ich das ernst gemeint hätte, dann wäre die doch längst tot.“ Überhaupt: Die Nachrichten – wahrscheinlich alle von ihr gefälscht. Er weiß nicht, wie sie es gemacht hat, aber sie muss es so gemacht haben.
Man ist gespannt auf die Aussage des Opfers. Ist sie eigentlich ein vermeintliches Opfer, wenn der Täter ein vermeintlicher Täter ist?

Ereignishorizont

Gerichtstage sind mitunter mit schwarzen Löchern gepolstert. Die Aussage der jungen Frau rutscht über den Ereignishorizont: Ausschluss der Öffentlichkeit. Rund 90 Minuten befragt die Kammer die junge Frau. Alles bleibt für die Öffentlichkeit im Dunkeln. Auf dem Gang möchte der Onkel wissen, ob man von der Presse sei. Ja. Sei man. Ob denn auch etwas erscheinen werde? Was er wohl denke? Dass man stundenlang dasitze und dann nichts veröffentliche? Sei das Ganze denn nicht ohnehin eine Jugendsache und komplett ohne Öffentlichkeit zu verhandeln? Das ist es natürlich nicht. Man wäre doch sonst nicht da. Vielen Dank für die Auskunft.

Restwärmeauffrischung

In den Verhandlungspausen bibbern gekühlte Menschen zielstrebig den Heizkörpern im Flur entgegen. Restwärmeauffrischung. (Ein Fenster steht im Saal immer offen und bläst der Dame von der Jugendgerichtshilfe sowie der Nebenklagevertreterin kühle Frischluft ins Genick.)
Zwei Freunde des Angeklagten sagen aus. Ja, die X. hat den Angeklagten gestalkt. Anrufe – immer wieder Anrufe. Sprachnachrichten gibt es auch. „Soll ich Ihnen das mal vorspielen, Herr Richter?“, fragt der erste der beiden.

X. spricht

Danach zehn Minuten Sprache. X. spricht. Man kann es nicht einordnen. Man hat ja ihre Zeugenaussage nicht erlebt. Die Verteidigung, scheint es, säge mit kleinem Blatt an der Glaubwürdigkeit der jungen Frau. Der zweite Zeuge hätte dem Herrn Richter auch ein Video anzubieten. Da könnte der Herr Richter dann sehen, dass nicht er die X., sondern die X. ihn bedroht habe. Man könne die natürlich nicht erkennen. Er habe die ja nicht einfach filmen dürfen. Das habe ja etwas mit Datenschutz zu tun. Aber es sei schon klar, dass sie es sei. Dem Richter platzt der Kragen. „Wir sind doch hier nicht bei RTL“, sagt er – lauter als üblich.

Kein Film

Nachdem sich alles gelegt hat, betritt die Kammer wieder den Saal. Der angebotene Film wird nicht angeschaut. Es gibt keine Fragen an den Zeugen. Dann: Polizisten. Sie wiederholen, was die Anklage vorgestellt hatte. Die Nebenklagevertreterin bittet um eine technische Pause. Man lernt, das technische Pausen hinter Türen mit Buchstaben abgehalten werden: D oder H steht da.
Das psychiatrische Gutachten – die Zeit ist fortgeschritten – wird am zweiten Verhandlungstag stattfinden.

Toxische Beziehung

Was war das heute?, fragt man sich im Hinausgehen. Vielleicht das, was man die Demonstration einer toxischen Beziehung nennt. Da sind zwei aneinandergeklebt, um sich gegenseitig das Leben zur Hölle zu machen. Sie können nicht miteinander und nicht ohne. Die Frau: auf der Suche nach einem Schritt in die Beziehungsewigkeit – der junge Mann: einer, der sich austoben möchte im Leben. Aber die Art des Tobens scheint – stimmen die Vorwürfe – irgendwie grundfalsch. Die Whatsapp-Nachrichten des Angeklagten: Ein Auf und Ab zwischen ‚Ich kann nicht ohne dich‘ und ‚Ich werde das Kind in deinem Bauch töten‘.
Die Familie des Angeklagten im Zuschauerraum weiß – wie auch der junge Mann: Die Schuld liegt auf Seiten der jungen Frau. Der Mann auf der Anklagebank: „Eigentlich ein ganz Lieber.“ Vielleicht stimmt’s sogar. Wenn alles nach Plan läuft. Hier ist es so: Man hat Schwierigkeiten, dem Angeklagten seine ganze Unschuld zu glauben, aber: Er ist Angeklagter. Das Urteil steht noch aus und muss von anderen gesprochen werden.

Zwei Gutachten

Der psychiatrische Gutachter sieht – trotz eines aufkeimenden Suchtverhaltens beim Angeklagten  – keinerlei Grund, ihn in eine Entzugsklinik einzuweisen. „Dazu müsste er es auch selber wollen, aber er hat mir gesagt, dass er auf gar keinen Fall eine Therapie machen will“, berichtet der Gutahter von seinem Gespräch mit einem jungen Mann, der seinerseits vom Gutachter erwartet, dass der am Ende seine Unschuld beweisen wird. Bei diesem Gespräch allerdings geht es nicht um Schuld und Unschuld – es geht um die Feststellung, ob der Angeklagte zum Zeitpunkt der ihm vorgeworfenen Taten in seiner Einsichts- und Steuerungsfähigkeit eingeschränkt war. Das sieht der Gutachter nicht. „Nicht jeder, der Gewalt ausübt, ist psychiatrisch erkrankt“, sagt er. Dass einer – quasi im gleichen Atemzug – „ich liebe dich“ und „ich bring dich um sagt“: nicht angemessen, aber eben auch nicht pathologisch.

Der Angeklagte: gefangen in Sturm und Drang. Da ist einer noch dabei, das Leben – sein Leben – auszuprobieren. Da lotet einer Grenzen aus. Die Jugendgerichtshilfe sieht beim Angeklagten deutliche Reifeverzögerungen und empfiehlt die Anwendung des Jugendstrafrechts. „Wenn er in seinen derzeitigen Strukturen bleibt, wird sich nichts ändern.“ Der Freundeskreis: ungeeignet. Was dringend erforderlich wäre: eine umfassende Änderung der Lebenseinstellung.

Ist doch alles bestens

Für den jugend Mann auf der Anklagebank allerdings scheint die Änderung der Lebenseinstellung nicht notwendig. Es geht ihm gut zuhause. Er teilt sich ein Zimmer mit zwei Brüdern. Na und? Er hat nichts getan. Er ist unschuldig. Warum etwas ändern? Er ist das Opfer. Ihm wird übel mitgespielt. Er ist gestalkt worden von dieser Frau. Alles, was zwischen ihm und ihr stattfand: einvernehmlich.

Die Verteidigung beantragt in Bezug auf das Opfer die Einholung eines Glaubwürdigkeitsgutachtens. Das Gericht weist diesen Beweisantrag zurück. Es verfügt über ausreichend Erfahrung, die Aussage des Opfers einzuschätzen. Ein Tatgeschehen, das sich über einen Tag erstreckt, kann sich niemand ausdenken, meint die Kammer.

Ausgeschlossen

Man kann nicht folgen, denn die Aussage des Opfers hat ja unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattgefunden. Man hat kein Bild – keine Ahnung. Man ist ausgeschlossen. Und weil bei der Aussage des Opfers die Öffentlichkeit ausgeschlossen war, werden auch die Plädoyers unter den gleichen Bedingungen gehalten, denn in ihnen könnten Teile der Aussage wieder aufscheinen. Der Schutz, den das Gericht dem Opfer gewährt, würde quasi durch die Hintertür aufgehoben. Man verlässt den Saal. Möglich ist also auch, dass am Ende die Urteilsbegründung unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet.

Wut

Am Ende verurteilt die Kammer den jungen Mann unter Anwendung des Jugendstrafrechts zu drei Jahren und drei Monaten Freiheitsentzug. „Drei Jahre, drei Monate – das entsprach dem Antrag der Staatsanwaltschaft“, sagt die Pressesprecherin des Landgerichts. Sie sagt auch, dass der junge Mann deutlich signalisiert habe, das Urteil nicht zu akzeptieren. Er sei ziemlich schnell laut geworden. Er sei unschuldig, aber mit ihm könne man es ja machen. Er sei ja nichts anderes als ein Kanake. Einmal habe er während der Urteilsbegründung, die dann doch coram publico stattfand, mit den Füßen gegen die Anklagebank getreten.
Post an Frost