Vielleicht hatte man sich verhört. Kommt ja vor. „Meine Eltern sind seit 78 Jahren verheiratet“, sagt Bruno. Bruno ist Kabarettist. Der hat sich einen Spaß erlaubt, denkt man … und wird eines Besseren belehrt. Besuch bei Elli und Aloys. „Das sind meine Eltern“, sagt Bruno. „Hallo“, sage ich, „schön, dass ich hier sein darf.“ „Sprich lauter“, sagt Bruno. „Elli hört schlecht. Das Alter …“ „Hallo, schön, dass ich hier sein darf“, wiederhole ich.
Operation Walküre
Wo fängt man an? Beim Hochzeitstag vielleicht. „Es war der 20. Juli“, sagt Aloys. „In welchem Jahr?“, frage ich und Aloys sagt: „1944.“ Operation Walküre. Im Kopf legt sich ein rotes Quadrat auf dieses Datum. Der 20. Juli 1944 – ein Datum, das eine Bedeutung hat in der Geschichte Deutschlands. Es ist der Tag, an dem das Attentat auf Adolf Hitler misslang und Claus Schenk Graf von Stauffenberg und und seine Mittäter ihr Leben ließen im Kampf gegen ein Unrechtsregime. „Abends kam es im Radio: Attentat auf den Führer. Schade, dass es nicht geklappt hat“, sagt Aloys.
Nichts Besonderes?
Elli und Aloys sind also seit 78 Jahren verheiratet. Die letzten Jubiläen: die Gnadenhochzeit: 70 Jahre; die Kronjuwelenhochzeit: 75 Jahre. Es folgt: die Eichenhochzeit: 80 Jahre. „Eigentlich will ich gar nicht in die Zeitung“, sagt Elli. „Es gibt doch auch gar kein Jubiläum. Wir sind nichts Besonderes.“ „Doch, das sind Sie“, sage ich.
Aloys ist Jahrgang `19: 1919 – 19. Dezember. Er wird 103 Jahre alt. Nichts Besonderes? Ellis Geburtstag: der 10. August. In diesem Jahr wird sie 98. Nichts Besonderes? Alles an dieser Geschichte ist unglaublich. Und besonders. Da ist dieses Hochzeitsdatum – da ist das Alter der beiden, die noch immer in dem Haus wohnen, das sie damals in Materborn bauten.
Ich habe immer gearbeitet
Aloys: Finanzbeamter, Elli: Stenotypistin. Sie hat bei der Staatsanwaltschaft gearbeitet. Später dann in einem Notariat. „Bei der Staatsanwaltschaft konnte man damals keine halben Tage arbeiten“, sagt Elli. Einen Tag vor Heiligabend 1946 kam Bruno zur Welt: Hausgeburt, Merowingerstraße 57. „Das Haus steht heute nicht mehr“, sagt Bruno.“ Er ist Einzelkind. Nach der Geburt wechselte Elli ins ‚Halbtagsgeschäft‘. „Ich habe immer gearbeitet“, sagt sie und man spürt, dass sie stolz darauf ist. Ellis Hobby: malen. Im Wohnzimmer hängen ihre Bilder. „Schauen Sie mal“, sagt sie und zeigt Einladungskarten verschiedener Ausstellungen. Eine davon fand im Stiftsmuseum in Wissel statt. Und Aloys? Der hat gejagt. An einer der Wohnzimmerwände: Geweihe. Zu jedem gibt es einen Ort und eine Geschichte. „Ich bin ein musischer Mensch“, sagt Aloys. Bis vor zwei Jahren ging er immer dienstags zur Männerchorprobe: MGV Materborn. Aloys: der zweite Bass. Auch Geige hat er gespielt. Aloys stammt aus Krefeld. Im Krieg kam er als Funkersoldat nach Kleve. Da traf er Elli. 1939 war das. Alles Geschichte.
An der Schallmauer
Das Leben an der Hunderterschallmauer – Aloys hat die Datumsgrenze überschritten, Elli hat noch zwei Jahre – ist nicht immer sorgenfrei. Schmerzen gehören zum Programm. Und dann ist da noch etwas: „Menschen aus unserer Zeit gibt es nicht mehr. Alle sind gestorben: Geschwister, Freunde, Schulkameraden: Die sind alle nicht mehr da“, sagt Elli, aber sie und Aloys sind nicht allein: Neffen, Nichten, Nachbarn wären zu nennen und demnächst wird es einen Urenkel geben: Valentin wird, wenn alles nach Plan läuft, im Oktober „eintreffen“.
Eine Geschichtsstunde
Zwischendurch ein Hoch auf gute Nachbarschaft: „Wenn irgendetwas ist, brauchen wir nur anzurufen und dann ist gleich jemand da. Das ist wunderbar“, sagen die beiden. Einen Computer gibt es nicht. „Leider haben wir das verpasst“, sagt Elli. Smartphone? Irgendwie zu kompliziert. Man zieht gerührt von dannen. Eine Geschichtsstunde …