Ein Paar gerät in Streit. Das soll es geben. Anlässe gibt es reichlich, wenn Menschen zusammen leben. Es geht dabei nicht um Nationalitäten. Gestritten wird überall.
Keine Deals
Was aber hier verhandelt wird, ist mehr als ein Streit: „Strafverhandlung gegen einen 23-Jährigen wegen Körperverletzung mit Todesfolge. Laut Staatsanwaltschaft soll der Angeklagte seiner Lebensgefährtin durch mehrere Tritte und Schläge so schwere Verletzungen zugefügt haben, dass diese an den Verletzungen verstarb.“
Es wird also um das Protokoll einer Entgleisung gehen. Das klingt angesichts einer toten jungen Frau vielleicht zu harmlos, aber wie soll man nennen, was passiert ist? Entgleitung vielleicht. Natürlich kann man von einer Körperverletzung mit Todesfolge sprechen. Der Angeklagte – er hat das mit seiner Verteidigerin besprochen – wird „zunächst keine Angaben machen“. Nicht zur Person. Nicht zur Sache. Nach Verlesung der Anklage bittet die Verteidigerin um ein Gespräch mit der Kammer und der Staatsanwaltschaft. Die Reaktion vom Richtertisch: kurz, knapp, eindeutig: „Die Schwurgerichtskammer macht keine Deals.“
Unter vier Augen
Die Verteidigerin muss sich mit ihrem Mandanten besprechen. 30 Minuten Pause. Danach: Verlesung verschiedener Urteile aus dem Heimatland des Angeklagten. Danach: 20 Minuten Pause. Dann – fast 90 Minuten später – der erste Zeuge. Schnell stellt sich heraus: Es gibt keine direkten Zeugen der Tat. Man würde sich auch die Augen reiben, wenn einer das, was diesem Angeklagten vorgeworfen wird, öffentlich getan hätte. Aber: Auch das soll es geben. Manche Menschen sind aufs Wegsehen trainiert. Wenn einer seine Frau prügelt, scheinen sie zu denken, das sei eine private Angelegenheit. Häusliche Gewalt ist ein Delikt, das oft „unter vier Augen“ ausgetragen wird.
Der erste Zeuge berichtet, er und seine Kumpels seien auf der Straße von einem Mann angesprochen worden. Man solle den Notruf alarmieren, habe der gesagt. „Der Typ sprach ein bisschen Deutsch und ein bisschen Englisch“, erinnert sich der Zeuge, der dann ins Haus ging – in die erste Etage. „Da stand eine Tür offen. Da sind wir rein. Da lag eine Frau auf dem Bett. Sie lag auf dem Rücken. Sie atmete schwer. Sie war voll angezogen und nicht zugedeckt. Wunden waren nicht erkennbar.“
Ein Ausweis
Der junge Mann, der den Zeugen und seine Kumpels angesprochen hat: wahrscheinlich war es der Angeklagte, aber „ich kann das nicht mit Sicherheit sagen“, gibt der Zeuge zu Protokoll. Der junge Mann sei hektisch gewesen. Wie in Panik. Dann sei er verschwunden und nicht zurückgekommen. „Vorher hat der uns noch einen Ausweis gegeben.“ Es war der Ausweis des Opfers. Später wird eine Notfallsanitäterin aussagen, die Hände der jungen Frau seien auf dem Bauch gefaltet gewesen. (Das Bild einer Aufbahrung taucht vor dem inneren Auge auf und nistet sich ein.) Im Zimmer: überall Wasser. „Da war alles feucht.“ Äußere Verletzungen habe das Opfer nicht gehabt. Es gab allerdings ein Hämatom am Auge. Nach ihren Erfahrungen passiere eine solche Verletzung nicht beim Fallen.Auch die Hämatome an den Armen der jungen Frau – sie zeigen sich erst später – ließen eher auf ein Festgehalten werden als auf ein Fallen schließen. Das habe ausgesehen, als sei da jemand „gepackt“ worden. „In der Wohnung standen Türen und Fenster offen.“ Das Opfer wird am Folgetag im Krankenhaus sterben.
Eine bekannte Geschichte
Im Krankenhaus wird festgestellt, dass es zu Blutungen im Hirn der jungen Frau gekommen sei und dass es freie Flüssigkeit im Bauchraum gegeben habe. Es folgen Zeugenaussagen der Nachbarn unterhalb der Wohnung. Das Haus – irgendwie eine rumänische Enklave. Die Bewohner: Angestellte einer niederländischen Firma. Alle arbeiten in einem niederländischen Schlachthof. Das Szenario: irgendwie bekannt. Kontakt haben die Landsleute untereinander kaum. In der unteren Wohnung habe man oft hören können, dass es oben laut wurde. Einer der Zeugen hat gesehen, dass das spätere Opfer mal ein Hämatom am Auge hatte. Das soll öfter der Fall gewesen sein. „Aber das habe ich nur von Kollegen bei der Arbeit gehört.“
Keine Erinnerung
Der Angeklagte lässt über seine Verteidigerin mitteilen, er habe am Tag der Tat Gras und Crack geraucht. Er erinnere sich an nichts. Die Schwester des Angeklagten, die als direkte Verwandte nicht aussagen müsste, sagt aus. Sie schwört – niemand hat sie darum gebeten, „dass ich die Wahrheit sagen werde“. Sie war am Tattag in Rumänien – hat nur mit dem Bruder und dem Opfer telefoniert: Video Call. Ihr Bruder hat – es gab mehrere Gespräche – gesagt: „Ich habe sie geschubst. Sie ist ohnmächtig.“ Dann habe er der Schwester per Video-Call die Situation gezeigt. Das Herz der jungen Frau habe noch geschlagen. „Mein Bruder ist kein gewalttätiger Mensch“, sagt die Schwester. Es ist ihre Wohnung, in der die Tat sich ereignet hat. Drogen habe der Bruder nicht genommen. „Das hätte ich nicht erlaubt.“
Dauerfeuer
Die Aussage der Schwester: irgendwie eruptiv. Fast bekommt man Mitleid mit der Übersetzerin: Sie muss sich mit einem sprachlichen Dauerfeuer auseinandersetzen und dabei blitzschnell zum einen die Fragen des Vorsitzenden in die Sprache der Zeugin übersetzen, um gleich danach die Aussage der Zeugin simultan dem Gericht zu übersetzen. Höchstleistung.
Nach der Mittagspause: Der Notarzt, der am Tattag zum Tatort kam. Er spricht von schweren Hirnverletzungen, von freier Flüssigkeit im Bauchraum. Vorher hatte man schon bei der Anklageverlesung erfahren, dass die Flüssigkeit im Bauchraum von einem „Abriss im Aufhängeapparat des Blinddarms“ verursacht wurde.
„Der fühlt sich nicht gut“
Mittlerweile ist es 14.36 Uhr. Der Gerichtsmediziner soll sein Gutachten erstatten. Da bittet die Verteidigerin des Angeklagten, man möge ihren Mandanten untersuchen. „Der fühlt sich nicht gut.“ Drei Ärzte sind im Saal: der Notfallarzt, der Gerichtsmediziner und der psychiatrische Gutachter. Sie werden gebeten, eine Meinung abzugeben. Es stellt sich heraus: Der Angeklagte hat die Mittagspause nicht zur Nahrungsaufnahme genutzt. „Der müsste was essen“, heißt es. Das Gericht legt eine Pause ein. Nach der Pause verkündet der Vorsitzende, es könne nun weitergehen. „Die Ärzte haben gesagt: es geht.“
Aufgeschoben – nicht aufgehoben
Die Verteidigerin ist erstaunt: „Mit mir hat niemand gesprochen. Sie sehen doch: Meinem Mandanten geht es nicht gut.“ Der Angeklagte sagt – über die Dolmetscherin, dass er sich durcheinander fühle – sich nicht konzentrieren könne.
Verteidigerin: „Ich möchte, dass das ins Protokoll aufgenommen wird.“ Die Stimmung im Gerichtssaal: gereizt. „Ich möchte, dass Sie ins Protokoll aufnehmen, dass ich eine Unterbrechung der Hauptverhandlung beantragt habe.“ „Sie haben noch keine Unterbrechung beantragt.“ „Dann stelle ich jetzt den Antrag, die Verhandlung zu unterbrechen.“ „Dann setzen wir am 30. Januar um 14 Uhr fort“, verkündet der Vorsitzende, nachdem er mit dem Gerichtsmediziner geklärt hat, dass der am angesagten Tag ab 14 Uhr zur Verfügung stehen könne. Vielleicht, denkt man, hatte die Kammer anderes geplant. Vielleicht hätte, was in der Pressemitteilung mit drei Verhandlungstagen angekündigt war, an einem Tag erledigt sein können. Der Plan ist nicht aufgegangen. Ob der Angeklagte sich „beim zweiten Anlauf“ besser fühlen wird, darf angezweifelt werden. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben.
Eine Leerstelle
Während man auf dem Weg zum Ausgang ist, tauchen im Kopf wieder einmal diese Bilder auf: Es sind die Bilder von Menschen, die auf der Suche nach Arbeit in ein ihnen fremdes Land kommen und von dort aus täglich in ein nächstes fremdes Land pendeln; Menschen, die morgens in aller Frühe aufstehen, um zu einem Schlachthof zu fahren oder gefahren zu werden; deren Leben aus einer Tristesse besteht, die man sich nicht vorstellen mag; die nicht selten bei Drogen landen – Drogen, die das eigentlich Unerträgliche erträglich machen sollen; Menschen, die aufeinander hocken und den Beliebigkeiten zu trotzen versuchen. All das – hier soll kein falscher Eindruck entstehen – kann, was hier verhandelt wird, nicht entschuldigen, aber man muss bei diesen Zuständen an eine Lunte denken – bei manchen gerät sie in Brand und dann findet eine Explosion statt.
Eine junge Frau ist verstorben. Es war ein Tod in einem fremden Land. Und der letzte Gedanke passt zum Regen, der einsetzt, als man auf die Straße tritt: Diese junge Frau ist tot. Niemand hat ein Bild von ihr gezeichnet. Man weiß nicht wie alt sie war. Es gibt nichts aus ihrem Leben. Sie bleibt ein Nichts – für nichts gestorben … niemand weint um sie. Eine Leerstelle voll Traurigkeit.
Tränen
Da hockt einer auf der Anklagebank und weint – weint bitterlich: ein Schlosshund. Der junge Mann weint seiner Verteidigerin ins Plädoyer. Die Verhandlung wird unterbrochen: 20 Minuten.
Der da sitzt und sich in die Tränen steigert, soll Verursacher des Todes seiner Lebensgefährtin gewesen sein. Der Staatsanwalt spricht von einem Femizid. Was A. seinem Opfer angetan – zugefügt – hat: massivste Gewalt. Schläge. Tritte. Die Tritte so heftig, dass der Dünndarm aus seiner ‚Halterung‘ gerissen wurde. Die Folge: massive innere Blutungen in den Bauchraum. Als die Frau – sie ist zum Zeitpunkt ihres Todes gerade einmal 18 Jahre alt – im Krankenhaus notoperiert wird, ist sie vermutlich schon dem Tod geweiht. Nach der Obduktion der jungen Frau stellt sich heraus, dass es an ihrem Körper nicht nur „frische“ Verletzungen gegeben hat.
Nach Aktenlage
Was soll einer sagen, der als Gutachter bestellt ist und nicht mit dem Probanden reden konnte? Gutachten werden – so heißt es – ’nach Aktenlage‘ erstellt. Das wäre der eine Teil. Der andere: Inaugenscheinnahme des Angeklagten während des Prozesses. Immer wieder spricht der Gutachter von Hypothesen. Fast alles ist Hypothese und wahrscheinlich wäre es fahrlässig, angesichts einer solchen Ausgangslage von ‚gesicherten Erkenntnisses‘ zu sprechen. Es geht um Vor- und Nachtatverhalten und es geht – letztlich – natürlich um die Frage nach der Schul(un)fähigkeit eines Menschen – um die Frage nach Steuerungs- und Einsichtsfähigkeit zum Zeitpunkt der Tat. Der Gutachter findet nichts, das ihn dazu führen würde eine eingeschränkte Steuerungs- oder Einsichtsfähigkeit zu vermuten und schon gar nicht zu unterstellen. A.s Kopf: weiterhin in der Schlinge. Sein Sitzplatz weiterhin und dem Schwert de Damokles. Man muss kein Prophet sein: Es wird hier keinen Freispruch geben und keine Feststellung der Schuldunfähigkeit. A. wird – das kann vermutet werden – von der Härte des Gesetzes getroffen werden, so, wie seine Tritte und Schläge sein Opfer getroffen haben. A. wird überleben – da liegt der Unterschied.
Viel zu spät eigentlich
Hätte der Angeklagte, als er angesichts des Dramas (und wahrscheinlich viel zu spät) Hilfe zu holen versuchte, den Helfern nicht den Ausweis des Opfers in die Hand gedrückt, „hätten wir nicht einmal gewusst, um wen es sich handelt“, sagt der Staatsanwalt in seinem Plädoyer. Ein namenloses Opfer – fremd in dem Land, in dem sie zu Tode kam. Kein Hahn hat nach ihr gekräht. Es ist alles irgendwie unerträglich. Als der Angeklagte aus dem Saal geführt wird, macht sich ein Gedanke breit: Vielleicht ist es gar nicht so, dass da einer ist, bei dem – viel zu spät eigentlich – (s)eine Tat, eingetroffen ist. Anlass für Tränen hat es im Verlauf von zwei Verhandlungstagen reichlich gegeben: Spätestens, als ein Gerichtsmediziner die Grausamkeiten aufzählt, die dem Opfer widerfahren sind und die ihr – es gibt eigentliche keine andere Möglichkeit – vom Angeklagten zugefügt wurden – spätestens da wäre doch die Zeit für Tränen erreicht gewesen. Dann sickert es in den eigenen Kopf – der Kollege sagt‘s: „Der hat erst nach dem Antrag des Staatsanwaltes zu weinen angefangen.“ Ja. Tatsächlich. So war‘s. Erst, als eine Zahl in den Raum getragen wurde – neun Jahre wegen Totschlags und nicht etwa wegen Körperverletzung mit Todesfolge – erst, als die Neun ausgesprochen war, erst dann begann die Traurigkeit. Eine Traurigkeit, die – so könnte man meinen – im eigenen Schicksal des Täters gründet und nicht im Tod einer 18-jährigen Unbekannten. Neun Jahre also fordert der Staatsanwalt. Man habe, sagt er, keinerlei Reue gesehen. Kein Geständnis gehört.
Was die Erinnerung hergibt
Dann beginnt die Verteidigerin. Was soll ihr Mandant gestehen? Gestehen kann er doch nur, was die Erinnerung hergibt. Aber da ist diese „Wolke“ – ja: Sie sagt Wolke, weil ihr Mandant es so gesagt hat. Eine Wolke, aus der – insel- und bruchstückhaft – verschwommene Details auftauchen. Was die alten Verletzungen des Opfers angeht: „Niemand kann sagen, wer sie zugefügt hat.“ Eine junge Frau, für die niemand sich interessiert – vielleicht stammt, was an Grausamkeitsspuren auf ihrem Körper zu finden war – von der eigenen Familie; von der Familie, die es nicht zu scheren scheint, was da im fernen Deutschland mit der Tochter passiert ist.
Nun beginnt das Schluchzen. Es bricht sich Bahn in den Saal. Nimmt an Lautstärke zu. Jetzt trifft nicht die Sinnlosigkeit einer grausamen Tat beim Täter ein – die Aussicht auf die eigene Zukunftslosigkeit greift um sich. So scheint es. Kein Mitgefühl für die Frau, die seine Lebensgefährtin war? Niemand kann das wissen, aber der Eindruck entsteht: unaufhaltsam.
Letzte Worte
Fünf Jahre stehen am Ende des Plädoyers der Verteidigung. Letzte Worte? Sie handeln von Liebe. Sie handeln von einem, der die Tote „meine Frau“ nennt; von einem, der gesteht, geschlagen zu haben, aber nichts Schlimmes tun wollte; von einem, der die Frau, die erst am Ende in der Urteilsbegründung einen Namen bekommt, geliebt hat; von einem, der nach Hause will („Meine Mutter liegt auf dem Sterbebett“) und damit wird warten müssen. Das Urteil: zehn Jahre wegen Körperverletzung mit Todesfolge. Aus einem Leben, das glücklich werden sollte, („Wir sind nach Deutschland gekommen, um eine Zukunft aufzubauen, eine Hochzeit und ein Haus zu finanzieren“)ist eine einzige Katastrophe geworden – ein Gewaltexzess. Die Geschichte: Eine unfassbare Tragödie, der schwärzester Schatten in der Anonymität eines Opfers liegt.
Was A. für Liebe gehalten hat – was wird es gewesen sein? Er wird Zeit haben, darüber nachzudenken. Seine Mutter wird ohne ihn sterben, so, wie die Frau, die er liebte, ohne ihn gestorben ist, aber durch ihn. Niemand außer den Prozessbeteiligten wird ihre Geschichte erzählen. Da ist ein Mensch irgendwie spurlos verschwunden und man spürt, wie einem Kälte in die Seele schneidet …