Sport, Schach, Tanzen
Wenn man fragt, wie und wo Kinder sich verwirklichen und entfalten können, hängt die Antwort natürlich ein bisschen davon ab, wen man gefragt hat.
Ein Leichtathlet wird sagen: „Beim Sport.“ Bewegung und Kreativität. Aber nicht alle sind Sportskanonen. Was dem einen sein Weitsprung, ist der anderen die Rochade beim Schachclub oder das wöchentliche Austoben in der Theatergruppe. Tanzpädagoginnen singen das Lob des Tanzes. Und was, bitte schön, ist nun Tanzen? Tanzen zu definieren, ist nicht unbedingt einfach, schon gar nicht, wenn es um das Dazwischen geht: Ballett hier, Walzer oder Latin dort… und dann: Tanztheater. Es ist ein Alles und kein Nichts. Und noch etwas: Tanz bedeutet immer auch Haltung – wörtlich und im übertragenen Sinn.
Ella Lichtenberger und Antje Dehnen sind bei den Musikschulen des Kreises Kleve im wahrsten Sinn des Wortes seit 18 Jahren „auf den Beinen“, denn die beiden sind für die Tanzklassen zuständig. Nicht alle Eltern wissen, dass die Musikschule eben auch Tanz anbietet. In der „Flyersprache“ klingt es so:
Herzlich Willkommen
„TänzerInnen gesucht! Kinder und Jugendliche sind herzlich willkommen bei den Tanzkursen der Kreismusikschule Kleve.“ (Noch mal: Es geht nicht um Tanzkurse, wie man sie vor dem Schulabschluss macht.) Weiter im Flyer-Text: „Kreativer Tanz, Improvisation, Jazz- / Modern Dance. Die Teilnehmer werden an kreativen Tanz, rhythmische Bewegung und Choreographie herangeführt. Mit Elementen aus Modern Dance, Jazz Dance und Improvisation werden bewegte Bilder und tänzerische Motive gestaltet.“ Ach ja – wenn im Flyer „Teilnehmer“ steht, könnte es kaum gegenteiliger sein, denn: Die Jungen-Dichte bei den Tanzklassen ist, sagen wir es einmal so, überschaubar. Konkret formuliert: Achtzehn Jahre auf den Beinen – zwei Jungs. So viel zur Theorie.
Ein Besuch
Nun zur Praxis. Besuch bei Ella Lichtenberger. Kreismusikschule, ein Montag, 16.45 Uhr. Herzlich willkommen an der Quelle des Bewegens. Erste Feststellung: Beim Tanzen ist immer Girls day – aber das hatten wir ja schon. Zweite Feststellung: Tanzen ist Musik ohne Schutzwall. Wenn du ein Instrument spielst, hast du einen Blitzableiter, einen Stellvertreter. Beim Tanzen wird der Körper zum Instrument. Das wird ab jetzt bei jeder Übung klar. Anfangs sagen die Mädels ihren Namen: Einmal laut, einmal leise. Man könnte am Eigentlichen vorbeidenken und sich fragen, was das soll. Das allerdings wäre fatal, denn Tanz ist Abwägen, Erfassen, Kontrolle. Wenn die Mädels unter Ellas Anleitung den Körper abklopfen, wird noch deutlicher: alle hier sind Instrumente. Das Warm-Up ist das Stimmen, denn wie im Orchester auch, wird ein Grundton, ein Grundklang gesucht. Nach 15 Minuten: die ersten Töne. Ella legt auf. Es erklingt eine Musik, die irgendwie ins Synchrone steuert. Jetzt sind sie alle in der Keimzelle des Tanzes angekommen. Alle blicken zu Ella. Sie macht es vor – die anderen werden zu signierten Kopien. Wer am Tanzen zweifelt, sollte hier zehn Minuten zusehen. Das dürfte reichen, den Schlüssel ins Königreich des Bewegens zu finden.
Man ahnt, wie alles, was hier passiert, zum Bruchstück in einem riesigen Steinbruch wird – zu einem gigantischen Baukasten des Bewegens. Es macht Spaß, hier zum Zeugen zu werden: Aus dem Scheinchaos des Anfangs wird mit jeder Übung ein in sich abgestimmtes Ensemble. Beziehungen entstehen: zum Raum, zu den anderen, zu den Tönen. Haltungen entstehen.
Und wenn das alles nur die Vorstufe ist, wird klar, dass hier etwas ganz Besonderes entstehen kannwirdmuss. Was hier abgeht, ist eine künstlerisch-körperliche Gesamterfahrung der besonderen Art und längt ist mehr als eine Ahnung eingetroffen – eine Ahnung davon, dass, was hier passiert, irgendwie alle Sinne ankurbelt. Man möchte den Rezeptblock zücken und überall Tanz verschreiben. Kaum zu glauben, dass es an Nachwuchs mangelt. Am Kern kann es nicht liegen – eher schon an den äußeren Umständen, die (nicht nur für Musik- und Tanzunterricht) immer weniger Platz lassen.