Schreibkraft
Heiner Frost

Das Denken nach dem Denken

Foto: Rüdiger Dehnen

Heek zeichnet. Die Formate wachsen. Zeichnen ist eine spezielle Art des Denkens. Gedanken sind Objektträger. Heek zeichnet informell. Es gibt nichts wiederzuerkennen. Aber es gibt viel zu entdecken. Es ist, was es ist.


Heek zeichnet nie im Sitzen. Zeichnen ist Bewegung. Der Körper hört zu. Macht mit. Heeks nächste Einzelausstellung heißt: Es ist, was es ist. Der Titel spricht. Er sagt nicht „Es ist nicht, was es ist, war oder sein wird“, und er sagt nicht „es ist nicht, was es sein sollte oder könnte.“ Es ist, was es ist. Aber was ist es? Zeichnungen machen Lärm oder halten still. (Das Geräusch der Bilder.) Heek hat nicht immer gezeichnet, aber er kommt aus der Kunst. Soll man nach dem Vater fragen? Vielleicht gleich zu Anfang – dann sind die Vergangenheiten geklärt. Außerdem ist alles Jetzt nicht ohne das Vorher zu begreifen.
„Papa hat Teppiche gewebt“, sagt Heek und meint seinen Vater Johann Peter Heek. Der Alte ist ein Anker in der Kunstgeschichte einer Region. Er ist auch ein Anker im Leben des Sohnes.  Der Alte hat auch gemalt. „Malen“, sagt der junge Heek über den Alten, „Malen war für Papa eine Art Luxus.“  Wenn es eine Serie neuer Bilder  gab, stellte der Alte sie nebeneinander und ließ den Sohn aussuchen. (Kunst ist eine Summe von Entscheidungen. Kunstauswahl auch.)
Heeks Mutter: Fotografin. Der Bekanntenkreis: Künstlerfreunde. Sammler. Die van der Grintens. Ein Aufwachsen mit der Kunst. Das Atelier des Vaters: Im Haus. Himmelwärts. Erster Stock. Der junge Heek schafft Abstand. Er wird nicht gleich Künstler – er wird Krankenpfleger, studiert Medizin, promoviert. Der Alte: Stolz auf den Sohn, der die Kunst nie aus dem Herzen bannt. Sie ist immer da.  Sie ruht nur. Denkt nach. Dann stirbt der Vater. Ein Atelier ist verwaist. Jetzt folgt der Rücksturz ins Eigentliche. Ein längst Erwachsener taucht zurück. Nein: Zurücktauchen wäre die falsche Begrifflichkeit. Die falsche Voraussetzung. Eine falsche Farbe.
Heek arbeitet als Arzt. Es ist, was es ist. Dann nimmt eine gute Freundin ihn mit zum Tag der offenen Tür einer Kunstakademie. Heeks Liebe auf den ersten Blick ist allumfassend. Da ist dieses Gefühl, dass es jetzt sein muss. Es ist die Beschäftigung mit der Kunst. Heek füllt am selben Tag noch einen Aufnahmeantrag aus: Das Visum für ein anderes Leben – ein Leben auf zwei Gleisen: Hier die Medizin – da die Kunst. Heek probiert sich aus. „Ich musste herausfinden, ob es wirklich ich war, der das wollte.“ Heek will nicht einfach ein ererbtes Mandat. Er will das eigene Leben in der eigenen Kunst. Er sucht Sprache und findet sie. Heek fotografiert. Fotografie ist Belichtung. Was Heek belichtet, geht ans Eingemachte. Er inszeniert den eigenen Tod – eine Arbeit, die jedem, der sie je gesehen hat, den Kopf bevölkert. Irgendwann biegt er ins Zeichnen ab: Es ist, was es ist.
Heek ist keiner, der jeden Tag ins Atelier muss. Auch Denken braucht Pausen. Heeks Weg ins Atelier ist nicht weit. Zwei Treppen herunter. Irgendwie ist es gut, dass das Atelier im eigenen Haus ist. Eine Situation, die er von seinem Vater kennt. Es ist nur irgendwie umgekehrt. Im Elternhaus lag das Atelier himmelwärts, Christophs Atelier: Unten im Haus. Parterre. Geerdet. Die Wände in Heeks Wohnung: Konzentriert leer. Es hängt nicht viel und was da hängt, ist nicht von ihm. Braucht da einer die Ruhe vor den eigenen Bildern? „Nein“, sagt Heek. „Darum geht es nicht.“ Er kann sich und die eigenen Bilder gut aushalten.  Er wohnt jetzt zwar schon ein paar Jahre in diesem Haus, aber es muss sich alles finden. Auf dem Wohnzimmerboden: Ein Maßband. Heek ist mit der neuen Einzelausstellung beschäftigt. Er plant eine Wandzeichnung. Zeichnung braucht Proportion. Zeichnen ist Denken. Vielleicht ist Zeichnen Denken nach dem Denken. Nachdenken. Gibt es einen Unterschied zwischen Zeichnung und Malerei? Natürlich gibt es den. Aber er hat weniger mit Papier und Leinwand zu tun. Malerei ist anderes Denken. Heek hat nicht sofort eine Antwort parat. Nichts, was ausformuliert daherkäme. Könnte er‘s aufschreiben, wäre er doch Schriftsteller. Er ist, was er ist. Nur von der Kunst leben? Warum nicht. Ja. Ja, sicher.
Heek zeichnet. Informell. Nichts zu erkennen – viel zu entdecken. Heek sagt: Präsentation ist wichtig. Sie ist ein Teil der Achtung vor dem eigenen Kunstwerk. Das kann man so sehen. Im Atelier: Ein Ballett aus Zeichnungen. Heek probiert die neue Ausstellung. Die Zeichnungen müssen sich gegenseitig aushalten. Ertragen. Tragen. Ragen. Wer sich die Arbeiten der letzten Jahre ansieht, entdeckt Veränderung. Der Raum vergrößert sich. Die Linien werden erwachsen.  Wenn Zeichnen eine Form des Denkens, des Nachdenkens ist, dann kann man miterleben, wie das Heek‘sche Universum sich ausdehnt. Aus dem Nachdenken wird Denken, aus dem Denken Vordenken. Vielleicht ist es manchmal zu eng im eigenen Leben – dann öffnet sich diese Tür ins Paradies der Linien. Natürlich ist jedes Kunstwerk eine Lösung – die Beantwortung einer Frage. Vielleicht. Das Schöne an der Kunst ist, dass die Fragen ungestellt bleiben. Auch Zeichnen ist ein Luxus. Es ist der Luxus, Fragen zu beantworten, die niemand stellt. Es ist, was es ist. Schlussbemerkung: Wenn Zeichnen Denken ist, ist dann das Betrachten einer Zeichnung Gedankenlesen? Das hängt vom Standpunkt ab.

Foto: Rüdiger Dehnen

Foto: Rüdiger Dehnen

Ein Gespräch

Mein Vater war Künstler, meine Mutter Fotografin. Die Beschäftigung mit Kunst war ein natürlicher Teil des Alltags. Der Freundeskreis meiner Eltern – alles Künstler. Dazu kamen die van der Grintens. Hans van der Grinten war regelmäßig bei uns im Atelier. Das alles hat natürlich einen großen Einfluss auf mich gehabt.

Ich hatte immer schon den Drive, Sachen zu machen. Das hat aber auch zwischendurch Jahre brach gelegen. Trotzdem verlief meine Entwicklung so, dass ich das Gefühl hatte, von dieser Kunstwelt weg zu müssen – Abstand zu gewinnen. Dazu gehört, dass ich rot-grün-schwach bin und deshalb Kunst machen für mich erst einmal überhaupt nicht in Frage kam. Irgendwie war es also für mich überhaupt nicht möglich, in solchen Kategorien zu denken. Es war mir klar: Mit einer solchen Farbschwäche kann ich nicht das Atelier meines Vaters weiterführen.

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Als mein Vater 1994 starb, war ich 32 Jahre alt. Dass ich einmal Kunst studiere – darüber hat er nie nachgedacht. Wir haben auch nie darüber gesprochen. Daher weiß ich nicht, was er dazu gesagt hätte, aber ich denke schon: Wenn Papa heute meine Arbeiten sehen könnte, fände er die toll. Da bin ich mir relativ sicher. Es war aber zwischen uns nie Thema.

Es gab eine enge Beziehung, wenn er eine Serie neuer Bilder gemalt hatte. Dann hat der die aufgebaut und dann musste ich … durfte ich … musste ich sagen, welches mir am besten gefällt. Darüber haben wir gesprochen – sehr intensiv. Meistens hat Papa dann seine anderen Kinder verteidigt. Beleidigt war er aber nie. Ihm war wichtig, was ich zu den Bildern sagte und das hat mich total gefreut, weil da eine Bindung spürbar wurde.

Natürlich habe auch ich heute Menschen, deren Urteil mir sehr wichtig ist. Aber es ist definitiv nicht so, dass ich, wenn ich neue Arbeiten fertiggestellt habe, jemanden anrufe und dann sage: Komm vorbei, ich muss dir unbedingt neue Bilder zeigen. Zu der Zeit, als mein Vater und ich über Bilder gesprochen haben, wohnte ich ja noch zuhause und das Atelier meines Vaters war oben im Haus. Der musste keine Situation herstellen. Das ergab sich einfach. Das war zu einer Zeit, da war ich circa zwanzig. Mit 22 bin ich dann zuhause weg.

Ich habe dann erst mal bei der Bundeswehr als Sanitäter gearbeitet. Anschließend habe ich den Kriegsdienst verweigert. Sanitäter fand ich okay, aber ich habe schon gedacht: Das kann nicht der richtige Verein für dich sein. Der Kontakt mit der Medizin hat mir unglaublich viel Spaß gemacht, aber mein Notendurchschnitt im Abi war nicht der Beste, so dass ich zunächst einmal nicht an ein Medizinstudium gedacht habe. Aber die Berührung mit der Medizin hat mich fasziniert. Vielleicht war es nicht wirklich die Berührung mit der Medizin – es war schon die Berührung mit den Menschen. Der Kontakt mit den Leuten hat mir totalen Spaß gemacht. Also habe ich eine Krankenpflege-Ausbildung begonnen. Einen Studienplatz hatte ich ja noch nicht. Die Ausbildung habe ich in Kleve gemacht. Parallel habe ich mich nochmals um einen Studienplatz beworben. Ich dachte: Das ist jetzt deine letzte Bewerbung. Ein paar Tage vor meiner Abschlussprüfung als Krankenpfleger – ich hatte schon über eine Zusatzausbildung als Intesivpfleger nachgedacht – habe ich die Zulassung zum Medizinstudium bekommen. Entsprechend entspannt bin ich in die Prüfung gegangen – die Zulassung zum Studium hatte ich mir in die Hosentasche gesteckt – und habe dann einen schönen Abschluss gemacht. Medizin habe ich dann in Düsseldorf studiert. Parallel habe ich immer ein ganz kleines bisschen Kunst gemacht. Ich habe zwei, drei Arbeiten im Jahr gemacht – Zeichnungen, kleine Aquarellsachen. Diese Arbeiten habe ich meinem Vater nie gezeigt. Papa war stolz, dass ich Arzt war. Ich war der erste aus der Familie, der ein Abitur gemacht hat. Opa war Waldarbeiter, Papa hatte einen Volksschulabschluss und ist aufgrund seines Talents an der Werkkunstschule angenommen worden. Das hat den schon bewegt. Als er 1994 starb, wurde meine Beschäftigung mit der Kunst intensiver. Das fing mit diesem Impuls an, dass ich die Farben aus Papas Atelier nicht wegschmeißen konnte. Das ging nicht. Ich habe dann mit den Farben experimentiert. Daraus sind ein paar Ölbilder entstanden.

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Papa hatte sein Atelier – so wie ich – zuhause. Ich kann mir bis heute nicht vorstellen, dass ich irgendwohin fahren muss, um in mein Atelier zu gehen. Die Wege sind kurz. Wenn ich Lust habe, was zu machen und merke, dass es irgendwie nicht läuft, mache ich die Tür zu, gehe wieder hoch und gut is‘. Diese Option, einfach jederzeit im eigenen Haus ins Atelier zu können, empfinde ich als großes Geschenk. Ich muss auch nicht jeden Tag da hin. Es kann durchaus passieren, dass ich mal zwei oder drei Monate nicht arbeite. Dann merke ich aber irgendwann: Da will jetzt was raus.

Der Impuls, künstlerisch zu arbeiten, wurde nach dem Tod meines Vaters immer wichtiger. Meine damalige Frau hat mich sehr unterstützt und ich habe gemerkt: Das wurde immer wichtiger. 1999 haben meine Frau und ich uns getrennt. Ich habe dann eine Freundin kennengelernt, die mir irgendwann die Akademie in Arnheim gezeigt hat. Ich weiß das noch ganz genau. Die hatten da Tag der offenen Tür. Wir sind also hin und irgendwie wusste ich augenblicklich: Das ist es. Dieses Gefühl war plötzlich mit einer Intensität und Klarheit in meinem Kopf, dass ich total überrascht war. Ich bin am gleichen Tag zum Arnheimer Bahnhof gegangen, habe an einem Automat Passbilder gemacht und dann eine Kurzbewerbung bei der Akademie abgegeben. Es war für mich auch klar, dass ich nicht nach Düsseldorf wollte. Das war für mich zu sehr in der Nähe des Beuys’schen und van der Grinten’schen Kosmos. Das hätte irgendwie nicht funktioniert. Nicht, dass mich das nicht fasziniert hätte – aber mir war an einem anderen Blick gelegen. Ich wollte an einem Ort studieren, an dem Beuys nicht der Übervater für alles war.

In den ersten beiden Jahren meines Studiums hat es irgendwie funktioniert, Medizin und Kunst parallel zu machen. 2001 habe ich promoviert und im selben Jahr mein Kunststudium begonnen. Die Aufnahmekommission fand meine Arbeiten sehr reif. Die hatten Bedenken, ob ich denn noch edukabel sei. Das ging so weit, dass die sagten: Wir nehmen dich auf, aber nur unter der Bedingung, dass du ein Vollzeitstudium machst. Ich habe denen dann gesagt, dass das nicht in Frage kommt. Schließlich musste ich ja von irgendwas leben. Ich sollte dann ein paar Wochen darüber nachdenken. Das habe ich auch getan – bin dann hin und habe gesagt, dass sich an meinen Voraussetzungen nichts geändert hätte. Ich habe dann noch mal gesagt: Ich bekomme keine Förderung, und ich muss von irgendwas leben. Ich will das hier machen. Lasst es uns ausprobieren. Nach einem halben Jahr sagten die dann, ihre Angst sei völlig unberechtigt. Ich konnte also weiter studieren. Insgesamt habe ich vier Jahre in Arnheim studiert und 2005 das Studium mit dem Bachelor abgeschlossen. Ich wollte – das gehört noch in meine Studienzeit – wissen: Ist das, was ich da mache, wirklich meins oder ist da eine Art unbewusst übernommener Auftrag. Das war mir unglaublich wichtig. Ich hatte immer ein gutes Gefühl, aber diese Suche habe ich im ersten Jahr meines Studiums auch stark thematisiert. Natürlich müssen diese zwei Ansätze sich nicht widersprechen, aber ein übernommener Auftrag kann sehr ungesund sein. Diesen Aspekt wollte ich geklärt haben. Am Ende kam heraus, dass es sich nicht um einen Auftrag handelte. Ich teile mit meinem Papa einfach die Faszination für diese Kunstwelt. Bei meinen beiden Schwestern ist das nicht so. Die haben natürlich ein paar Bilder von meinem Papa, aber das war’s dann auch.

Als 2007 meine Fotoausstellung in Kranenburg gezeigt wurde, sind die beiden natürlich da gewesen und ich glaube, ich wäre auch enttäuscht gewesen, wenn sie nicht gekommen wären.

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Es fällt mir schwer, das Gefühl zu beschreiben, dass ich irgendwann sicher war: Kunst ist meins. Ich kenne Künstlerkinder, bei denen der Weg zur Kunst sehr über die Arbeiten des Vaters gelaufen ist und die ganz lange gebraucht haben, um sich freizuschwimmen und ihr eigenes Ding zu finden. Das war bei mir nie so. Ich habe immer völlig eigene Sachen gemacht – Sachen, die schon auch mit dem Leben hier am Niederrhein zu tun haben, aber eine direkte, sichtbare Verbindung zu meinem Vater hat es dabei nicht gegeben. Nach meinem Abschluss war ich unglaublich mit der experimentellen Fotografie beschäftigt. Ich habe mich ja in den ersten fünf Jahren nach dem Studium vornehmlich mit Fotografie beschäftigt. Mein Kunststudium hat ja wirklich sehr spät stattgefunden. Mir ist es beim Machen immer darum gegangen herauszufinden, was das alles mit mir zu tun hat. Die Art, wie ich fotografiert habe, hat ja mit dem, was man gemeinhin unter Fotografie versteht, fast gar nichts zu tun. Ich habe keine Landschaften gemacht, Portraits oder Streetaufnahmen. Diese Form der Genre-Fotografie – das war ich nicht. Ich habe beispielsweise Lochkameraaufnahmen gemacht. So ein Projekt begann dann mit einer sechsmonatigen Planungsphase. Da ging es dann darum, wie ich etwas ins Bild setzen kann. Die Serie, in der ich meinen eigenen Tod inszeniert habe, gehört noch immer zu denen, die viele Menschen fürchterlich schockiert. Nein – schockiert ist nicht das richtige Wort. Man müsste vielleicht anfassen sagen. Ich habe diese Serie ein paar Mal gezeigt, aber das war meistens eher nicht in der unmittelbaren Umgebung. Für Menschen, die mich gut kennen, ist diese Serie sehr konfrontierend. Für mich war diese Arbeit eine sehr ernste Auseinandersetzung mit dem Thema: Wie geht unsere Gesellschaft mit dem Tod um und wie gehe ich selber damit um? Was existiert an Scheinheiligkeiten rund um das Thema Tod? Was gibt es für Rituale?

Existentielle Themen spielen eine wichtige Rolle für mich. Das hat vielleicht auch mit meinem Beruf als Arzt zu tun. Das ist eine andere Dimension, die sich dann noch einmal verändert, wenn man selbst involviert ist. Das habe ich gemerkt, als mein Vater an Krebs erkrankte. Was das Arzt-Sein angeht, denke und hoffe ich, dass ich sehr dicht bei den Leuten bin. Wir Anästhesisten sind ja nicht nur Menschen, die anderen eine Narkose verabreichen – wir leiten häufig auch die interdisziplinären Intensivstationen. Intensivmedizin bei operierten Patienten fällt in die Zuständigkeit der Anästhesisten. Die Operateure versorgen die Grunderkrankungen, aber im Prinzip kümmern wir uns um den ganzen Rest. Dazu gehören in der Regel auch Gespräche mit Angehörigen.

Mittlerweile denke ich: Wenn ich nur mit dem Künstlersein überleben könnte, würde ich nicht mehr Arzt sein. Es gab in meinem Leben durchaus Phasen, wo mir der Beruf zu schaffen gemacht hat. Da gab es dann auch Phasen, in denen ich nicht arbeiten konnte. Zu viel Elend. Zu viel Schmerz. Zu viel Leid. Zu viel Tod. Dazu kam der Tod einer guten und wichtigen Freundin. Das führte dazu, dass ich ab der Hälfte meine Kunststudiums eine Zeitlang nicht als Arzt gearbeitet habe. Genau in dieser Phase ist dann auch die Serie über den Tod entstanden. Diese Arbeit hatte also sowohl mit meinem Beruf als auch mit mir selbst zu tun. In der Rückschau fällt mir die Analyse natürlich leichter. Das Ganze hatte mit einem Bedürfnis nach Abstand zu tun. Und natürlich war das nicht einfach eine Auszeit. Ich war richtig krank. Mittlerweile geht es mir wieder gut. Richtig gut. Ich habe auch festgestellt, dass meine Themen leichter geworden sind. Auch wenn das platt klingt: Ich habe mittlerweile richtig Spaß am Leben.

Momentan widme ich mich zu 99 Prozent dem Zeichnen. Meine letzten Fotoarbeiten stammen aus dem Jahr 2010. Natürlich schließe ich nicht aus, dass ich auch wieder fotografische Arbeiten machen werde. Wenn man die Sache mal pragmatisch sieht, ist es ja auch so, dass Fotografie sehr teuer ist. Wenn ich damals eine Fotoserie gemacht habe, die – sagen wir – aus zehn Arbeiten bestand – aus zehn Arbeiten also, die ich präsentabel fand –, dann hat mich die Präsentation pro Arbeit rund 200 Euro gekostet. Das waren dann 2.000 Euro, um diese Serie ausstellungsfertig zu präsentieren. Ich hatte mir gerade dieses Haus gekauft und ich hatte schlicht und ergreifend auch nicht die Kohle, um dann auch solche Arbeiten zu finanzieren. Das erschien irgendwie völlig illusorisch. Ich bin der festen Überzeugung, dass man eine Arbeit gut präsentieren muss. Das hat etwas mit Wertschätzung zu tun. Um es noch direkter zu sagen: Die Präsentation ist für mich Teil des Kunstwerks. Man kann das eine nicht vom anderen trennen. Der Respekt vor einer Arbeit zieht eine angemessene Präsentation nach sich. Das finde ich wichtig. Eine Zeichnung, die ungerahmt auf dem Boden liegt … das geht irgendwie gar nicht.

Ich finde Unterscheidungen manchmal schwierig. Was ist der Unterschied zwischen Malerei und Zeichnung? Ich denke nicht in solchen Kategorien. Zeichnen ist eine auf Papier gebrachte intuitive Art des Denkens. Ich empfinde die Trennung zwischen Zeichnung und Malerei als künstlich. Natürlich ist es so, dass Zeichnung sehr von der Linie dominiert wird. Ich kenne Maler, die ich persönlich eher als Zeichner sehe. Bei Edgar Eubel ist das so. [Edgar A. Eubel, geboren 1953 in Essen, lebt und arbeitet in Datteln und Recklinghausen.] Es gibt Künstler, deren Arbeiten ich als Zeichnung erlebe, aber es ist schwierig, dafür Worte zu finden. Ich habe im künstlerischen Bereich nicht auf alle Fragen, die mir gestellt werden, eine Antwort. Was mich und das Zeichnen angeht, ist das eine Art Entwicklung, die sich aufgetan hat. Ich bin aus dem Zeichnen mit dem Stift gekommen und meine Zeichnungen sind sehr puristisch in der Wahl der Mittel. Ich halte mich meistenteils sehr zurück mit Farbe – ich bin viel mit Nicht-Farben unterwegs: Schwarz, Weiß, Grau. Das gehört dann schon in die Domäne des Zeichnens. Ich denke aber, um das noch mal klar zu sagen, nicht in Kategorien. Ich frage mich nicht: Bist du jetzt Maler oder Zeichner? Die Dinge müssen gemacht werden – das klingt vielleicht platt, aber ich habe einen Drang, Sachen aufs Papier zu bringen. Ich bin kein Kunstwissenschaftler. Ich muss nicht beschreiben. Ich produziere. Das Zeichnen ist eben meine Form des Denkens. Wenn mein Instrumentarium aus Wörtern bestünde, dann wäre ich Schreiber, aber das bin ich nicht. Viele Dinge in der Kunst kann man mit Worten nicht fassen. Über Kunst zu schreiben, muss, wie ich finde, aus einem persönlichen Erleben kommen, um nicht an einer Oberfläche zu bleiben, die am Ende weniger sagt als das Kunstwerk, auf das sie sich bezieht. Im selben Augenblick, wo jemand die Kunst in vorgefertigte Schubfächer einsortiert, findet eine Form der Entfernung statt, die ich nicht Entfremdung nennen möchte. Mir geht es beim Thema Kunst eben nicht um Kategorien. Es geht mir nicht um Schubladen. Es geht nicht um kunsthistorische Einordnungen. Eine Arbeit spricht zu mir oder dem, der sie betrachtet. Sie spricht oder sie schweigt. Es gibt da keine Mitte. Meine Intention beim Schaffen einer Arbeit ist etwas ganz anderes, als das, was in der Seele des Betrachters passiert. Diese beide Zustände müssen nicht deckungsgleich sein. Ganz im Gegenteil. Sie dürfen sich widersprechen. Aber Sprechen ist wichtig. Kunst ist dann tot, wenn jemand sagt: Du verstehst nicht, was ich gemeint habe. Natürlich will ich, dass meine Arbeiten nach draußen kommen. Ich will nicht nur für mich arbeiten. Das wäre dann eher Hobby oder Therapie. Ich denke schon, dass ich etwas zu zeigen habe. Draußen – das bedeutet dann natürlich etwas wie Ausstellungen. Ich könnte ja auch zweimal im Jahr mein Atelier öffnen und den Leute einfach die neuen Arbeiten zeigen, aber das meine ich nicht. Draußen – das bedeutet natürlich Ausstellungen, das bedeutet Interesse, das ich nicht selbst generieren muss. Ausstellungen sind eine mögliche Form der Wertschätzung. Wenn jemand sich intensiv mit meinen Arbeiten auseinandersetzt – ob er sie nun mag oder nicht –, dann ist das für mich die Wertschätzung. Natürlich ist ein Schulterklopfer schön – aber die Auseinandersetzung mit der Arbeit ist mir am wichtigsten. Die Ausstellung, die ich jetzt in Herne habe, heißt nicht umsonst „Es ist, was es ist“. Es heißt schließlich nicht: „Es ist das, was ich denke, dass es ist.“ Ich erwarte nicht, dass die Leute sehen, was ich sehe – im Gegenteil: Gerade, wenn man so informell arbeitet wie ich das mache, erlebt man häufig, dass das, was man macht, zur Projektionsfläche für die anderen wird. Dass die Leute ganz andere Dinge sehen und hineininterpretieren, finde ich ganz spannend. Viele Leute sind auf der Suche nach dem Gegenstand – nach dem Konkreten. Ich denke, das ist sozusagen eine biologisch wichtige Funktion. Die Fähigkeit, Dinge zu erkennen und schnell ihre Bedeutungen zu erfassen, war und ist Teil unserer Überlebensstrategie. Wir sind darauf angewiesen – heute und früher wahrscheinlich noch mehr –, Dinge einzuordnen. Wir sehen in Mustern.

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Informelles Zeichnen ist aber natürlich nicht das Verbergen des Gegenständlichen, denn das würde ja im Umkehrschluss bedeuten, dass der Gegenstand zentral gestellt wäre. Denken muss nicht in Bildern oder Worten stattfinden. Ich kann eine Komposition ertasten. So was interessiert mich wahnsinnig. Das alles passiert aber nicht im Moment des Zeichnens – das findet quasi nachgelagert, also in der Rezeption statt. Da entscheidet sich dann auch, ob eine Arbeit Bestand hat oder eher für die Rundablage taugt – ob sie also höchstens in der Zwischenablage landet.

Natürlich ist Zeichnung Entwicklung. Es entwickelt sich eine Art Sprache. Es entwickelt sich eine Art zeichnerisches Vokabular – aber parallel dazu entsteht auch eine Form der Grammatik. Für mich geht es auch darum, wie Flächen und Linien miteinander reagieren – es geht darum, wie sie sich gegenüber dem Rand verhalten, wie sie sich untereinander verhalten. Es gibt in einer Zeichnung – sagen wir – Energieverdichtungszonen. Vielleicht sollte ich die Energie weglassen: Es gibt also Verdichtungszonen, die wie gerade gesagt, miteinander reagieren, sich gegenseitig beeinflussen. Natürlich denke ich im Akt des Zeichnens über all diese Aspekte nicht nach. Manchmal kann es allerdings passieren, dass ich im Nachhinein noch mal an eine Arbeit drangehe. Meist endet das nicht gut, aber manchmal findet im Nachhinein eine Intervention statt, die sich genau richig auswirkt.

Wenn ich zeichne, hat das häufig einen seriellen Aspekt. Ich mache nicht nur eine Zeichnung, aber es ist nicht so, dass ich mich erst warm zeichnen müsste. Es ist nicht so, dass ich erst mal fünf Anläufe mache, damit am Ende eine gute Zeichnung entsteht. Es kann sein, dass ich fünf Zeichnungen mache – die ersten drei sind super und zwei sind einfach misslungen. Das hat nichts mit der Reihenfolge zu tun. Da gibt es keine Rezeptur.

Es gibt am Ende einer Zeichnung das Gefühl: Das ist jetzt stimmig und rund. Dann höre ich auf. Dieses Gefühl ist konsistent. Es ändert sich nicht. Ich stelle mir natürlich nicht bewusst die Frage, ob eine Arbeit fertig ist. Eine Zeichnung im Nachhinein zu korrigieren, ist ein absuter Ausnahmefall. Es gibt Arbeiten, die in mir das Gefühl zurücklassen, dass da noch etwas fehlt. Eine solche Arbeit würde ich dann nicht in die Welt entlassen. Es kann sein, dass ich sehr lange darüber nachdenke, was einer bestimmten Arbeit fehlt. Und dann passiert plötzlich etwas und es gibt eine Intervention. Aber das ist wie gesagt eher eine Ausnahme.

Ich weiß nicht, ob sich mehr Leute für Malerei interessieren als für Zeichnung. Die meisten, mit denen ich spreche, interessieren sich für Zeichnung, aber das liegt natürlich daran, dass ich mich mit Zeichnung auseinandersetze, aber ich denke schon, dass Malerei sehr viel mehr gesehen wird. Vielleicht auch mehr wertgeschätzt. Möglicherweise hat das etwas mit dem Bildträger zu tun und damit, dass zum Beispiel Leinwand mehr mit Haltbarkeit in Verbindung gebracht wird als Papier. Malerei wird ja auch traditionell erheblich besser bezahlt als Zeichnung. Zeichnung wird grottenschlecht bezahlt – oft sogar im Vergleich zur Grafik. Natürlich finde ich das nicht toll. Ich beschäftige mich mit einer Kunstform, die beschissen bezahlt wird und für die es nur einen sehr kleinen Markt gibt. Und informelle Zeichnung ist dann ein noch mal kleineres Segment. Malerei ist auch in den Museen viel mehr Thema. Das ist einfach so. Ich bekomme aber durchaus mit, dass die Wertschätzung für Zeichnungen eine ansteigende Kurve beschreibt. Letztlich muss es doch darum gehen, ob eine Arbeit Qualität hat, ob sie zeitgemäß ist. All das sollte im Wesen der Arbeit liegen und nicht durch den Bildträger oder die Technik determiniert sein. Letztlich interessieren mich Strömungen und Moden nicht wirklich. Es gibt Dinge, die ich machen muss. Dinge, die raus wollen.

Mein Schritt von der Fotografie zur Zeichnungen war kein einfacher. Ich hatte mir ja – für mich selber, aber auch in der Wahrnehmung von außen – eine Position erarbeitet. Zu den Fotografien gab es immer ein Gedankengebäude. Zeichnen hat viel mehr mit Ausliefern zu tun. Dazu gehört auch der Mut, sich fallen zu lassen. Es gibt da kein Vorher – keine Planungsphase. Du musst dich einlassen – auf die Situation – auf dich selber. Das musst du aushalten können. Fotografie hat, im Gegensatz zu Malerei und Zeichnung, eine fast physikalische Anbindung an das Reale. Zeichnung ist für mich die Freude am Beweis, dass es auch andere Realitäten gibt.

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