Schreibkraft
Heiner Frost

„Wer nicht denken will, fliegt raus“ oder: Museum als Essay

Manchmal lockt die Kunst. „Ja, ja. ja.“ Manchmal droht sie: „Nä, nä, nä.“ Sie stellt Bedinungen: „Wenn, dann“, sagt sie. Sie sagt: „Wer nicht denken will, fliegt raus!“ Haltstop. Das hat nicht die Kunst gesagt. Kunst spricht nicht. Künstler sprechen. Aber wie autonom ist ein Kunstwerk? Kann es sich vom Schöpfer lösen und dann ein Leben in der eigenen Welt beginnen? Kann das Kunstwerk den Schöpfer verleugnen und ihn aus dem Staub machen?


Die neue Ausstellung im Museum Kurhaus Kleve hat sich einen Beuys-Satz als Titel ausgeliehen: „Wer nicht denken will, fliegt raus.“ Wer droht? Der Künstler? Das Museum? Die Kuratoren? Vielleicht droht niemand. Vielleicht wird nur laut gedacht. Wenn es einen Satz gibt, der bis zur Gestaltlosigkeit von Freund und Feind allein durch Zitieren entwertet wurde, war es der eine, den alle schon gehört haben: Jeder Mensch ist … nein – man kann das nicht zu Ende zitieren. Aber man kann Haltbarkeiten hinterfragen. Vielleicht hat der Satz seine Gültigkeit verloren. Vielleicht gehört er nicht mehr Beuys. Vielleicht gehört er längst uns allen. Uns Künstlern …?

„Wer nicht denken will, fliegt raus – Handlungsanweisungen nach Beuys“ ist eine Ausstellung, die erst beim Nachhausgehen im eigenen Kopf explodiert. „Wer nicht denken will, fliegt raus“ ist nicht sommerbunt und luftigleicht. Die Ausstellung stellt Anforderungen. Man sollte nicht kommen, um sich berieseln zu lassen. Es gibt museale Vokabeln: Positionen. Eine Position ist vielleicht etwas, das mehr ist als man sieht. Positionen sind – man kann es so oder so sehen – Bekenntnisse oder Barrikaden, Stimuli oder Stimmungen. Manchmal werden Namen werden zu  Positionen: Olga Balema, Alice Channer, Thea Djordjadze, Harm van den Dropel, Kristof Kintera, Martin Kippenberger, Hito Steyerl, Barthélémy Tguo, Erwin Wurm.

Alive Channer: Burial, 2016

Alive Channer: Burial, 2016

„Wer nicht denken will, fliegt raus“ macht ein Museum zum Essay. Natürlich wird ausgestellt: Man sieht, man fühlt, man hört, aber „Wer nicht denken will, fliegt raus“, entspricht nicht dem Muster des Frontalunterrichts – die Ausstellung doziert nicht, sie wirkt ein bisschen wie einer, der – die Schirmmütze ins Gesicht gezogen – an einer dunklen Ecke steht und den Weg eng macht. Nein – niemand muss sich fürchten. Ganz und gar nicht. „Wer nicht denken will, fliegt raus“ ist alles andere als ein bildungsbürgerlicher Sonntagsausflug zur Mona Lisa – nichts, das man nach dem Sehen einfach abhaken könnte. Kein „Best of“ nach dem Motto: Die 100 besten Filme, die 100 besten Gedichte … so funktioniert es nicht, wenn in einem weißleeren Raum eine Gestalt von Kindsgröße den Kopf in unregelmäßigem Rhythmus gegen die Wand schlägt. Erbaulich ist das nicht. Was würde man dem achtjährigen Enkel auf die Frage antworten „Opa, was tut der?“? Beschreibung reicht nicht aus. „Die Arbeit heißt ‚Revolution‘, naja und Revolution bedeutet manchmal, dass jemand mit dem Kopf durch …“ Nein – nicht so antworten. So nicht. „Revolution“ ist die vielleicht provokanteste Arbeit in der Ausstellung. Falsch: Es ist die lauteste Arbeit – nicht nur, was die Dezibel angeht. „Wer nicht denken will, fliegt raus“, zeigt Weiterentwicklungen des Beuys‘schen Kosmos ins Jetzt. Das klingt abgehobelt und ist es vielleicht auch. Die Welt ist eine andere geworden – der Materialkanon erweitert. Kunst ist die bewusste Erweiterung des Gefühlten, Gedachten, Erlebten. Aber hat sich die DNA der Kunst verändert? Wahrscheinlich nicht. Es gibt – verglichen mit Beuys‘ Zeit – andere Möglichkeiten, aber letztlich ist Kunst nicht von der Beschäftigung mit den Möglichkeiten geprägt. Letztlich besteht kaum ein Unterschied zwischen einer Höhlenzeichnung und einer Computergrafik. Es geht um Kommunikation, und eine Trommel ist so gut wie ein Synthesizer.

Kristof Kintera: Revolution

Kristof Kintera: Revolution

Vielleicht beschreibt man Barthélémy Toguos „Urban Requiem“. Ein Raum voller Urteile. In Regalen: die Stempel. An den Wänden: das Abgestempelte. Toguo ist das andere Ende von Kristof Kinteras „Revolution“ – Toguo zeigt Endpunkte: „Burger des Staates“, steht abgestempelt auf der Wand, oder „I am human“, „Torture never again“ „Balkanrute“ und „heimatlos“. Die Wirklichkeit ist ins Museum eingedrungen, denkt man und – längst schon auf dem Weg zum Parkplatz – explodiert Toguo im eigenen Kopf: „Heimatlos“ – denkt man und dann hängt da ein Plakat für das nächste Oktoberfest: Menschen werden sich bayerische Trachten anziehen und in eine Heimat tauchen, die anderswo verortet ist. Jeder Mensch ist … Man hört, wie der kleine Junge mit dem Kopf gegen die Wand schlägt – die Kunst ist noch nicht zur Erinnerung geronnen. „Wer nicht denken will, fliegt raus“, ist mehr als eine Ausstellung. Vielleicht begreift man jetzt das Wort „Position“ – es beleuchtet Demarkationslinien, Grenzregionen. „Wer nicht denken will, fliegt raus“ stellt Anforderungen, singt keine Schlaflieder und verdeutlicht, dass es zum Verständnis einer Position den eigenen Standpunkt braucht. So wird das Museum zum Essay, dessen Gehirn in den Betrachter wächst. Man braucht Zeit, damit aus der Kunst eine Erinnerung wird.

Barthélémy Togou: Urban Requiem

Barthélémy Togou: Urban Requiem