Schreibkraft
Heiner Frost

Cantus Domus oder: Deutsche Botschaft

Vielleicht ist ˋDespezialisierungˋ die richtige Vokabel. Die Rechtschreibkorrektur sieht es anders. Sie geht in Lauerstellung und kommt mit Ersatzvorschlägen: Depersonalisierung. Deoffizialisierung. Deinundustrialisierung. Es kann nicht sein, dass jemand oder etwas sich despezialisiert. Dergleichen ist im System nicht vorgesehen.

Man muss Stefan Reichmann diese Vokabel nicht erklären. Er hat könnte ihr Erfinder sein. Er ist der Kopf des Haldern Pop. Ein Festival, das keine Überraschungen bietet, ist nicht sein Ding. Beim Haldern Pop haben sie in diesem Jahr Ahoj-Brause im Sponsoren-Chor. Auf dem Festivalgelände sollen Wundertüten verkauft werden. Das passt. Festivals sind, wenn es n icht gut läuft, längst zu Sparten-Tagungen geworden. Planeten fürs Spezielle. Natürlich kann man auch in Schubladen Entdeckungen machen, aber Haldern Pop lebt davon, Räume zu öffnen. Das darf auch wörtlich genommen werden. Dass seit ein paar Jahren die katholische Kirche als Spielstätte zum Festival gehört, fühlt sich gut an. Räume erweitern. Räumen haben ihren eigenen Klang. Sie lassen sich nicht unterordnen. Sie setzen sich durch. Es gibt Räume, die von Architekten gedacht sind. Und dann wäre da noch die Seele. Kirchenräume sind Seelenräume.

Dass Leute, die zu einem Pop-Festival anreisen, sich am zweiten Tag morgens um 11 in einer Kirche Chormusik anhören, ist schon schräg. Schön schräg. Despezialisierung a la Haldern Pop. Wer hier anreist, kann mit Namen wie „The Slow Show“ oder „Damien Rice“ jonglieren, aber:Wer, bitte schön, ist „Cantus Domus“? Da laufen knapp 30 Leute barfuß in eine Kirche ein und haben nicht einmal Instrumente. Sie bieten Seelenklänge. In der Kirche, die bis auf den letzten Platz besetzt ist, herrscht längst Lebensstille. Totenstille findest du auf dem Friedhof. Cantus Domus reist kurz mal eben durch 600 Jahre Musikgeschichte, ohne dass in Tönen doziert wird. Despezialisierung. „Wenn du ein Festival machst, musst du Räume öffnen“, sagt Stefan Räume. Räume haben Türen. Räume haben ihren eigenen Klang. Musik braucht Räume, wenn man sie von Verstärkern abkoppelt. Cantus Domus öffnet den Raum. Plötzlich stehen da 30 Leute. und singen die Welt aus den Angeln. Nichts als Klang. Knut Nysted? Immortal Bach? Man muss Nysted nicht kennen. Man muss nicht ahnen, wie Nysted „Immortal Bach“ strukturiert hat. Man muss nur die Seele aufspannen. Wer nicht tot ist, muss merken, dass jetzt und hier das Besondere passiert. Die Kirche – noch immer lebensstill. Cantus Domus singt einen Konsenz herbei, der nicht planbar war aber wünschenswert ist. Mann muss sich nicht auskennen, aber wenn einer hinhört, merkt er schnell, dass hier nichtg Feldwaldwiese gesungen wird. Dieser Chor ist ein besonderes Instrument. Eines, das sich im Klang einnistet. Man hört einen Grundgedanken – einen Grundklang. Man muss nicht wissen, wie schwierig es ist, einen Klang ohne Netz und doppelten Boden in die Welt zu schicken. Mann muss keinen Vortrag halten. Man muss nicht über das Zentrum eines Klangs dozieren, Man muss nicht nachhause fahren und gleich die neue Platte bestellen. Wenn bei einem Pop-Festival morgens um 11 solche Klänge zu hören sind, kann das Erlebnis zur Erinnerung werden. Despezialisierung. Man nimmt das Besondere mit zurück. Das anschließend das Publikum auf die Bänke steigt und sich beim Klatschen wunde Handfflächen holt, gehört ins wunderbare Reich des Haldern Pop. Dass die Festivalbesucher quasi als Zugabe noch eine Bach-Kantate gespielt bekommen und danach dorfauswärts zur Hauptbühne pilgern, wo andere Räume mit anderen Klängen korrespondieren, ist vielleicht nur hier zu erleben.

Cantus Domus ist in Haldern „Chor in Residenz“. „Die Künstler wissen, dass es da einen Chor gibt, den sie für ihre Projekte nutzen können“, sagt Stefan Reichmann. Cantus Domus erweitert das Klangspektrum des Festivals – ein Ensemble, das sich für die Schnittstellen der Musik interessiert. Der Chor bleibt nicht einfach in Klassik stecken. Cantus Domus ist kein Background-Chor, kein Fernsehballett auf Stimmbändern, keine Lala-Truppe. Chorklang ist Ursprungsklang. „Viele Leute wissen heute kaum noch, wie Klänge ohne Elektronik klingen“, sagt Stefan Reichmann. Haldern Pop ist ein KLanglabor, das zeigt: Es muss nichts neu erfunden werden. Manchmal reicht es, ein Angebot zu machen. Cantus Domus ist ein solches Angebot und das Haldern Pop hat es geschafft, ein Publikum zu erziehen, das mit Wertschätzung für das Besondere anreist.

Wer im vergangenen Jahr dabei war, wühlt im Line Up: Cantus Domus ist wieder dabei. Mal in der Artist-Info stöbern. Andererseits:Man braucht die Info nicht – sie bestätigt nur, was man schon gehört hat. Wenn es gälte, einem Außerirdischen in zehn Minuten zu erklären, was Musik ist, würde man vielleicht Cantus Domus auftreten lassen: Die deutsche Botschaft. Der Chor ist eine Art Nationalmannschaft – ein Qualitätsinstrument. Etwas, das Leben schöner macht. Despezialisierung ist der Mut, vor nichts Halt zu machen.

Informationen über Cantus Domus: http://www.cantusdomus.de/

Cantus Domus. Foto: Julia Scheffel

Cantus Domus. Foto: Julia Scheffel