Ist Herr A. nun ein bewundernswerter Virtuose oder ein armes Würstchen? Diese Frage wird die 7. große Strafkammer des Landgerichts Kleve zu klären haben. Die Vorwürfe gegen Herrn A. wiegen schwer, sehr schwer – und sollten sie zutreffen, wäre ein umfängliches Geständnis des Angeklagten die beste Vorgehensweise – für ihn und vor allem auch für seine Opfer.
„Strafverhandlung gegen einen 42-Jährigen wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen in 60 Fällen. Laut Staatsanwaltschaft sollen die Taten in dem Zeitraum zwischen Juli 2012 und Juni 2022 gegenüber den drei leiblichen Töchtern erfolgt sein.“
Reihenweise
Das Verlesen der Anklage dauert mehr als zehn Minuten: reihenweise Widerwärtigkeiten, mutmaßlich begangen an den eigenen Töchtern. Herr A. muss gar nichts sagen – das ist als Angeklagter sein Recht. Er hat sich mit seinem Verteidiger beraten und wird Angaben machen: zur Person und zur Sache. Verteidiger und Angeklagter sitzen weiter auseinander als sonst üblich. Irgendwie fällt das auf. Es ist eine dieser Gerichtskleinigkeiten, die aber der angespannten Ansteckungslage geschuldet sein kann.
Abschaum
Herr A. hat die Förderschule besucht. Zuletzt arbeitete er als angelernter Schlosser. Sie haben ihn im Sommer letzten Jahres in seinem Betrieb verhaftet. Seitdem sitzt er in Untersuchungshaft. Männer, denen man vorwirft, was A. vorgeworfen wird, outen sich im Knast ungern, denn sie stehen dann ganz unten in der Hierarchie: Abschaum. Man habe ihm, sagt A., empfohlen, er solle doch lieber sagen, dass er mit Drogen handele.
Noch
„Sind Sie verheiratet?“, fragt die Vorsitzende Richterin bei den ‚Fragen zur Person‘ und A. antwortet mit einem Wort: „Noch.“ A. ist ein freundlicher Mann. Er gibt bereitwillig Auskunft. Die Rundfahrt durch sein Leben ist schnell beendet. Und was die Tat angeht, sagt A.: „Nichts von den Vorwürfen ist wahr.“ Er hat eine Erklärung und kommt auf das Noch und seinen Familienstand zu sprechen: „Meine Frau wollte sich schon lange von mir trennen“, sagt er. Die Anklage also: ein Komplott zum Nachteil eines armen Würstchens? Er, A., kann doch nicht gestehen, was er nicht getan zu haben vorgibt.
Ausschluss
Man wird die Aussagen seiner Kinder nicht hören. Sie finden – nichts ist verständlicher als das – unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Aber in der Anklage sind Details enthalten, bei denen man sich fragt, ob Kinder sich so etwas ausdenken. Auch das hat es schon gegeben.
A.s Verteidiger beantragt mit Hinblick auf die Aussagen der Kinder und der von A.s (noch) Ehefrau das Einholen eines aussagepsychologischen Gutachtens („Die Aussagen weichen teils erheblich voneinander ab.“) Es muss entschieden werden. Um 10.02 Uhr verkündet die Vorsitzende Richterin, man werde sich zehn Minuten lang beraten und über den Antrag entscheiden. Um 10.15 Uhr die Entscheidung: Dem Antrag wird nicht stattgegeben. Die Begründung: „Die Kammer verfügt selbst über die erforderliche Sachkunde.“
Kein Racheengel
A.s Töchter werden aussagen. Die Öffentlichkeit ist ausgeschlossen. Knapp drei Stunden später wird A.s Frau als Zeugin auftreten. Ach ja: Auf die Frage der Vorsitzenden, wie es denn um die Ehe stehe, erklärt A.s Anwalt, dass seitens der Ehefrau die Scheidung noch nicht eingereicht sei, aber wenn das nicht geschehe, werde A. selbst aktiv werden. „Ich will nicht zurück“, sagt A. und man ist gespannt auf die Aussage der Ehefrau …
Die junge Frau, die drei Stunden später am Zeugentisch Platz nimmt, wirkt nicht wie ein Racheengel, der zur Vernichtung des Gatten angetreten ist. Es offenbart sich die Unsicherheit einer Ehefrau und Mutter in einem Glaubenskonflikt: Wer lügt – der Ehemann oder die eigenen Töchter? Man hat die Aussagen der drei Mädchen nicht gehört, aber mehr und mehr entsteht der Eindruck, dass der Mann auf der Anklagebank sein Heil im Gestehen suchen sollte, aber: all das hat nichts zu bedeuten, denn die Frage von Schuld oder Unschuld obliegt einzig dem Gericht. Trotzdem: Wenn A. es gewesen sein sollte, bleibt die Frage, warum er nicht sein Heil in der Flucht nach vorn sucht – warum er nicht gesteht. Die Vorsitzende hatte ihn („Ich tue das bei allen Angeklagten.“) darauf hingewiesen, dass sich ein Geständnis „erheblich strafmildernd“ auswirke.
Einsturz
A. verharrt im Leugnen. Vielleicht liegt es nicht einmal daran, das Vorgeworfene der Welt nicht mitteilen zu können. Vielleicht ist es der Versuch des Verbergens vor sich selbst. Ein Geständnis würde die Welt, die da im Inneren in Stellung gegangen ist, zum Einsturz bringen. Nicht einmal die Fassaden würden stehen bleiben. A. würde – zusammen mit seinem Leben – in einen Strudel geraten. So sitzt er da und weiß vielleicht nicht, wie nahe er am Kraterrand steht.
Wer also ist Herr A.? Glaubt man seiner künftigen Ex-Ehefrau, ist A. sexuell umtriebig – lässt nichts aus, die Ehe an ihr (ein ‚mit‘ scheint das eher nicht zu sein) zu vollziehen. Will sie ihm ans Leder? Es macht nicht den Eindruck. Man probiert einen neuen Ausdruck: ‚Belastungstendenz‘. Eine Belastungstendenz ist bei der Zeugin nicht zu erkennen. Man hat schon Anderes erlebt. Ist Herr A. also eine Art Testosterontorpedo? Sie habe, sagt A. s Frau, schon morgens, wenn A, wach wurde, „kaum Ruhe“ gehabt.
Einblicke über Bande
A. sei, sagt die Zeugin, einer gewesen, der am liebsten spazieren ging. „Das kostet ja nichts.“ Das sei eines der Argumente gewesen. Sie und die Kinder aber wären gern mal in einen Freizeitpark gegangen oder einfach nur zum Schwimmen. Man kann das nachvollziehen, aber die Zahlen sprechen eine andere Sprache. Die Zeugin: Hausfrau und A. somit Alleinverdiener für einen Sechspersonenhaushalt. Nach seinem Verdienst befragt, gibt A. zu Protokoll: 1.500 Euro netto. Damit lassen sich keine Sprünge machen.
Die Einblicke ins Familiäre. die man – quasi über Bande – gewinnt, eröffnen eine Tristesse der besonderen Art. Streits unter den Kindern führen am Ende zum Streit der Eltern. Einmal wirft A. ihrem Mann vor, er schlage die Kinder. Eine Familienbetreuung findet statt. Ja, sagt A., er habe – ein Mal sei das gewesen – jemandem (es muss eines der Kinder gewesen sein) in den Hintern getreten. Eines der Kinder habe – auch das erfährt man – im Zuge der Vorfälle Schlaganfallsymptome gehabt. Frau A.: Zwischenzeitlich in Behandlung wegen Depressionen.
Der gefährlichste Ort
Und dann wieder werden Taten erwähnt, die einen irgendwie sprachlos machen – erst recht dann, wenn man sich vorstellt, dass ein Vater dergleichen an und mit seinen Kindern vollzieht. Irgendwo hatte man gelesen, der gefährlichste Ort für Kinder sei die Familie. Strich drunter. Fett gedruckt. Herr A. auf der Anklagebank: äußerlich ruhig. Gelassen fast. Aber niemand weiß, was in ihm (und den anderen) brodelt. Solange nichts feststeht, ahnt man trotzdem, dass es für alle, seien sie Täter oder Opfer – kein Zurück in ein normales Leben gibt, denn normal war nichts, ist nichts und wird auf lange Zeit nichts sein. Ein Fehlschluss eigentlich, denn wer richtet darüber, was normal ist?
Die Welt dreht sich
Einen Standpunkt hat man noch nicht gefunden in diesem Allesistmöglich. Das Gedankenexperiment: Entscheidet man sich für eine Seite, bekommt alles Gesagte eine andere Gewichtung – die Welt dreht sich: Gut und Böse wechseln die Seiten. Da sitzen fünf Menschen am Richtertisch. Sie werden entscheiden, was mit A. passiert. Bis dahin: drei Tage. A. wird mit dem Urteil ins Wochenende gehen …
Das Urteil
Man hat das Urteil nicht erlebt. Die Plädoyers: unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Anruf bei der Pressestelle des Landgerichts. Das Urteil, erfährt man: fünf Jahre, drei Monate. Die Staatsanwaltschaft, auch das berichtet Pressesprecher Alexander Lembke, hatte acht Jahre, der A. Verteidiger einen Freispruch gefordert. Die Kammer hat A.s Kindern und seiner Frau geglaubt. Man darf vermuten, dass A. bei einem Leugnen geblieben ist. Der Haftbefehl: weiterhin aufrecht. Sollte A. bis zum Ende seiner Strafe in Haft bleiben, wird er – die Untersuchungshaft wird angerechnet – 2027 im Spätherbst entlassen. Schon jetzt ist für ihn nichts wie es war. Wie es dann sein wird – wer kann das sagen?
KLEVE. Da hockt einer auf der Anklagebank und weint – weint bitterlich: ein Schlosshund. Der junge Mann weint seiner Verteidigerin ins Plädoyer. Die Verhandlung wird unterbrochen: 20 Minuten.
Der da sitzt und sich in die Tränen steigert, soll Verursacher des Todes seiner Lebensgefährtin gewesen sein. Der Staatsanwalt spricht von einem Femizid. Was A. seinem Opfer angetan – zugefügt – hat: massivste Gewalt. Schläge. Tritte. Die Tritte so heftig, dass der Dünndarm aus seiner ‚Halterung‘ gerissen wurde. Die Folge: massive innere Blutungen in den Bauchraum. Als die Frau – sie ist zum Zeitpunkt ihres Todes gerade einmal 18 Jahre alt – im Krankenhaus notoperiert wird, ist sie vermutlich schon dem Tod geweiht. Nach der Obduktion der jungen Frau stellt sich heraus, dass es an ihrem Körper nicht nur „frische“ Verletzungen gegeben hat.
Hätte der Angeklagte, als er angesichts des Dramas (und wahrscheinlich viel zu spät) Hilfe zu holen versuchte, den Helfern nicht den Ausweis des Opfers in die Hand gedrückt, „hätten wir nicht einmal gewusst, um wen es sich handelt“, sagt der Staatsanwalt in seinem Plädoyer. Ein namenloses Opfer – fremd in dem Land, in dem sie zu Tode kam. Kein Hahn hat nach ihr gekräht. Es ist alles irgendwie unerträglich. Als der Angeklagte aus dem Saal geführt wird, macht sich ein Gedanke breit: Vielleicht ist es gar nicht so, dass da einer ist, bei dem – viel zu spät eigentlich – (s)eine Tat, eingetroffen ist. Anlass für Tränen hat es im Verlauf von zwei Verhandlungstagen reichlich gegeben: Spätestens, als ein Gerichtsmediziner die Grausamkeiten aufzählt, die dem Opfer widerfahren sind und die ihr – es gibt eigentliche keine andere Möglichkeit – vom Angeklagten zugefügt wurden – spätestens da wäre doch die Zeit für Tränen erreicht gewesen. Dann sickert es in den eigenen Kopf – der Kollege sagt‘s: „Der hat erst nach dem Antrag des Staatsanwaltes zu weinen angefangen.“ Ja. Tatsächlich. So war‘s. Erst, als eine Zahl in den Raum getragen wurde – neun Jahre wegen Totschlags und nicht etwa wegen Körperverletzung mit Todesfolge – erst, als die Neun ausgesprochen war, erst dann begann die Traurigkeit. Eine Traurigkeit, die – so könnte man meinen – im eigenen Schicksal des Täters gründet und nicht im Tod einer 18-jährigen Unbekannten. Neun Jahre also fordert der Staatsanwalt. Man habe, sagt er, keinerlei Reue gesehen. Kein Geständnis gehört.
Dann beginnt die Verteidigerin. Was soll ihr Mandant gestehen? Gestehen kann er doch nur, was die Erinnerung hergibt. Aber da ist diese „Wolke“ – ja: Sie sagt Wolke, weil ihr Mandant es so gesagt hat. Eine Wolke, aus der – insel- und bruchstückhaft – verschwommene Details auftauchen. Was die alten Verletzungen des Opfers angeht: „Niemand kann sagen, wer sie zugefügt hat.“ Eine junge Frau, für die niemand sich interessiert – vielleicht stammt, was an Grausamkeitsspuren auf ihrem Körper zu finden war – von der eigenen Familie; von der Familie, die es nicht zu scheren scheint, was da im fernen Deutschland mit der Tochter passiert ist.
Nun beginnt das Schluchzen. Es bricht sich Bahn in den Saal. Nimmt an Lautstärke zu. Jetzt trifft nicht die Sinnlosigkeit einer grausamen Tat beim Täter ein – die Aussicht auf die eigene Zukunftslosigkeit greift um sich. So scheint es. Kein Mitgefühl für die Frau, die seine Lebensgefährtin war? Niemand kann das wissen, aber der Eindruck entsteht: unaufhaltsam.
Fünf Jahre stehen am Ende des Plädoyers der Verteidigung. Letzte Worte? Sie handeln von Liebe. Sie handeln von einem, der die Tote „meine Frau“ nennt; von einem, der gesteht, geschlagen zu haben, aber nichts Schlimmes tun wollte; von einem, der die Frau, die erst am Ende in der Urteilsbegründung einen Namen bekommt, geliebt hat; von einem, der nach Hause will („Meine Mutter liegt auf dem Sterbebett“) und damit wird warten müssen. Das Urteil: zehn Jahre wegen Körperverletzung mit Todesfolge. Aus einem Leben, das glücklich werden sollte, („Wir sind nach Deutschland gekommen, um eine Zukunft aufzubauen, eine Hochzeit und ein Haus zu finanzieren“)ist eine einzige Katastrophe geworden – ein Gewaltexzess. Die Geschichte: Eine unfassbare Tragödie, der schwärzester Schatten in der Anonymität eines Opfers liegt.
Was A. für Liebe gehalten hat – was wird es gewesen sein? Er wird Zeit haben, darüber nachzudenken. Seine Mutter wird ohne ihn sterben, so, wie die Frau, die er liebte, ohne ihn gestorben ist.