Schreibkraft
Heiner Frost

Am Haken oder: Die Wirklichkeiten des Herrn D.

Manche, sagt man, haben Schwierigkeiten mit dem Verlieren. Geschenkt. Zu reden wäre über die, denen Gewinnen nicht genug ist. Herr D. ist in unser aller Interesse unterwegs. Er ist Staatsanwalt. Die Staatsanwaltschaft – objektivste Behörde der Welt. „Kommen Sie mir jetzt nicht mit Allgemeinplätzen“, grätscht D. einer Verteidigerin ins Wort, die ihn an seine Pflichten zu erinnern versucht.

Eine Ausnahme

Auch Berichterstattung, heißt es, sei dem Objektivitätsgebot verpflichtet. Machen wir für Herrn D. eine Ausnahme. Jahrelang hat man klaglos in Gerichtsverhandlungen gesessen und hingenommen, was passierte. Was Recht ist muss schließlich richtig sein. So viel gleich jetzt: Wer‘s gern meinungslos und objektiv möchte, liest bitte nicht weiter.
Ein Rückblick: Herr D. war Vertreter der Anklage gegen einen, der in Uedem Brandstiftung begangen hat. Das Urteil hielt auch der Revision stand. Eine der Zeuginnen seinerzeit: Die Ehefrau des Angeklagten – nennen wir ihn Z.. Frau Z. hätte damals nicht aussagen müssen. Sie tat es – sagte, sie und ihr Mann seien abends ins Bett gegangen und als sie, Frau Z., morgens aufgewacht sei, habe ihr Mann neben ihr gelegen. Sie könne sich nicht vorstellen, dass ihr Mann in der Nacht das Haus verlassen und die Firma angezündet habe. Zweimal müsse sie in der Regel nachts zur Toilette. Sie gehe davon aus, dass ihr Mann nicht weg gewesen sei.

Erinnerungen

Es lässt sich, was Frau Z. damals sagte, nicht rekonstruieren. In einer Landgerichtsverhandlung wird kein Wortprotokoll geführt. Jetzt tritt Erinnerung gegen Erinnerung an. Herr D. hält seine Erinnerung für übergeordnet. Herr D. hält, was Frau Z. gesagt hat, für uneidliche Falschaussage. Frau Z. – meint D. – sei nichts als eine Weißwaschmaschine für den eigenen Ehemann gewesen. Anzeichen dafür hat er natürlich auch. Es ist der Laptop des Verurteilten. Frau Z. behauptete, sie habe den Laptop ihres Mannes hin und wieder auch benutzt. Seinerzeit setzte sich D. bei der Befragung in triumphale Pose. Frau Z. – heute noch ist D. sicher – habe nicht einmal gewusst, wie der Laptop zu bedienen sei. „Sollen wir den Laptop nochmal holen?“ Das wirkt nicht wie eine Frage. Das ist eher eine Drohgebärde. Frau Z. also konnte seinerzeit den Laptop nicht bedienen. Ergo: ihre diesbezügliche Aussage: Falsch. Gelogen. Ergo: auch das Alibi: falsch. Gelogen. Das hat eine ureigenunrechtmäßige Logik, die zudem mit der Versuchung des Rückschaufehlers eine unheilige Allianz eingegangen zu sein scheint.

Schlussfolgerung oder Falschaussage?

So, denkt man, funktioniert D.s Welt. Es reicht anscheinend nicht, dass er zu Z.s Verurteilung Stein auf Stein getürmt hat. Es reicht nicht, dass Z. hinter Schloss und Riegel sitzt, denn D. ist sicher: Frau Z. hat für ihren Mann gelogen. Und er ist angetreten, auch Frau Z. das Handwerk zu legen. Objektivität? Bitte keine Allgemeinplätze. Jawohl, Herr D..
Dass die Z. gesagt habe, ihr Mann könne eigentlich nicht weg gewesen sein in dieser Nacht, ist für D. nicht Schlussfolgerung – es ist, denktglaubtweiß er: bewusste Falschaussage.
Einmal stellt er fest, dass die Z. in der damaligen Hauptverhandlung anders ausgesagt habe als bei einer tatnahen polizeilichen Vernehmung. Das ist natürlich nicht gut. In D.s Welt belastet es Frau Z.. Als die Verteidigerin aus einer anderen polizeilichen Vernehmung zugunsten ihrer Mandantin zitiert, sagt D., dass es ja nur um Aussagen gehen könne, die in der Hauptverhandlung gemacht worden seien – wohl gemerkt in eben der Verhandlung, von der es kein Wortprotokoll gibt. Man möchte aufstehen und D. fragen, welches Maß denn nun gelten soll. Die Antwort, mutmaßt man, könnte sein: Es geht um D.s Maß. Um seine Sicht auf die Welt und die Schuld und die Dinge. Da kannwill einer nicht loslassen. Ein Sieg kann nur bei Vollständigkeit Sieg sein. Das ist D.s Welt. Das scheint sie zu sein. So fühlt es sich an. Vielleicht hat man ihn einfach nicht verstanden. Das ist ja möglich.

Rückblende

Man blättert im Text, den man damals, nach der Hauptverhandlung, schrieb:
Man kann die Welt aus Verteidigerposition betrachten (alles Entlastende ist positiv – der Mandant ist ja unschuldig) oder aus der Position des Staatsanwalts (es gibt einen Angeklagten – also kann jedes Alibi nur gelogen sein). Es gilt also, die Glaubwürdigkeit der Zeugin – dieser Zeugin [Frau Z.] – anzuzweifeln. Zwei Begriffe stecken in dem Wort Glaubwürdigkeit: Glauben und Würde. Man muss die Aussage eines Zeugen nicht glauben, aber: man muss ihm – dem Zeugen – seine Würde lassen. (Irgendwie sieht man diesen Satz fett gedruckt.) Man muss den Zeugen ihre Würde lassen. Vielleicht hat das dem Staatsanwalt niemand gesagt: Wer sich im Recht glaubt, braucht keinen Theaterdonner.
Gegen Ende der Aussage der Ehefrau geht es um einen Laptop des Angeklagten, auf dem zwei Profile eingerichtet sind: Eines für ihn und eines für seine Frau. Die Zeugin kennt sich nicht aus mit Computern. Man merkt das ziemlich schnell. Oder spielt sie das nur? Der Staatsanwalt will es herausfinden. Die Prozedur: würdelos. Demütigend. Man möchte aufspringen und zur Ordnung rufen. Man spricht mit einer Frau nicht wie mit einem Kleinkind, dem man das Bruttosozialprodukt erklärt und längst beschlossen hat, dass es einen nicht verstehen wird. Das ist nicht nötig. Man wünscht dem Staatsvertreter nicht, dass jemand ihn jemals so behandelt. Und dann wünscht man es sich doch. Ist das noch objektiv? Natürlich nicht. Was hat man nach zwei Stunden Befragung erlebt? Man empfindet die Zeugin als authentisch. Natürlich erinnert sie sich an manche Dinge nicht. Aber ist das nicht irgendwie normal? Natürlich wird es Menschen geben, die auf dem Zeugenstuhl von einer – wie soll man sagen – selektiven Amnesie befallen werden. (Man kann es damit sogar auf Ministerstühle bringen, denkt man. Gerade hat man erlebt, dass jemand sich an einen Termin nicht erinnert, aber weiß, was er bei diesem Termin bestimmt nicht gesagt hat.) Natürlich gilt es, einer Aussage kritisch zu begegnen. Vor Gericht geht es nicht darum, jemandem Glauben zu schenken. Es soll um Tatsachen gehen. Und das ist auch gut so. Wieder einmal ist alles eine Frage des Standpunktes. Der Staatsanwalt scheint – diesen Eindruck gewinnt man – die Frau des Angeklagten als Lügnerin einzustufen. Ja – sie muss ja eine Lügnerin sein. Würde sie die Wahrheit sagen, wäre der Prozess beendet – die Anklage zerstäubt. Es scheint keine Zweifel daran zu geben, dass der Angeklagte der Täter ist, und wenn es keine Zweifel gibt, kann nicht zutreffen, was die Frau auf dem Zeugenstuhl gesagt hat. Vereidigt wird die Frau nicht, obwohl doch ihre Aussage von zentralvernichtender Wirkung ist.

[aus: Biedermann als Brandstifter]

… zurück ins Jetzt

Die Richterin sieht eine andere Welt als Herr D.: Sie möchte, bevor sie diesen Fall entscheidet, Zeugen hören und wird den Vorsitzenden aus der ersten Verhandlung sowie eine Kollegin von D. laden. Diese Kollegin – jetzt bei der Staatsanwaltschaft – war damals Richterin in der Hauptverhandlung. Das muss nichts heißen, aber es schadet nicht, das zu wissen. Die Zeugen sollen also über ihre Eindrücke berichten. Man möchte meinen, dass D. dieses Vorgehen für überflüssig hält. Was zählen, bitte schön, Eindrücke, wenn es nicht seine Eindrücke sind?
Frau Z. – sagt D. – hat falsch ausgesagt, aber er hat die Rechnung ohne Frau Z.s Anwältin gemacht. Klein beizugeben ist deren Sache nicht und das ist auch gut so. Sie steigt zu D. in die Löwengrube.

Wahrheit als Gewinn?

Warum, fragt man sich, hat die Z. damals ausgesagt? Sie hätte von ihrem Recht Gebrauch machen und schweigen können. Vielleicht hat sie gedacht: Sie will nicht am Tag nach einem Urteil mit nagendem Gewissen wach werden. Vielleicht hat sie gedacht, dass alle nur gewinnen können. Die Wahrheit ist – lassen wir die Politik außen vor – immer ein Gewinn. Frau Z. aber hatte nicht mit Herrn D. gerechnet. Wenn eine Ehefrau dem Mann ein Alibi gibt, kann das in D.s Welt anscheinend nur wertlos sein.
Natürlich: Staatsanwälte haben eine Pflicht. Sie können nicht Schuldige laufen lassen. Aber da gibt es auch die andere Seite. Herr Z. ist – der Bundesgerichtshof hat es bestätigt – schuldig. Trotzdem hat man in seinem Prozess Störtöne im eigenen Kopf wahrgenommen. Zu viel blieb offen. Zu viel passte nicht zusammen. Aber: So ist das Gesetz. Man kann nicht die Vorteile nehmen und bei den Nachteilen meutern. Aber so viel steht fest: Sollte Frau Z. der Anklage gemäß für schuldig befunden und verurteilt werden, müsste man den Maler Liebermann zitieren, der einst sagte, er könne gar nicht so viel essen, wie er k… möchte.
Frau Z. wird weiterhin in innerlichem Aufruhr bleiben. Noch hat Herr D. sie am Haken. Dem verehrten Staatsanwalt möchte man sagen: … Nein – vielleicht doch besser nicht.

 

P.S. Herr D. heißt in Wirklichkeit anders. Gleiches gilt für Herrn und Frau Z.

P.S.2: Man könnte die Sache auch so geschrieben haben:
Vor dem Klever Amtsgericht wurde kürzlich gegen die Frau des Mannes verhandelt, der vom Landgericht wegen einer Brandstiftung in Uedem verurteilt wurde. Die Staatsanwaltschaft wirft der Frau vor, in der damaligen Hauptverhandlung uneidlich falsch ausgesagt zu haben, um so ihrem Mann zu einem Alibi für die Tatzeit zu verhelfen. Die Frau hatte seinerzeit ausgesagt, sie und ihr Mann seien abends zusammen zu Bett gegangen. Am nächsten Morgen um 8 Uhr habe ihr Mann neben ihr im Bett gelegen. Sie könne sich nicht vorstellen, dass er in der Nacht das Haus verlassen habe.

Die Staatsanwaltschaft sieht das anders. Die Aussage, die Frau könne sich nicht vorstellen, ihr Mann sei über Nacht nicht da gewesen, müsse als bewusste Falschaussage und nicht etwa als Schlussfolgerung gewertet werden. Ein Wortprotokoll der Aussage liegt nicht vor. In seinem Urteil hatte das Landgericht seinerzeit allerdings ausdrücklich vermerkt, die Aussage der Ehefrau habe nicht ausgereicht, dem Mann ein Alibi zu verschaffen.

Die Vorsitzende Richterin möchte nun zu einem weiteren Verhandlungstermin den Richter aus dem Prozess gegen den Brandstifter hören. Der neue Verhandlungstermin wurde noch nicht festgelegt.

P.S. 3: Im aktuellen Koalitionsvertrag von SPD, Grüne und FDP findet sich unter dem Stichwort Justiz folgender Satz:

Gerichtsverfahren sollen schneller und effizienter werden: Verhandlungen sollen online durchführbar sein, Beweisaufnahmen audio-visuell dokumentiert und mehr spezialisierte Spruchkörper eingesetzt werden.