Man geht hinaus und die Welt fühlt sich an wie gestempelt. Die Linien sind andere geworden – der Blick muss sich erst wieder befreien und – nur damit keine Missverständnisse aufkommen – was man gesehen hat, war großartig.
„Flächenbrand Expressionismus“ heißt eine Ausstellung im Museum Schloss Moyland. Bis zum 6. Juni sind dort „Holzschnitte aus der Sammlung Joseph Hierling“ zu sehen. Auch wenn der Titel vor der Leinwand der Aktualität martialisch erscheint, ist, was man sieht, ein Genuss weitab kriegerischer Impulse. „Flächenbrand Expressionismus“ ist ein vielstimmiges Konzert, das längst nicht nur „den Großen“ einen Platz einräumt.
Brennglasmomente
Die Ausstellung stellt Brennglasmomente her. Man schreitet die Bilderwände ab und glaubt am Ende tatsächlich Stimmen zu hören: Es sind Stimmen, die einen Abschnitt von Geschichte am Kipppunkt erzählen. Altes geht dem Ende entgegen, Neues ist im Aufbruch. Da ist er wieder: dieser Rhythmus, der sich anfühlt wie ein Stempel des Hinsehens auf dem Weg der Loslösung vom Konkreten. „Flächenbrand Expressionismus“ stellt verschiedene Räume mit unterschiedlichen thematischen Ansätzen zur Verfügung. Wieder ist da dieses Gefühl, dass die Kunst ein Viertaktmotor ist: ansaugen, verdichten, explodieren, ausstoßen. Die Ausstellung zeigt, dass in der Kunst die Arbeitsschritte keinem Timecode folgen müssen. Das Explodieren kann auch vor der Verdichtung stattfinden.
Man sieht wie die Kunst in eine Wunde hineinwächst und dabei das Leben neu zusammensetzt; wie es um Befreiung geht – um die Explosion des Atems, um Entfesselung. Man sieht, wie aus der scheinbaren Strenge der Linien ein neues Alphabet des Sehens entsteht. Man sieht, wie der Weg ins Wesentliche zu zielen scheint und sich doch im Spielerischen verlaufen kann.
Themenräume
Die Themen: Portrait, Akt, Liebespaare, Mensch und Natur, Biblische Szenen, Gesellschaftskritik, Zirkus – Café – Varieté, Städtisches Leben, Symbolische Szenerien und schließlich Wege zur Abstraktion können als Wegweiser verstanden werden, aber auch, wer kreuz und quer durch die Ausstellung läuft, fühlt sich aufgehoben. Strenge und Rauschhaftes stehen nebeneinander, ohne in Konkurrenz treten zu müssen. Gerade die Beschränkung (auf das Medium Holzschnitt) führt zu einer unverstellten und ungeahnten Vielfalt. Während man Runde um Runde dreht, taucht plötzlich im imaginären Raum der inneren Leinwand Munchs Schrei auf und fühlt sich verwandt an – tauscht sich aus mit den Schnitten der Ausstellung. Auch Klänge drehen Runden vor dem inneren Ohr: Schönberg, Webern, Berg, Hindemith wehen durch die Räume – nehmen Abschied, winken ein „Hallo“. Es tönt von Mahler bis in die Auflösung aller Tonalität.
Heimkehr
Und doch: Nichts fühlt sich fremd an. Alles Sehen wird zur Heimkehr. Kein Flächenbrand. Kein Grund zur Angst. Nichts droht einen an. Die Ausstellung ist wie ein Zeitbad. Man möchte Bücher lesen, Sehendenken, Ruhe haben, ruhig werden. Und dann – irgendwie lautlos – ist man zurückgespuckt in eine Vorfrühlingswelt, die sich andere Gedanken macht. Machen muss. Man war doch gut aufgehoben im Kokon des Sehens. Was man gesehen hat: eine Art Gegengift zum Atemlosen Jetzt, obwohl, was man sah, mit Leben aufgepumpt war bis zum Platzen.
Unmittelbar
Irgendwie denkt man: Die Arbeiten haben nichts von der Energie eingebüßt, die ihre Herstellung erfordert hat: Das Unmittelbare hat die Zeit überdauert. Am Schluss: ein Wegweiser. Vielleicht ist der Raum, in dem es um die „Wege zur Abstraktion“ geht, ein guter Kompass beim Übergang ins Nebulöse dessen, was kommen wurde. Das klingt grammatisch verrenkt – ja, aber niemand kann zurück hinter das gerade Gesehene, ohne Standpunkt und Haltung aufzugeben. „Flächenbrand Expressionismus“ ist eine gelungene Wegbereitung für das Erfahren der Sprache des Mannes mit Hut und Anglerweste.
Den Katalog zur Ausstellung sollte man mitnehmen, um zuhause zurücktauchen zu können. Mindestens ebenso wirksam: Mehrmals hingehen und erleben, wie sich Denken und Sehen verschieben. Eröffnet wird „Flächenbrand Expressionismus“ am Sonntag um 15.30 Uhr. Zur Eröffnung spielt die Pianistin Anja Speh Werke von Webern, Wellesz und Hindemith. Die Töne atmen mit.