Schreibkraft
Heiner Frost

Achtung, Aufnahme!

Dass bei Hauptverhandlungen vor einem Landgericht Protokoll geführt wird, versteht sich von selbst. Ein weit verbreitetes Missverständnis ist allerdings, dass es sich dabei um ein Wortprotokoll handelt.

DokHVG

Sagt beispielsweise ein Angeklagter zur Sache aus, findet sich anschließend im Protokoll ein Eintrag wie: „Angeklagter sagte zur Sache aus.“ Im Gegensatz zu Verhandlungen vor Amtsgerichten, bei denen ein Inhaltsprotokoll geführt wird, gibt es bei Hauptverhandlungen an Landes- und Oberlandesgerichten nur das sogenannte Formalprotokoll.
Ein neues Gesetz soll nun – so sagt es Bundesjustizminister Marco Buschmann – „unsere Strafverfahren auf die Höhe der Zeit“ bringen. So sperrig der Name des Gesetzes beziehungsweise seine Abkürzung (Hauptverhandlungsdokumentationsgesetz DokHVG) – so durchwachsen sind die Reaktionen der unterschiedlichen Seiten: Anwaltschaft hier – Richterschaft und Staatsanwaltschaft dort.

Contra

Einer der Gegner des neuen Gesetzes, demzufolge Hauptverhandlungen künftig (spätestens ab dem 1. Januar 2030) in Ton dokumentiert werden sollen, ist Gerhard van Gemmeren, seines Zeichens Vorsitzender Richter am Landgericht Kleve. (Aus dem ursprünglichen Plan, Ton und Bild festzuhalten, ist die bildliche Dokumentation gestrichen worden.)
Geplant ist, dass die Tonaufnahmen aus dem Gerichtssaal von einer Spracherkennungssoftware verschriftlicht und jeweils am Ende eines Verhandlungstages den Verfahrensbeteiligten zugänglich gemacht werden sollen.
Schon hier sieht van Gemmeren eine erste Hürde: „Die Praxis zeigt, dass […] Spracherkennungsprogramme mit vielen Fehlern verbunden sind. Wenn die so entstandenen Texte irgendeine Relevanz haben sollen, erfordert das künftig eine zeit-intensive Nachbearbeitung – also genaue Durchsicht und Korrekturen.“ Das aber sei ein Teil der technischen Herausforderungen. Was, so van Gemmeren, „wenn viele verschiedene Personen – gegebenenfalls in Fremdsprachen unter Mithilfe von Dolmetschern – in wechselnder Reihenfolge das Wort ergreifen?“ Dazu käme das Problem, dass vielleicht Dialekt gesprochen werde. Van Gemmeren: „Es erscheint mir zwingend, all das zunächst in der Praxis zu erproben. Es ist rechtswidrig, wenn Verpflichtungen in ein Gesetz aufgenommen werden, deren Realisierung völlig unklar ist.“
Abseits dessen allerdings liegen nach van Gemmerens Ansicht die eigentlichen Probleme, die alles andere als technischer Natur sind. „Insbesondere, wenn Sexualstraftaten verhandelt werden, bei denen eine Aussage vor Gericht ohnehin schon mit erheblichen Belastungen verbunden ist, werden unbefangene Aussagen (sowohl der Angeklagten als auch der Zeugen) erschwert, wenn klar ist, dass eine Aufzeichnung erfolgt. Für viele Tatopfer wäre es eine unerträgliche Vorstellung, dass sich der Angeklagte später – zusammen mit seinem Verteidiger – die Ton/Videoaufzeichnung ansehen wird.“
Schließlich sieht van Gemmeren einen immensen zusätzlichen Zeitaufwand. „Es wird meiner Meinung nach zu nicht unerheblichen Verfahrensverzögerungen kommen. Künftig werden viele Verteidiger darauf dringen, zunächst noch die Aufzeichnungen gemeinsam mit ihren Mandanten durchzugehen. An unserem Gericht werden viele Hauptverhandlungen an einem Tag abgeschlossen. Das ermöglicht eine Beratung und Entscheidung auf der Grundlage einer Beweisaufnahme, die allen Beteiligten noch lebhaft vor Augen steht.“
Legen Verteidiger und/oder Staatsanwaltschaft Revision ein, wird das Urteil vom Bundesgerichtshof (BGH) einer Prüfung unterzogen, die sich damit auseinandersetzt, ob das Strafverfahren vor der Revision ordnungsgemäß durchgeführt wurde (dabei kann es auch um Dinge gehen wie: wurde der Zeuge/Angeklagte vor Beginn seiner Aussage vom Vorsitzenden ordnungsgemäß belehrt), so wird sich diese Praxis nach Ansicht van Gemmerens ändern, „denn es kann ja in einer Revision die Behauptung aufgestellt werden, dass ein Angeklagter oder Zeuge in der Urteilsbegründung nicht richtig zitiert wurde. Das müsste dann überprüft werden, weil ja sonst eine Entscheidung nicht möglich wäre.“ Das wiederum würde zu einer Überlastung des BGH führen und könne zur Folge haben, dass künftig Revisionen auch an Oberlandesgerichte abgegeben werden müssten. „Derzeit ist es so, dass der BGH für alle in Deutschland gesprochenen erstinstanzlichen Urteile der Land- und Oberlandesgerichte zuständig ist. Die sechs Senate des BGH schaffen im Schnitt die Bearbeitung von 600 Verfahren pro Senat. Das würde sich dann nicht mehr halten lassen.“ Nicht wenige Richter befürchten einen Totalzusammenbruch des Revisionswesens infolge des neuen Gesetzes.

Pro

Viele Anwälte sehen die Sache mit dem DokHVG anders. Einer von ihnen ist der Klever Rechtsanwalt Dr. Karl Scholten: „Ich verstehe die Vehemenz, mit der offensichtlich viele Richter das Gesetz ablehnen, nicht wirklich“, so Scholten in einem Gespräch mit den NN. „Zunächst einmal bin ich sicher, dass durch die Verschriftlichung der Verhandlung ein hohes Maß an Transparenz erreicht wird, die letztlich allen Prozessbeteiligten – also auch der Verteidigung und der Staatsanwaltschaft – zugute kommt.“ Werden Prozesse mit dem neuen Gesetz länger dauern? „Das kann natürlich von Fall zu Fall passieren, aber es geht doch am Ende um die Wahrheitsfindung. Das muss für alle Beteiligten das oberste Gebot sein, oder? Mir als Anwalt wird so die Möglichkeit gegeben, mich mehr auf den Prozess zu konzentrieren, da ich nicht ununterbrochen mitschreiben muss.“ Scholten ist auch der Ansicht, dass sich am Revisionsrecht nichts ändern wird. „Bei der Revision wird es nach wie vor um den formalen Teil eines Urteils gehen und auch da kann die Verschriftlichung nur hilfreich sein.“ Es habe, erklärt Scholten, bereits im Vorfeld des Gesetzes eine Stellungnahme des Deutschen Anwaltvereins gegeben. Im dem Schreiben heißt es unter anderem: „Das vollständige Fehlen einer qualitativ verlässlichen Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung bildet einen zentralen Schwachpunkt in der rechtsstaatlichen, das heißt Kontrolle optimierenden Ausgestaltung des deutschen Strafprozessmodells. […] Die durch das Fehlen einer objektiven und allen Verfahrensbeteiligten zugänglichen Dokumentation bewirkte Intransparenz trägt zu Meinungsverschiedenheiten und Streitigkeiten darüber bei, was tatsächlich Inhalt der Beweisaufnahme war.“ Der jetzige Zustand, so die Stellungnahme des Anwaltvereins, „ist auch im europäischen Vergleich anachronistisch und widerspricht den Möglichkeiten der heutigen Technik. Die stattdessen notwendige Fertigung individueller handschriftlicher Notizen durch Gericht und Verfahrensbeteiligte bleibt fehleranfällig und begünstigt kognitive Verzerrungen“. […] Während mehrere Richter in einer Hauptverhandlung die Mitschrift auf einzelne Richter verteilen könnten, „sieht sich ein Verteidiger permanent der (Über)Forderung ausgesetzt, gleichzeitig den Inhalt der Beweisaufnahme festzuhalten, ihre Ergebnisse zu erfassen, die Verfahrensführung rechtlich zu kontrollieren und bei Bedarf auf das Prozessverhalten des Gerichts und der Staatsanwaltschaft beziehungsweise der Nebenklage zu reagieren.“
Das Transkript der Hauptverhandlung sei am Ende rechtlich gesehen „lediglich ein Hilfsmittel“. Das Hauptverhandlungsprotokoll werde nicht ersetzt und seine formale Beweiskraft bleibe unverändert. Die Anwälte sehen demnach das Revisionsrecht nicht berührt. Dieser Meinung ist auch Scholten. „Wie gesagt: Es kann natürlich sein, dass der eine oder andere Prozess auf diese Weise länger dauert, aber nochmal: Es geht um die Wahrheitsfindung. Die muss am Ende wichtiger sein als die Überlegungen, ob ein Prozess länger dauert.“

Links:

Debatte zum Dok HVG im Bundestag