Schreibkraft
Heiner Frost

Kann, soll, muss … Lembke

Foto: Rüdiger Dehnen

Auf geht’s

Willkommen zur Vorleseung Sozialrecht. Das Publikum: Überwiegend weiblich. Das hier ist nicht die juristische Fakultät – das hier ist die HRW (Hochschule Rhein-Waal) und das Publikum im Hörsaal ist auf dem Weg zu einem Abschluss im Fach Kindheitspädagogik.


Aller Anfang ist Wiederholung. „Ein Mikro gibt es nicht – also versuche ich es mit Lautstärke“. Der Saal ist groß – rund 90 Studenten müssen beschallt werden. Na denn. Heute auf dem Programm: die Paragraphen 16 bis 21 des Sozialgesetzbuches (SGB), achtes Buch. Der Paragraph 21 wird auch schon mal „Schaustellerparagraph“ genannt.
Können Personensorgeberechtigte wegen des mit ihrer beruflichen Tätigkeit verbundenen ständigen Ortswechsels die Erfüllung der Schulpflicht ihres Kindes oder Jugendlichen nicht sicherstellen und ist deshalb eine anderweitige Unterbringung des Kindes oder des Jugendlichen notwendig, so haben sie Anspruch auf Beratung und Unterstützung. In geeigneten Fällen können die Kosten der Unterbringung in einer für das Kind oder den Jugendlichen geeigneten Wohnform einschließlich des notwendigen Unterhalts sowie die Krankenhilfe übernommen werden. Die Leistung kann über das schulpflichtige Alter hinaus gewährt werden, sofern eine begonnene Schulausbildung noch nicht abgeschlossen ist, längstens aber bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres.

Der kleine Unterschied

Wer dem Unterschied zwischen „kann“, „soll“ und „muss“ auf den Grund gehen möchte, kann sich einfach auf das Gefühl verlassen, sollte aber besser einen Juristen fragen: Der muss es wissen. Ob er‘s dann auch erklären kann? Sollte – muss aber nicht.
Alexander Lembke ist Jurist. Er ist Richter am Landgericht Kleve. Pressesprecher ist er auch und – so viel sei gleich gesagt – das ist kein Wunder, denn Lembke ist ein Kommunikator. Als er die Schule hinter sich hatte, kam der Zivildienst. „Ich habe in einer Schule für Kinder mit einer geistigen Behinderung gearbeitet und das hat mir riesigen Spaß gemacht.“
Anschließend: Studium. Zwei Richtungen standen auf dem Wunschzettel: Maschinenbau oder Jura. Es wurde die Juristerei und wer sich mit Lembke unterhält, merkt schnell: Richter sein ist genau Seins. Unbedingt. Lembke ist unmerkbare 36 und gehört wahrscheinlich zu denen, die im Supermarkt nach dem Ausweis gefragt werden, wenn Hochprozentiges im Einkaufswagen liegt. Lembke kommt aus Kaarst, hat in Bonn studiert und ist seit 2009 in Kleve.

Von der WG in den Hörsaal

Die ersten vier Jahre lebte er in einer Berufstätigen-WG. Neben seinem Richteramt hielt Lembke schon damals Vorlesungen in Sachen Jura. „Das war an der Heinrich-Heine Universität in Düsseldorf“, blickt er zurück. In der Klever WG lebte unter anderem eine Professorin der HRW. Als die erfuhr, dass Lembke Vorlesungen hielt, nahm das Schicksal seinen Lauf. „Bei uns an der Hochschule suchen wir auch Juristen“, sagte sie. So kam es, dass Lembke von der Heinrich-Heine-Universität zur HRW wechselte. Seit vier Jahren unterrichtet er Studierende im Fach Kindheitspädagogik in Sachen Jura. Willkommen zur Vorlesung Sozialrecht – RiLAG Alexander Lembke.
Das ist die Stelle, an der die meisten Leute sagen: „Ja,ja – Jura ist doch eine ziemlich trockene Angelegenheit.“ Zurück zum Anfang: Kann – muss aber nicht. Schon gar nicht, wenn Lembke die Vorlesung hält. Er hält nichts von Frontalunterricht – nichts von endlosen Monologen. Seine Vorlesungen beginnen in der Wirklichkeit. Dabei hilft ihm sein Amt als Richter: Fälle gibt es reichlich. Heute ist es Jenny. 15 Jahre alt und schwanger. Die Eltern getrennt lebend. Was ist zu tun? Lembke und die Studenten gehen Lösungsansätze durch.

Zwölf Bücher

„Wenn erst einmal mit einem Fall das Interesse der Studierenden geweckt wird, ist es anschließend viel einfacher, die juristischen Grundlagen aufzuarbeiten.“ Das Sozialgesetzbuch ist umfangreich: Zwölf Bücher gibt es. Aber in Lembkes Vorlesung geht es vor allem um das 8. Buch. Zum Thema Sozialrecht findet sich für die Studierenden Folgendes:
Voraussetzungen: Keine. Mögliche Prüfungsformen: Klausur oder Hausarbeit oder Kombination von beidem. Lernziele: Der Kurs gibt zunächst einen kurzen Überblick über die Geschichte und die rechtssystematische Verankerung des SGB VIII […] und über Grundlagen der Kinder- und Jugendhilfe. […] Die Studierenden sollen […] in die Lage versetzt werden, grundlegende rechtliche Fragestellungen zu erkennen und mögliche Lösungswege aufzuzeigen. Zudem sollen sie die Fähigkeit erwerben, auf diesen Gebieten mit Vertretern der rechtsberatenden Berufe fachlich zu interagieren.

Struktur zählt

Schnell wird klar: Es geht um mehr als ein Plauderstündchen. Klar ist auch: Wer vorne steht, sollte bestens vorbereitet sein. „Wichtig ist, dass die Studierenden schnell die Struktur einer Vorlesung erkennen“, bringt Lembke die Lehrtätigkeit auf den Punkt. Aber zum Vermitteln gehört mehr als das Wissen des Dozenten. Es braucht den Kommunikator – es braucht den, dem der Wunsch zur Vermittlung anzumerken ist.
Dass Lembke einen Draht zu seinen Studierenden findet, wird deutlich, wenn man weiß, dass er 2017 einer der Nominierten für den beliebtesten Professor war. „Nach jedem Semester findet eine Evaluation statt. Die wird durch die Studierenden vorgenommen.“ (Anonym versteht sich.) Über die Ergebnisse werden die Dozenten unterrichtet und für Lembke ist es wichtig, dabei gut abzuschneiden – nicht aus persönlicher Eitelkeit, sondern weil es ihm wichtig ist, ein guter Vermittler zu sein. „Jura“, sagt er, „ist eine Art zu denken – eine Art, die Dinge zu sehen. Dazu musst du nicht Lateiner sein oder dich besonders gut in Geschichte auskennen, aber es ist wichtig, Dinge logisch erfassen zu können.“
Kann, soll, muss? Natürlich gibt es da eine ansteigende Linie. Über „muss“ gibt es nichts zu diskutieren. Aber wo liegt der Unterschied zwischen „kann“ und „soll“. Natürlich kann man jetzt mit Begriffen kommen wie „Ermessen“ (kann) und „intendiertes Ermessen“ (soll). Besser ist es, Beispiele zu finden.

Kann, soll, muss

Eine Mutter muss eine mehrmonatige Haftstrafe antreten. Ihr Mann ist Monteur und nur an den Wochenende zuhause. Was passiert mit den Kindern, wenn die Mutter in Haft kommt? Fest steht: Jemand muss sich kümmern. Am besten sollte die Woche über eine Betreuung zuhause stattfinden. Am besten sollten die Kinder nicht getrennt werden. Am besten sollte die Betreuung nicht in einem Heim stattfinden. Aber was, wenn eine Betreuung zuhause sich nicht organisieren lässt?
Dann wird aus dem „Betreuung sollte zuhause stattfinden“ ein nicht zu realisierender Bestzustand, der sich nicht herstellen lässt. Dann „kann“ eine Heimunterbringung stattfinden.
Schnell werden die Neigungswinkel der Situation deutlich. Klar ist auch, dass Verstehen immer dann einfacher wird, wenn die Beispiele etwas mit dem Leben beziehungsweise dem Beruf der Studierenden zu tun haben – wenn sich also die Wirklichkeit andockt. Natürlich könnte man den Studierenden der Kindheitspädagogik „kann“, „soll“ und „muss“ anhand des Baurechts erklären, aber es geht bei einer guten Vorlesung um den größtmöglichen gemeinsamen Nenner. Lembke ist einer, der sich genau darüber Gedanken macht.

Hobby Hochschule

Was wäre denn eigentlich, wenn die Anfrage einer Hochschule käme, hauptamtlich Vorlesungen zu halten? „Das würde ich nicht machen“, sagt Lembke, „denn dazu macht mir das Richteramt viel zu viel Spaß“. Von einer Hochschule im Ruhrgebiet hat es schon eine Anfrage gegeben, „aber das wäre auch viel zu viel Hin und Her“, sagt Lembke, der längst Kleve als Lebensmittelpunkt für sich und seine Familie sieht. Seine Dozententätigkeit bezeichnet Lembke als „Hobby“.
Was ist denn eigentlich aus der Nominierung geworden? „Darüber habe ich mich natürlich riesig gefreut, aber eine Chance auf den Oscar hatte ich eigentlich nicht. Ich unterrichte ja nur eine Vorlesung in der Woche und auch die nur im Wintersemester.“
Dazu ist „Lembkes Sozialrecht“ eine der an der HRW eher seltenen Vorlesungen, die nur in Deutsch abgehalten werden. „Ich hätte auch noch andere Vorlesungen halten können – dann allerdings in Englisch.“ Dafür sei er, sagt Lembke, nicht gut genug. „Die Studierenden merken sehr schnell, ob du ein „Native-Speaker“, also ein Muttersprachler bist. Es ist eine Sache, die Vorlesung auf Englisch zu halten, aber es ist noch einmal etwas ganz anderes, dann auch flexibel genug zu sein, um auf Fragen einzugehen, ohne dabei unsicher zu sein.“
Wahrscheinlich würde Lembke auch die Sprachhürde meistern, aber noch bleibt er beim Sozialrecht. Ob das auch künftig so bleiben wird? Kann – muss aber nicht. Er sollte mal drüber nachdenken.

Foto: Rüdiger Dehnen