Herr X. kann zufrieden sein. 200 Tagessätze zu je 15 Euro wird er zahlen: in Raten. Er sollte sich beim Richter bedanken. Die Staatsanwältin hätte X. gern neun Monate in Haft gesehen: ohne Bewährung.
Irgendwie gerichtsbekannt
„Na Herr X. – da sind wir wieder“, wird der Angeklagte vom Vorsitzenden begrüßt. X. ist irgendwie gerichtsbekannt. Das bleibt nicht aus bei 32 Vorstrafen. Viel Diebstahl, Drogen und – das wird sich als nützlich erweisen – wenig Einschlägiges. Das Einschlägige steht in diesem Fall sinnigerweise für Körperverletzung. Herr X. ist 39 Jahre alt – fünf Jahre seines Lebens hat er – alles in allem – hinter Gittern verbracht. „Was meinen Sie, wie viel noch dazu kommt?“, fragt der Vorsitzende. „Nix mehr.“
X. ist wegen Körperverletzung (Fall I) und Bedrohung (Fall II) angeklagt. Er ist ohne Anwalt erschienen. Er wird die Sache selber regeln. „Dann hören wir uns mal an, worum es hier und heute geht“, sagt der Vorsitzende und X. nimmt Erzählhaltung ein: „Also es ist so …“ X. sollte es eigentlich besser wissen: Alles beginnt mit dem Verlesen der Anklage.
Das war alles ganz anders
X. soll bei einem Streit einem Wohnungsnachbarn (und Eigentlichfreund) einen Faustschlag ins Gesicht verpasst haben. Im Zweiten Fall soll er einen anderen Nachbarn mit einem Scheckkartenmesser bedroht haben. Was, um Himmels Willen, ist ein Scheckkartenmesser? Das muss man zuhause erst einmal googeln. „Jetzt wissen wir mal, worum es geht“, sagt der Vorsitzende, nachdem die Anklage verlesen ist. „Was sagen Sie dazu?“ „Das war alles ganz anders. Ich habe dem Y. nicht mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Vielleicht habe ich den im Schwitzkasten gehabt. Vielleicht haben wir gerangelt. Der hatte mir zum zweiten Mal eine Tüte mit Pfandflaschen geklaut. Ich war sauer.“ Herr X. ist nicht wortkarg.
Bekifft, bekokst, betrunken
Was die Bedrohung im zweiten Fall angeht, erklärt X.: „Der Typ war doch auf Drogen. Der war auch Alkoholiker. Der hat gekifft, gekokst, gesoffen.“ X. soll den Mann mit einem Scheckkartenmesser bedroht haben. „Ich stech dir die Augen aus“, soll er gesagt haben. Das Opfer von damals ist verstorben. Kaum drei Wochen nach der angeklagten Tat. „Das Opfer war der einzige Zeuge“, sagt der Vorsitzende und man ahnt, dass da nicht viel zu machen sein wird.
Zurück zum ersten Anklagepunkt: Herr Y. – das Opfer also – ist nicht erschienen. „Da scheint kein Interesse an einer Ahndung zu bestehen“, interpretiert der Vorsitzende. Dem Y. tue das mit der Anklage längst leid, sagt X. „Der hat sich bei mir entschuldigt.“ Aha! „Und Sie?“, fragt der Vorsitzende. „Ich habe mich auch entschuldigt.
Wir kamen in Streit
Detail am Rande: X. hat seinerzeit bei der Polizei eine Aussage unterschrieben: „Wir kamen in Streit. Da hab‘ ich ihm eins auf die Nase gehauen.“ X. kann sich nicht erinnern. „Aber Sie haben das doch unterschrieben“, wirft der Vorsitzende ein. „Wenn ich dem auf die Nase gehauen hätte, dass hätte man das sehen können. Dann hätte der geblutet.“
Eine Beamtin, die am Tatort mit dem Opfer gesprochen hat, schreibt über Schürfwunden an den Unterarmen des Opfers. Die Beamtin ist als Zeugin geladen. Sie kann sich nicht wirklich erinnern. Aber wenn sie etwas aufgeschrieben hat, dann war es so. „Und wenn Sie etwas nicht aufgeschrieben haben?“, fragt der Vorsitzende. „Wie?“ „Nun ja, sie haben die Schürfwunden notiert, aber nirgends steht etwas von Verletzungen im Gesicht. Heißt das dann, dass es keine Gesichtsverletzungen gegeben hat?“ „Natürlich. Sonst würde ich es notiert haben.“ Der Vorsitzende bedankt sich und die Zeugin sagt, noch bevor jemand sie fragt, sie habe Auslagen gehabt. (Das ist dann mal etwas anders.)
Der Vorsitzende stellt fest, dass der Auszug aus dem Bundeszentralregister noch vorgelesen werden muss. „Das wird ja länger dauern als die Verhandlung.“
Ach ja – das noch: X. hat mittlerweile einen Job. Er hat eine Freundin. Er hat eine neue Wohnung. „Seit wann wohnen Sie da?“, fragt der Vorsitzende. „Seit dem 24. März.“ „Das ist übermorgen“, bemerkt die Staatsanwältin. „Seit dem 24. Februar“, verbessert X.. Von den Drogen ist X. auch runter. Er nimmt nichts mehr. „Sie haben mehr als 20 Jahre konsumiert und von jetzt auf gleich nichts mehr?“ „Man muss nur wollen.“ Seine Freundin, sagt X. trinke nicht mal Kaffee.
Plädoyer
Die Staatsanwältin sieht einen geständigen Angeklagten. In Sachen Körperverletzung ein Teilgeständnis. Kein Faustschlag. Ansonsten: Vorwürfe bestätigt. Neun Monate Haft. Keine Bewährung. Die Freiheitsstrafe bekommt einen Vornamen: unerlässlich. Alles andere, denkt die Staatsanwältin, würde X. nicht erreichen.
Herr X. hat das letzte Wort. „Was soll ich sagen? Wenn die Staatsanwältin mich in den Knast stecken will, kann ich es nicht ändern. Ich versuche, mein Leben in den Griff zu bekommen. Ich versuche, alles richtig zu machen.“
Das Urteil: 200 Tagessätze zu je 15 Euro. X. muss nicht in Haft. Der Vorsitzende begründet. Man könne von X. keine großartigen Änderungen erwarten, aber man habe kleine Schritte in die richtige Richtung gesehen: neue Wohnung, Job, Freundin. („Das mit den Drogen nehme ich Ihnen allerdings nicht ab.“) Im Fall der Bedrohung sei der einzige Zeuge verstorben. „Da lässt sich nichts nachweisen.“ Freispruch. Im Fall der Körperverletzung: Ein Faustschlag ins Gesicht sei nicht nachzuweisen. Und niemand wisse wirklich, was es in den Kreisen von X. bedeute, wenn einer sagt: „Ich habe dem eins auf die Nase gegeben.“ Vielleicht sei es wirklich nur eine Rangelei gewesen. „Wir haben ansonsten keine objektiven Verletzungen. Fotos vom Opfer sind nicht gemacht worden.“ Dass der Y. nicht mal erschienen sei, müsse als Desinteresse an einer Bestrafung des X. gesehen werden. Das Urteil: eine final gereichte Hand – ein Signal, über dessen Wirksamkeit erst die Zukunft entscheiden wird. X.s Glück: Von 32 Vorstrafen gab es „nur“ zwei Körperverletzungen. Die letzte einschlägige Verurteilung: 2006.
Herr X. hat – so kann man es unjuristisch formulieren – Glück gehabt. Man muss hoffen, dass er etwas gelernt hat. Draußen sieht man ihn aufs Rad steigen. Er fährt davon. Die Sonne strahlt. X. hoffentlich auch.