Schreibkraft
Heiner Frost

Frau B. braucht einen Anwalt

Frau B. wird Post bekommen in den nächsten Tagen. Es wird ein Strafbefehl sein. Wenn Frau B. nicht Rechtsmittel einlegt, ist sie zu neun Monaten Freiheitsstrafe – auszusetzen zur Bewährung – verurteilt. Die Bewährungszeit wird zwei Jahre betragen. Beschlossen und verkündet um 9.17 Uhr.

Die Verhandlung gegen Frau B.: angesetzt für 9 Uhr. Frau B. hat es vorgezogen, nicht zu erscheinen. Angeklagt war sie wegen drei Fällen von Betrug und in zwei weiteren Fällen (hatte man das richtig verstanden?) wegen gewerbsmäßigen Betruges. Der einzige Zeuge des Tages: Frau B.s Ex. Über B.s Taten wird man nichts erfahren: Ohne Angeklagte keine Verhandlung. Ohne Verhandlung keine Verlesung der Anklage. Betrug – mehr erfährt man nicht.
Wo könnte die B. stecken? Weiß vielleicht der Ex, wie und wo die B. zu erreichen wäre? Er weiß es nicht und sein Interesse an der Kenntnis über ihren derzeitigen Aufenthaltsort scheint mehr als begrenzt. Zuletzt, so der Ex, habe man sich beim Jugendamt gesehen. (Die armen Kinder, denkt man.) Richter und Staatsanwältin erörtern die Möglichkeiten. Man könnte gegen Frau B. einen Haftbefehl erlassen: der Spatz – die Kanone. Man könnte einen neuerlichen Verhandlungstermin ansetzen und die B. dann polizeilich vorführen lassen. Eine Vorführung heute? Der Richter hat da so seine Erfahrungen. „Wir rufen bei der Polizei an. Die lassen dann ja auch nicht gleich alles stehen und liegen. Und ob die Angeklagte überhaupt angetroffen wird, ist ja auch nicht sicher. Wir bekommen dann vielleicht in 90 Minuten Bescheid – da sind wir längst im nächsten Termin.“
Am Schluss wird es der Strafbefehl. Frau B. wird einen Rechtsanwalt brauchen, wenn sie Einspruch einlegen möchte.
B.s Ex wird nicht mehr gebraucht … also im juristischen Hierundjetzt. Die Auslagen werden erstattet. „Melden Sie sich in Zimmer soundso. Das ist gleich neben der Schleuse am Eingang.“ Die nächste Verhandlung dann um 10 Uhr. „Da könnte uns dasselbe noch einmal passieren“, sagt der Vorsitzende. Der Angeklagte im nächsten Fall: Irgendwie gerichtsbekannt. 32 Vorstrafen. „Warten wir bis 10“, sagt der Richter. Zeit für einen Kaffee in der Kantine.