Schreibkraft
Heiner Frost

Vorrübergehend sprachlos

Logo: Wolfgang Stenmans

 

Josef ist 23 Jahre alt. Sein Nachname tut erst einmal nichts zur Sache. Josef lebt in einer Pflegefamilie, aber er hat auch ein eigenes Zimmer – woanders. Die Sache ist ein bisschen kompliziert …

Vertrauen

„Wann ich wo bin, hängt von vielen Faktoren ab.“ Josefs Pflegevater heißt Walter. „Du bist doch 80 Prozent der Zeit bei uns“, sagt er. Josef findet, dass es nicht um Prozentzahlen geht. Er ist gern bei Walter und dessen Frau. Er erzählt ihnen Dinge, die man nicht allen erzählt. Das Wort „Vertrauen“ spielt eine Rolle.
Josef macht derzeit eine Lehre: PKA – das steht für Pharmazeutisch -kaufmännischer Angestellter.

Ein Beruf

Beim PKA handelt es sich um einen staatlich anerkannten Ausbildungsberuf, der keiner gesetzlich vorgeschriebene Schulbildung als Zugangsvoraussetzung für die Ausbildung bedarf. Die Inhalte bauen jedoch auf dem Hauptschulabschluss auf. Eine gute Allgemeinbildung sowie gute Kenntnisse in Deutsch, Mathematik und den Naturwissenschaften sind Voraussetzung. PKA sind aufgrund ihrer pharmazeutisch-kaufmännisch geprägten Ausbildung vorrrangig in öffentlichen Apotheken, aber auch in Krankenhausapotheken, in der Industrie, im pharmazeutischen Großhandel, in Drogerien oder Verwaltungen und Behörden tätig.

Ein Leben

Zurück ins Leben. Der Chef hat Josef das Du angeboten. „Manchmal duze ich ihn und manchmal versuche ich, Dinge so zu formulieren, dass ich weder das Du noch ein Sie brauche.“ (Jeder kennt sich aus in dieser Zwickmühle.) „Zuhause haben wir erwachsene Menschen nicht einmal mit ihrem Vornamen angesprochen“, sagt Josef. Das hat etwas mit Respekt zu tun.

Ein Unfall

Apropos Respekt: Josef musste sich nach einem schweren Unfall zurück ins Leben kämpfen. Er musste neu sprechen, lesen und schreiben lernen. Die Menschen um ihn herum: Irgendwie fremd. Josef – einer, der denken konnte, ohne sich mitteilen zu können.
Vielleicht ist es an der Zeit, Josefs Nachnamen einzuführen: Kiniher. Und wo wir schon mal beim Nachnamen sind, gibt es auch beim ersten Namensteil eine Richtigstellung: Josef heißt nicht Josef. Er heißt Ahmad. Ahmad Kiniher. Ändert das etwas? Ja und nein: Es ändert vielleicht das Bild im Kopf. Ahmad ist aus Syrien. Dort lebt seine Familie: Vater, Mutter, fünf Schwestern, ein Bruder. Ahmad – der Älteste. Sein „Unfall“: die Flucht. Irgendwann entschloss er sich, seine Heimat zu verlassen. Er kam – sprachlos irgendwie – nach Deutschland. Frankfurt, Dortmund, Dormagen, Kevelaer, Bedburg-Hau. Vom Großen ins Kleinere. Ahmad kannte kein deutsches Wort. Heute, drei Jahre später, spricht der junge Mann, der in Syrien Abitur gemacht hat, ein lupenreines Deutsch. [„Suchen Sie sich einen deutschen Vornamen aus“, habe ich ihn gebeten und er hat „Josef“ gewählt. „Das ist ein Name, der unsere Kulturen verbindet“, sagt er. Yusuf dort – Josef hier.]

Ein Traum

Ahmads Eltern sind 42 (die Mutter) und 49 Jahre alt (der Vater). „Walter und seine Frau könnten meine Großeltern sein“, sagt Ahmad. Sein Traum: Apotheker sein. So war es anfangs. Und jetzt: „Ich möchte erst mal diese Ausbildung zu Ende machen“, sagt er. Die Zukunft ist ein Schmerzgürtel. Zurück nach Syrien? „Das geht momentan überhaupt nicht“, sagt Ahmad und niemand weiß, wann und ob es gehen wird.

Eine Gegenwart

Die Gegenwart: Deutschland – leben in Qualburg und Hasselt, Arbeit in Kleve, Schule in Duisburg und alle zwei Wochen ein Telefonat mit der Familie. Was Ahmad hier macht ist kein Ausbildungsjahr. Er ist nicht als Au-Pair im Einsatz – es gibt kein Rückkehrdatum. Seine Situation nachzuempfinden verursacht Klaustrophobie: Es wird eng in der Seele. Josef – das wäre eine Vorstellung, in die man hätte folgen können.
Ahmad: Das ist irgendwie ein anderer Planet. „Du hast eine Heimat hier und eine andere woanders.“ Die deutsche Sprache sieht keine Mehrzahl vor für Wörter wie Mut oder Heimat. Beide Wörter sind Schlüsselbegriffe, wenn man über Josef/Ahmad nachdenkt. Es braucht Mut, eine andere Heimat aufzubauen, wenn die eigene zu einem Ziel wird, in das man nicht reisen kann – im Kopf vielleicht, aber nicht im Alltag. Da sind die Eltern und Geschwister – tausende Kilometer weit weg – und da sind Walter und Marlies, die neuen Freunde, die Kollegen, die alle eine andere Sprache sprechen. Sprache ist ein Stück Heimat.

Ein Hut

Ahmads Leben, denkt man, ist dieser tägliche Konflikt aus dem was war und dem was ist. Flüchtling: Ein Stempel. Eine graue Schublade. Vielleicht ist da der Wunsch, frei zu sein. Aber was bedeutet Freiheit? Die Menschen sind nett. Sie helfen. Aber was erwarten sie? Wenn man Ahmad als Josef denkt, ist er ein „ganz normaler junger Mann“ und vor einem Bernd, der es nach drei Jahren in Finnland zum PKA gebracht hat, würde man jederzeit den Hut ziehen. „Was der geleistet hat …“

Foto: Rüdiger Dehnen
(M): HF

Teil 2

Andreas Strähnz ist Apotheker mit alles in allem 34 Angestellten. Zwei aus der Mannschaft sind Auszubildende.
Strähnz: „Als Apotheker hat man natürlich Pharmazie studiert, aber es gibt auch den Beruf des Pharmazeutisch-kaufmännischen Angestellten [PKA]. Das ist ein Lehrberuf.“ Die Eingangsvoraussetzung: Hauptschulabschluss. Zweimal pro Woche müssen die Auszubildenden zur Berufschule nach Krefeld. Die Ausbildung dauert drei Jahre. Offiziell klingt es so;
Beim PKA handelt es sich um einen staatlich anerkannten Ausbildungsberuf, der keiner gesetzlich vorgeschriebenen Schulbildung als Zugangsvoraussetzung für die Ausbildung bedarf. Die Inhalte bauen jedoch auf dem Hauptschulabschluss auf. Eine gute Allgemeinbildung sowie gute Kenntnisse in Deutsch, Mathematik und den Naturwissenschaften sind Voraussetzung. Die Ausbildungsdauer beträgt drei Jahre. Es werden Kenntnisse zur Warenwirtschaft, Bevorratung und Preisbildung, Lagerhaltung sowie zur Bearbeitung von Rechnungen und Umgang mit der EDV vermittelt. Darüber hinaus werden die Auszubildenden mit Zuarbeiten zur Herstellung, Prüfung und Abgabe von Arzneimitteln vertraut gemacht. Auch die Beratung zu apothekenüblichen Waren, wie Kosmetika und Verbandmittel, gehört zu den Aufgaben der PKA. Die Beratung zu Arzneimitteln und deren Abgabe ist hingegen Apothekern und pharmazeutisch-technischen Assistenten (PTA) vorbehalten.
Zu Beginn des 2. Ausbildungsjahres wird in einer schriftlichen Zwischenprüfung der Ausbildungsstand der PKA-Schüler ermittelt. Vor der jeweiligen Landesapothekerkammer wird am Ende der Ausbildungszeit eine Abschlussprüfung abgelegt.
PKA sind aufgrund ihrer pharmazeutisch-kaufmännisch geprägten Ausbildung vorrangig in öffentlichen Apotheken, aber auch in Krankenhausapotheken, in der Industrie, im pharmazeutischen Großhandel, in Drogerien oder Verwaltungen und Behörden tätig.

Einer von Strähnz‘ Auszubildenden ist Ahmad Kiniher. Kiniher ist Syrer. Strähnz: „Ich bekam 2016 von einem Bekannten die Anfrage, ob ich mir vorstellen kann, Ahmad als Auszubildenden einzustellen.“ Strähnz konnte. „Der Ahmad hat zuerst einmal ein Praktikum bei uns gemacht. Das hat hervorragend geklappt.“ Ahmads Fernziel: Apotheker. „Wir haben uns natürlich oft und intensiv über dieses Ziel unterhalten. Ich habe Ahmad geraten, zunächst die Ausbildung zum PKA zu machen. So habe ich auch angefangen.“
Die Chancen, nach einer erfolgreichen Ausbildung einen Job zu bekommen, schätzt Strähnz als sehr gut ein. „Leider gibt es nicht viele Kollegen, die ausbilden. In Kleve dürfte das bei weit unter 50 Prozent liegen. Das ist natürlich schade, denn dieser Beruf wird gebraucht.“
Zwölf PKA arbeiten allein in Strähnz‘ Apotheke. Es geht um das Verwalten der Bestände, um Neubestellungen – die gesamte Lagerhaltung. „Wenn Sie sich vorstellen, dass wir den Bestand unseres Warenlagers monatlich mehr als zwei Mal verkaufen, bekommen Sie eine Idee davon, dass die PKA eine zentrale Schaltstelle im ‚System Apotheke‘ darstellen.“
Ahmads Ausbildung hat im letzten August begonnen. In zwei Jahren wird er abschließen. Dann bleibt das Fernziel: Pharmazie studieren. „Dazu müssen wir es hinbekommen, dass Ahmads syrisches Abitur anerkannt wird, denn für ein Studium ist das natürlich eine Grundvoraussetzung.“ An Ahmads Sprachkenntnissen wird es in jedem Fall nicht scheitern. Strähnz beschäftigt in seinem Geschäft übrigens auch eine syrische Apothekerin. „Als die als Flüchtling nach Deutschland kam, hat es bei den Behörden sehr geholfen, dass ich mit ihr einen Vorvertrag gemacht habe, in dem stand, dass ich sie, sobald ihr Studium und ihr Abschluss hier anerkannt sind, sofort einstellen werde.“
Natürlich hat Ahmad einen Migrationshintergrund, aber für Strähnz zählt, dass Menschen, die bei ihm arbeiten, egal, woher sie auch kommen mögen, einen guten Job machen. „Genau das ist bei Ahmad der Fall.“