Schreibkraft
Heiner Frost

Von Sinn und Sinnlichkeiten

Ausschnitt aus dem Halern-Pop-Plakat

Vielleicht den Literaturnobelpreisträger zuhilfe holen. Nein – Hilfe ist nicht nötig. Unterstützung vielleicht. „The times they are a-changing“ …
Vielleicht, denkt man, muss die Zukunft klein sein.

Gläserne Decke

Haldern Pop feiert Geburtstag … and the times they are a-changing. Sie wollten nie wachsen. Die gläserne Decke: 7.000 Besucher. Es gab Zeiten, da war Haldern Pop am ersten Vorverkaufstag ausverkauft … and the times … Derzeit ist es nicht so und das Ungesundeste wäre jetzt, diesen Zustand als Krise zu interpretieren. Das Festival findet statt – seit 40 Jahren. Es ist gewachsen – hat sich verändert. Irgendwie ist Haldern etwas für Insider: Für Leute vielleicht, die ihre Hausaufgaben machen; die das Line-Up studieren – durchhören; sich vertraut machen, denn: Man ist nicht immer vertraut mit den Künstlern, die in Haldern spielen. Sie spielen auf der Hauptbühne, im Spiegelzelt, im Tonstudio, in der Pop Bar – in der Kirche. Sie spielen (leider) in diesem Jahr nicht auf dem Marktplatz. Oder vielleicht doch? Nicht so jedenfalls, dass man Zäune errichten müsste. Der Marktplatz soll Marktplatz sein. Und bleiben. Eine Art Speakers‘ Corner – Singers‘ Corner – Lifes‘ Corner.

Haltung

Haldern Pop hat – wie soll man es denn formulieren – eine Haltung. Vielleicht ist Haltung ein Auslaufmodell. Wer will das sagen?
Fest steht: Die 2023-er Ausgabe steht. Fest. Das Datum: Donnerstag, 3. August, bis Samstag 5. August. Die Festivalkarte kostet 162 Euro und Gequetschtes. Muss man diskutieren? Eigentlich nicht. Uneigentlich auch nicht. Die Festivalkarte in der Version für Schüler, Studenten und Auszubildende: 132 Euro und Gequetschtes. Und dann gäbe es da noch das „Sozialticket“ für 196 Euro und Gequetschtes. Was daran sozial ist? Ganz einfach: Manche Menschen zahlen mehr, damit andere weniger zahlen müssen. Dazu: Tagestickets: 79 Euro plus Gebühr. Tagestickets?

Ohne Unruhe

War da nicht mal was? Stefan Reichmann, Kurator des Haldern Pop: „Das ist richtig. Ich habe lange Zeit gegen Tagestickets argumentiert. Die Idee dahinter: In den Tagen des Festival sollte etwas wachsen. Ungestört. Ohne Unruhe. In letzter Zeit habe ich mit vielen Leuten gesprochen – habe andere Meinungen gehört und meine Meinung geändert. Die Tagestickets bieten ja auch die Möglichkeit, vom Festival zu naschen. Und Menschen, die nicht das ganze Festival erleben möchten, haben somit eine Möglichkeit, Fans zu werden.“ Insgesamt 7.000 Tickets können ausgegeben werden. Pro Tag können 500 Tagestickets ausgegeben werden. Reichmann: „Wir haben am vergangenen Sonntag mit dem Vorverkauf für die Tagestickets angefangen und es läuft gut. Was die Werbung angeht, müssen wir uns trotzdem reinhängen.“ Automatik war gestern. Haldern Pop ist noch immer ein Ort für freie Geister, aber die Zeit lehrt: Auch Freiheit hat ihren Preis. Nein – nicht auch: gerade.

Flamme auf der Festival-Torte

Natürlich: Es gibt die Mega-Events: Riesenfestivals. Haldern ist anders. Das Haldern Pop ist eine Flamme, die auf der Festival-Torte erhalten bleiben sollte. Wer einmal dort war, spürt in der Regel schnell das Besondere. Da ist am Donnerstag und Freitag die Kirche ein zentraler Spielort – einer, der nicht selten bis auf den letzten Platz gefüllt ist. Haldern lässt die Kirche im Dorf – drumherum ein Festival – eines, das auch Diskussionsforen anbietet. Ein Thema in der Geburtstagsausgabe: „Da Sein.“ Der Kurator zitiert Horkheimer: „Was wir ‚Sinn‘ nennen, wird verschwinden.“ Ein Satz: ungefähr so alt wie das Festival. Kann das sein?, fragt man sich: Kann der Sinn verschwinden? Vielleicht ist es wie mit diesem Spruch übers Geld: Dein Geld ist nicht weg – es ist nur woanders. Der Sinn geht nicht verloren – er wird heute gern übersehen. Haldern Pop tritt an, quasi als musikalischen Beifang den Sinn anzuliefern – oder die Frage danach. Und noch etwas: Hadern ist auch ein Ort für Sinn und Sinnlichkeiten.

Wer will das wissen?

Nein, niemand muss Angst haben oder verunsichert sein: Man kann einfach zum Festival gehen, Musik hören, Leute treffen und eine schöne Zeit haben. Man kann, wenn man es sich leisten möchte, mehr zahlen, damit andere weniger zahlen. Man kann auch einfach mal nach Haldern fahren und Festivalluft einatmen: am Drumherum schnuppern. Alles kann. Nichts muss. Man sollte das Line-Up durcharbeiten und dann entscheiden. Es steckt Geschichte hinter dem Festival und irgendwie, denkt man, taucht sie in den Tönen auf.
Auf dem Plakat: Skulpturen des Bildhauers Thomas Kühnapfel. Wie Ufos stehen sie in der Landschaft, halten glänzend Wache und erzeugen eine Idee davon, was ein Festival sein kann. Unterhalb: Knappe 70 Namen – es sind die Namen derer, die drei Tage lang Klanglandschaften errichten werden: in der Kirche, auf der Hauptbühne, im Spiegelzelt, im Tonstudio … 40 Jahre sind vergangen, aber bei allem, was sich im Rückspiegel drängelt, gibt es eine Zukunft. „Wir freuen uns drauf“, sagt Stefan Reichmann. Er meint das Festival. Und er meint die Zukunft. Vielleicht ist sie klein. Wer will das wissen?

Ausschnitt aus dem Haldern-Pop-Plakat. Ein bisschen erinnert die Szene mit Thomas Kühnapfels Skulpturen aus wie ein Still für einen Denis Villeneuve-Film.