Schreibkraft
Heiner Frost

Vom Ende der Freiheit

Herr Y. hat die Flucht nicht überlebt. In Aachen wurde er von einer Polizeikugel getroffen und verstarb. Das Ende der Freiheit. Vorher hatte er eine Geisel genommen. Herr Z. ist zusammen mit Herrn Y. geflohen. Er lebt und muss sich vor Gericht verantworten …

Die Tat

„Strafverhandlung gegen einen 44-Jährigen wegen Geiselnahme in Tateinheit mit besonders schwerem Raub und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte in zwei Fällen. Laut Staatsanwaltschaft soll der Angeklagte zusammen mit einem weiteren damaligen Mitpatienten – beide waren nach § 64 StGB geschlossen in der Forensik der LVR-Klinik Bedburg-Hau untergebracht – am Abend des 25. Mai 2020 gegen 22.20 Uhr unter Einsatz eines Messers und einer Rasierklinge einen Pfleger als Geisel genommen, dessen dienstliche und private Schlüssel mitsamt Autoschlüssel geraubt und unter dessen Bedrohung das Verlassen des gesicherten Bereiches („Wenn sich die Schleuse nicht öffnet, überlebst du das nicht!“) herbeigeführt haben. Anschließend sollen die beiden Männer, unter Zurücklassung des Pflegers, mit dessen Auto geflüchtet sein. Als sie am 26. Mai von Polizeibeamten in Aachen entdeckt und angesprochen wurden, sollen sich beide Männer mit gezogenen Messern zunächst zu den Beamten umgedreht und ihnen zugerufen haben: „Ja, kommt doch“, anschließend aber in die entgegengesetzte Richtung weggelaufen sein. Auf der weiteren Flucht konnte der Angeklagte, der zunächst noch zwei Messer gegen die Beamten gerichtet, sich „kampfeslustig“ auf die Brust geschlagen und das Abstechen des Diensthundes angedroht haben soll, durch die Beamten festgenommen werden. Im Rahmen dessen soll der Angeklagte von dem Diensthund in den Bereich des Gesäßes gebissen worden sein. Der weitere Tatbeteiligte soll unterdessen auf einem Spielplatz eine Frau als Geisel genommen haben, indem er sie mit einem Arm von hinten umklammert und ihr ein Messer eng an den Hals gehalten haben soll. Nach mehrmaliger Warnung und Aufforderung, das Messer fallen zu lassen, wurde er von der Polizei erschossen.“

Großer Bahnhof

Der erste Verhandlungstag: Wann hat es zuletzt einen solchen Bahnhof gegeben, wenn ein Angeklagter den Verhandlungssaal betritt? Es ist das ganz große Aufgebot. Der Angeklagte tritt den Kameras offen entgegen. Kein Aktendeckel schützend vor dem Gesicht. Stattdessen: Weißes Hemd. Tut das etwas zur Sache? Natürlich nicht. Man ist ja nicht im amerikanischen Western, wo Weiß gut ist und Schwarz schlecht.

Angespannt

Z.s Verteidigerin gibt bekannt, dass sich ihr Mandant sowohl zur Person als auch zur Tat einlassen wird. „Da Herr Z. sehr nervös und angespannt ist, werde ich zunächst Angaben machen. Anschließend wird Herr Z. Ihre Fragen beantworten“, erklärt sie dem Gericht. Sie erklärt auch, dass Z. zutiefst bereut, was geschehen ist – dass er sich bei allen Opfern entschuldigen wird. Später wird Z. sagen, dass er gern alles rückgängig machen würde: „Aber ich weiß, das geht nicht.“
Der erste Verhandlungstag ist also einzig auf Herrn Z. abgestellt. Keine Zeugen – nur der Mann, der sich als beredt darstellt und dem man anmerkt, dass er im Vokabular der Therapie zuhause ist. Er kennt sich aus.

Adoptiert

Herr Z. hat die Mittlere Reife, wurde im Alter von einem Jahr zur Adoption freigegeben und kam zu einem Lehrerehepaar. Zu seiner Adoptivmutter hat Z. noch heute ein gutes Verhältnis, der Adoptivvater – er neigte, erfährt man, zum Jähzorn – ist bereits verstorben. Herr Z. war zwei Mal verheiratet und wurde zwei Mal geschieden. Herr Z. ist 44 und ganz nebenbei bemerkt der Vorsitzende: „Ich sehe, Sie haben heute Geburtstag.“ Niemand gratuliert.
Dann die „Fragen zur Sache“. Der Weg durch Flucht und Festnahme dauert lange: drei Stunden stellt der Vorsitzende Fragen, verliest den Auszug aus dem Bundeszentralregister: 17 Vorstrafen stehen zu Buche. Es beginnt bei Diebstählen (Beschaffungskriminalität eines Süchtigen) und reicht bis zu schweren Körperverletzungen.

Raus hier – egal, was passiert

Die Flucht – so stellt Z. es dar: eine eher spontane Sache zwischen Y. und ihm. „Wenn du jetzt gehst, geh‘ ich mit.“ Das Motto: Raus hier – egal was passiert.
Mit zwei Messern – eines davon aus einem Nassrasierer gebaut – nehmen Y. und Z. einen Pfleger als Geisel und bedrohen ihn: Klingen am Hals. Vorsitzender: „Ein Messer am Hals ist eine klare Botschaft.“

Aufgesetzter

Z. hatte – erfährt man – Alkohol getrunken. Da war dieser Mayonnaise-Eimer, in dem ein Mitgefangener „Aufgesetzten“ angesetzt hatte: Früchte oder Limonade, Weißbrot, Zucker – zehn Tage warten: fertig. Und dann noch das Desinfektionsmittel aus einem Spender im Bereich der Kunsttherapie. Man zapft das Zeug ab – es handelt sich, sagt Z., um hochprozentigen Alkohol –, füllt es in eine Flasche und gibt Sirup dazu. „Für den Geschmack.“ So jedenfalls stellt es der Angeklagte dar. Den Spender füllt man anschließend mit Wasser nach, damit es nicht auffällt. Vorsitzender: „Und das kann man trinken?“ Z.: „Leider ja. Ein Genuss ist das nicht.“ [Auf der Internetseite des Herstellers heißt es: „Aseptoman Med ist durch seinen niedrigen Alkoholgehalt besonders hautverträglich. … 100 Gramm Lösung enthalten 65 Gramm Ethanol.“ Anm. d. Redaktion.]

Entzug

All das geschieht – man reibt sich die Augen – in einer Entziehungsanstalt“.
Paragraph 64, Strafgesetzbuch: „Hat eine Person den Hang, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, und wird sie wegen einer rechtswidrigen Tat, die sie im Rausch begangen hat oder die auf ihren Hang zurückgeht, verurteilt oder nur deshalb nicht verurteilt, weil ihre Schuldunfähigkeit erwiesen oder nicht auszuschließen ist, so soll das Gericht die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt anordnen, wenn die Gefahr besteht, dass sie infolge ihres Hanges erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird.“

Das glauben Sie nicht?

Natürlich: Auf der Station werden regelmäßig Drogenscreenings durchgeführt, aber nicht jeder Patient wird täglich getestet. Oft genug hat man schon gehört, dass auch in Justizvollzugsanstalten alles zu haben ist, was zur „Betäubung“ tauglich ist. Warum also sollte es in einer Entziehungsanstalt anders zugehen? Vorsitzender: „Da sind dann alle besoffen?“ Z.: „Das glauben Sie nicht?“ (Natürlich meint der Vorsitzende nicht ‚alle‘.)

„Wir hatten einen guten Draht zueinander“

Immer wieder fragt er auch nach dem Wann und Was, dem Wie und dem Warum. Wie lief die Flucht ab? Was hat Z. gedacht, gefühlt, geplant? War das Geschehene wirklich eine spontane Tat oder eben von mindestens „mittellanger Hand“ geplant? Über Y. sagt Z.: „Wir hatten einen guten Draht zueinander.“ Den Vorsitzenden interessiert natürlich auch, was zwischen der Flucht aus der Anstalt und den Ereignissen in Aachen passiert ist. Wurden Drogen beschafft und wenn ja: Wie wurden sie bezahlt? „Sie hatten doch kein Geld.“ Z.: „Wenn Sie in einer solchen Situation sind, spendet auch schon mal jemand was.“ (Verhaltenes Lachen im Saal. Die Berichterstatter nicken sich zu. Publikum ist nicht anwesend.) Z.s Verteidigerin greift ein: Es soll nichts erörtert werden, was nicht Teil der Anklageschrift ist. Wann sich Y. und Z. wo aufgehalten, wen sie besucht haben, wird ihr Mandant nicht erörtern.

Unterbrechung

Als Z.s Aussage auf das Finale zusteuert – die Festnahme in Aachen und den Tod des Y. –, unterbricht der Vorsitzende die Sitzung. „Ich habe den Eindruck, die Antworten sind gerade etwas fahrig und bestimmt greift Sie das auch an.“
Nach der Pause gibt der Vorsitzende bekannt, dass für die kommenden Verhandlungstage eine Testpflicht für alle Prozessbeteiligten angeordnet wird. Dann erzählt Z. von der Festnahme. Man habe durchaus damit gerechnet, die Sache nicht zu überleben. „Als die ‚Halt, Polizei!‘ riefen, haben wir uns offensiv verhalten. Wir haben die Messer gezückt. Die hatten schon die Waffen in der Hand und uns war klar: Das geht hier nicht gut aus. Die schießen und du bist tot. Wir haben es drauf angelegt.“

„Ich mag Hunde“

Nach dem Tod des Y. allerdings lenkt Z. irgendwann ein. Ein Gedanke: „Wenn die dir jetzt in die Beine schießen oder anderswohin und du sitzt danach im Rollstuhl …“ Ja – er hat gedroht, dem Polizeihund die Kehle aufzuschlitzen. „Aber ich habe gleich anschließend gesagt: „Ich mag Hunde.“ Vom Pfefferspray, das die Beamten gegen ihn einsetzen, merkt Z. nichts. „Ich stand doch total unter Stress.“ Z. wird – so steht es in der Anklage – vom Polizeihund ins Gesäß gebissen. „Der hat auch in meinen Oberschenkel gebissen“, sagt Z. „Der hatte sich richtig festgebissen. Die mussten den von mir lösen.“ Z. erzählt auch, dass man die Wunde nicht versorgt habe. Eine Tetanusspritze habe er bekommen. „Wir werden all das ja dann auch von den Zeugen hören“, sagt der Vorsitzende am Ende des ersten Verhandlungstages.

II Das Messer am Hals

Es ist still im Saal A 105 des Klever Landgerichts, während zwei Pfleger über ihr Leben sprechen. Es ist ein irgendwie schwer beschädigtes Leben – eines, in dem nichts ist wie es einmal war. Im vergangenen Jahr kam es in der Forensik der LVR-Klinik zu einer Geiselnahme und einer anschließenden Flucht, die für einen der beiden Ausbrecher in Aachen mit dem Tod endete. Drei Stunden dauern die Aussagen der beiden Pfleger. Drei Stunden beschreiben sie wie es ist, wenn man ein Messer am eigenen Hals spürt, wenn man Angst hat um das eigene (Über)Leben und das des Kollegen.

Alles irgendwie normal

Die Nachtschicht am 25. Mai des vergangenen Jahres begann ohne Zwischenfälle. Alles irgendwie ganz normal. Der Schrecken, denkt man, zeichnet sich auch dadurch aus, dass nichts auf ihn hindeutet. Beide Männer sind seit diesem Tag nicht zu arbeiten in der Lage – beide haben sich in therapeutische Behandlung begeben. „Wie geht es Ihnen heute?“, fragt der Vorsitzende und der erste der beiden sagt: „Nicht so gut.“ Es ist mit Händen zu greifen, wie dieses „nicht so gut“ zu werten ist. Es beschreibt ein sich nur langsam regenerierendes seelisches Trümmerfeld. Es beschreibt ein Dickicht, aus dem jederzeit die Dämonen dieses eines Tages hervorbrechen und den Opfern ihre Ohnmacht vor Augen führen können. Die Vergangenheit schleicht sich in den Saal. Sie klopft nicht an. Sie steht stumm da und droht. Sie ist ein Film, der immer wieder abläuft.

Kein Zurück

Irgendwie steht für beide fest, dass sie nicht dahin werden zurückkehren können, wo sie zuletzt arbeiteten. „Ich war vorher Krankenpfleger“, erzählt der Erste der beiden. „Ich konnte diesen Beruf irgendwann nicht mehr machen. Es war unerträglich, die Menschen mit denen ich zu tun hatte, am Ende immer nur in den Tod zu entlassen.“ Dann der Wechsel – verbunden mit dem Wunsch, jetzt mehr helfen zu können. Die Tage, an denen sein Beruf ihm keine Freude bereitet habe – abzuzählen an den Fingern einer Hand. Alles zersägt an diesem einen Tag. Seitdem der Versuch, das Leben wieder in Ordnung zu bringen. „Zuhause habe ich alles umgebaut, was man umbauen kann.“ „Heute hier zu sein, ist bestimmt nicht einfach für Sie“, stellt der Vorsitzende fest und der Zeuge antwortet: „Ich habe letzte Nacht nicht gut geschlafen.“ Was so ruhig und überlegt scheint, kommt – es kann nicht anders sein – aus einer Seele, die nichts mehr hat außer dem Wunsch, „mit dieser Sache abzuschließen“. Man ist erschüttert und gleichzeitig voll Achtung für diese beiden Pfleger. „Ich kann nicht dahin zurück. Man kann nur einmal im Leben so viel Glück haben.“ Ein Satz, der sich eingräbt.

Man kann das nicht entschuldigen

Als die Verteidigerin den Ersten fragt, ob er sich eine Entschuldigung ihres Mandanten anhören möchte, ist die Botschaft deutlich: „Was er getan hat, kann nicht entschuldigt werden.“ Er hoffe, dass der Angeklagte seine Schuld annehme, sagt der Pfleger, bevor er den Saal verlässt.
Dann: sein Kollege, K.. Es geht ihm ähnlich. Immer wieder läuft dieser Film ab. Die „Vorführtermine“: nicht kalkulierbar. Mit ihm sind die Täter durch die Schleuse nach draußen. Immer habe er an den Kollegen gedacht, der oben eingesperrt war. Dem Pförtner habe er gesagt, er bringe mit zwei Patienten den Müll raus. Er habe dem Pförtner nicht die Wahrheit sagen können. Einen Pakt mit dem Teufel habe er geschlossen. Einer der beiden Täter – es ist der, den man später erschießen wird – habe mehrmals gesagt: „Ich gehe nicht zurück. Eher lasse ich mich erschießen.“ K. wertet es so: „Das hatte etwas Abschließendes.

Das letzte Blinken

Als er mit den beiden Ausbrechern vor der letzten Schleuse auf das Öffnen wartet und das Blinklicht der Klingelanlage sieht, „da habe ich gedacht, dass dieses Blinklicht vielleicht das Letzte ist, was ich sehe.“ K. geht mit den beiden Tätern zur Mülltonne. Dann biegen die beiden ab, K. geht zurück zur Schleuse. All das ist von Kameras festgehalten worden, aber die Bilder können nichts erzählen von dem Schrecken, den K. durchlebt haben muss. All das dauerte 15 Minuten – 20 vielleicht. All das wurde zur Ewigkeit der Ohnmacht.

Rangieren

Die Täter flüchteten mit dem Auto von K.s Kollegen L.. Das Ausparken – einer der Filme zeigt es – beginnt mit einem irrtümlichen Vorwärtsfahren. Dann legt der fahrende Täter den Rückwärtsgang ein, fährt den Wagen aus der Parklücke … der PKW verschwindet irgendwann in der Dunkelheit.
L. bekommt das Fahrzeug erst Wochen später zurück. In einer Seitenablage der Beifahrertür findet er das selbst gebastelte Messer, das die Täter an K.s Hals gehalten haben. Die Tat kehrt zurück und mit dem Fund drängen sich Fragen auf: „Macht die Polizei so ihre Spurensicherung?“ K.s Kollege L. muss sich auch mit der Bürokratie auseinandersetzen: Die Täter sind auf ihrer Flucht durch die Niederlande mehrfach „geblitzt“ worden. L. bekommt die Knöllchen. „Ich war lange sehr dünnhäutig“, sagt L. und sein Kollege K. kann noch immer nicht verstehen, dass jemand sich das Recht nimmt, andere mit dem Tod zu bedrohen.

Verantwortung

„Ich habe kein Feindbild“, sagt er, „Ich hoffe, dass der Angeklagte die Verantwortung für das übernimmt, was er getan hat. Ich hoffe, dass er nie wieder zur Gefahr für andere wird.“ Was K. sagt – wie er es sagt: all das ist keine Racheansprache. War es auch bei L. nicht. Auch K. möchte keine Entschuldigung vom Angeklagten. Man könne, sagt K., nicht ungeschehen machen, was da passiert ist. Man möchte sich verneigen vor den beiden. Man wünscht ihnen, dass ihr Leben wieder normal werden kann. Aber gibt es eine Normalität?

Andere Fragen

Der Tag ist aber auch anderen Fragen auf der Spur: War der Angeklagte – so hat er es am ersten Verhandlungstag dargestellt – betrunken? Er will Alkohol getrunken haben – aufgesetzt von einem Mitpatienten. Den beiden Pflegern ist nichts aufgefallen. Während sie das sagen, ringt sich der Angeklagte beide Mal ein irgendwie spöttisch aussehendes Lächeln ab.

Ein Trinkgelage?

Ein weiterer Zeuge wird vernommen. Aus der Justizvollzugsanstalt Hagen hat man ihn gebracht. Er entwirft das Gemälde von einem mehr oder weniger wüsten Trinkgelage. Man habe, sagt er, schon beim Ausparken des Wagen gesehen, „dass die beide ziemlich betrunken gewesen sind. Der Wagen wurde drei oder vier Mal rangiert: vor, zurück – vor, zurück. Das haben alle gesehen. Ist doch klar, dass die beiden betrunken waren.“ Der Vorsitzende führt nochmals eine der Videoaufnahmen der Flucht vor. „Man hat nicht oft Gelegenheit, einen Zeugen live der Lüge zu überführen.“ Wieder das Auto: Einmal setzt der Fahrer vor. Dann in einem Zug zurück – hinaus aus der Parklücke und auf und davon. „Ich habe Sie mehrmals gefragt, ob es so war, wie Sie das beschrieben haben“, sagt der Vorsitzende. Man spürt, dass er ungehalten ist – dass er, was ihm da erzählt wird, für eine Art Gefälligkeitsaussage hält, die einzig dazu dienen soll, dem Angeklagten quasi auf Augenzeugenbasis die Verminderung der Steuerungsfähigkeit zu attestieren. Es ist nicht die einzige Asynchronität in der Aussage des Zeugen, der sich zunehmend in Widersprüchen verheddert und schließlich den Zeugenstand verlassen darf. Seine Aussage: ein Bärendienst. Im Kopf hat man noch immer die Geschichte der beiden Pfleger in ihrem beschädigten Leben.

III Ende offen

Herr X. wird lange sitzen müssen. Wegen Geiselnahme in Tateinheit mit besonders schwerem Raub und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte in zwei Fällen wurde X. zu neun Jahren Haft und anschließender Sicherungsverwahrung* verurteilt: Ende offen.

Die Tat

X. war im Mai vergangenen Jahres zusammen mit einem weiteren Mann aus der LVR-Klinik in Bedburg-Hau geflohen, wo beide Männer geschlossen in der Forensik der LVR-Klinik Bedburg-Hau untergebracht waren. Laut Staatsanwaltschaft soll der Angeklagte zusammen mit einem weiteren damaligen Mitpatienten – beide waren geschlossen in der Forensik der LVR-Klinik Bedburg-Hau untergebracht – am Abend des 25. Mai gegen 22.20 Uhr unter Einsatz eines Messers und einer Rasierklinge einen Pfleger als Geisel genommen, dessen dienstliche und private Schlüssel mitsamt Autoschlüssel geraubt und unter dessen Bedrohung das Verlassen des gesicherten Bereiches („Wenn sich die Schleuse nicht öffnet, überlebst du das nicht!“) herbeigeführt haben. Anschließend sollen die beiden Männer, unter Zurücklassung des Pflegers, mit dessen Auto geflüchtet sein.

X. und der Mittäter flüchteten nach Aachen, wo sie auf einem Spielplatz von der Polizei gestellt wurden. X.s Mittäter wurde, als er eine Frau als Geisel nahm und mit einem Messer bedrohte, von der Polizei erschossen, X. selber wurde festgenommen.
Im Zentrum des letzten Verhandlungstages stand das psychiatrische Gutachten, in dessen Verlauf kein gutes Bild vom Angeklagten gezeichnet wurde. Es mangele ihm an Empathie gegenüber den Opfern. Zwar hatte sich X. bei den Pflegern der Forensik entschuldigen wollen, hatte aber der Gutachterin in Bezug auf Mitleid mit den beiden Männern gesagt: „Ich fühle es nicht.“ In ihrem Beruf, auch das habe X. geäußert, hätten auch die Aachener Polizisten mit dem, was passiert ist, rechnen müssen.

Pingelig

X. war bereits im Alter von einem Jahr von einem Lehrerehepaar adoptiert worden. Die Adoptivmutter: auch heute noch einziger Ankerpunkt in X.s Leben. Der Adoptivvater: pingelig und zu Ausbrüchen neigend. X.s Leben: eine Ansammlung des Scheiterns und letztlich eine fortgesetzte Rebellion. Gymnasium: abgebrochen. Lehre als Krankenpfleger: abgebrochen. Ausbildung zum Berufssoldat: abgebrochen. X.s „Drogenkarriere“ begann sehr früh. X.s Lebensmotto: „Nie mehr werde ich Opfer sein.“
X. – so die Gutachterin – habe Glück gehabt: Trotz eines langen und exzessiven Drogenkonsums sei sein Gehirn nicht in Mitleidenschaft gezogen. X.: Ein Mann von durchschnittlicher Intelligenz und durchaus eloquent. Obwohl X. am ersten Verhandlungstag eingeräumt hatte, die Geiselnahme unter Alkoholeinfluss begangen zu haben, sah die Gutachterin die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit nicht erheblich eingeschränkt. Zu viele Entscheidungen hätten getroffen werden müssen und seien getroffen worden. In Aachen habe X. zwar unter Drogeneinfluss gestanden, aber auch hier sei die Steuerungsfähigkeit nicht aufgehoben gewesen. X. sei bei der Festnahme zwar zu allem bereit gewesen – habe aber den Tod nicht in Kauf nehmen wollen.

Externalisierung

X. – auch das betonte die Gutachterin mehrmals – neige dazu, andere für seine Situation verantwortlich zu machen. Sein erstes Delikt beging X. im Alter von zwölf Jahren. Er habe überall nur das Schlechte mitbekommen.
X. leide an keiner krankhaften seelischen Störung. Ein erneuter Versuch, X. von seiner Drogen- und Alkoholabhängigkeit mit einer Therapie wegzubringen: sinnlos. Zu oft habe X. seine Chance nicht genutzt.
Dann die Gefährlichkeitsprognose: Sein oppositionelles Verhalten – ein roten Faden in X.s Leben. Die Taten: bestimmt von zunehmender Gewalt. Im Alter von 13 Jahren ist X. missbraucht worden. Näheres erfährt man nicht, aber man erfährt von der Gutachterin, dass X. an dieser Kränkung „hängen geblieben“ sei. Es sei keine Bereitschaft zu sehen, dass X. sein Leben ändert. Die Persönlichkeit: eine Mischung aus deutlich narzistischen, hysterischen, disssozialen und psychopathischen Elementen. Die Gutachterin spricht von Distanz und Kälte gegenüber dem Leid der anderen. Die Voraussetzung für eine Sicherungsverwahrung (SV): gegeben.
Die Staatsanwaltschaft plädiert: Achteinhalb Jahre. Sicherungsverwahrung. Die Verteidigerin plädiert für ein mildes Urteil und die Aufhebung des Haftbefehls.

Das Ende einer kriminellen Karriere

Dann das Urteil: Neun Jahre, anschließende SV. Der Vorsitzende spricht vom „Ende einer kriminellen Karriere“. „Natürlich ist das alles andere als erfreulich für Sie, aber Sie sollten es als letzte Chance sehen, Ihr Leben zu ändern.“ Auch dieses Urteil, so der Vorsitzende, bedeute nicht das Ende. „Nach vier Jahren wird sich die Frage nach der Sicherungsverwahrung erneut stellen. Momentan gehe es – und darauf ziele die SV ab – um eine Gefährdung der Allgemeinheit. „Wenn wir jetzt diese Sicherungsverwahrung nicht verhängen und sie verlassen nach neun Jahren das Gefängnis und begehen eine schlimme Tat, dann wird das dieser Kammer zugerechnet. Es geht um den Schutz der Allgemeinheit.“
Draußen – im Innenhof der Schwanenburg – das große Besteck: Polizei, Hundeführer. Der letzte Tag hat mit einer durchaus empathischen Geste des Gerichts begonnen. „Wie geht es Ihnen heute?“ wandte sich der Vorsitzenden an den Angeklagten, der beim Eintritt des Gerichts (und später auch bei der Urteilsverkündung) sitzen geblieben war. Demk Vorsitzenden war anzumerken, dass seine Frage mehr war als ein Smalltalk vor dem Finale. „Wir sind heute alle etwas aufgeregt“, so der Vorsitzende. Der Angeklagte saß nicht – wie am ersten Tag – neben seiner Verteidigerin. Er musste auf der Bank hinter ihr Platz nehmen – sonders gesichert mit Fußfesseln und einem Brustgurt, der es ihm unmöglich machte, die Hände in den Handschellen anzuheben.
Die Sicherungsverwahrung als „ultima Ratio“ der Rechtsprechung: Schutz der Allgemeinheit einerseits und irgendwie auch ein Schwenken der weißen Fahne. Da scheint ein Mensch nicht mehr erreichbar – kann nicht nach dem Urteil in den Countdown übergehen, sondern muss damit rechnen, nach Verbüßen seiner Schuld weiter der Freiheit beraubt zu bleiben. Ende offen. Nur Kapitulation wird ihn retten: das Abschwören. Einer, der nie wieder Opfer sein wollte, hat sich selbst zum Opfer gemacht.

KLEVE/BEDBURG-HAU. Herr X. wird lange sitzen müssen. Wegen Geiselnahme in Tateinheit mit besonders schwerem Raub und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte in zwei Fällen wurde X. zu neun Jahren Haft und anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt: Ende offen.
X. war im Mai vergangenen Jahres zusammen mit einem weiteren Mann aus der LVR-Klinik in Bedburg-Hau geflohen, wo beide Männer geschlossen in der Forensik der LVR-Klinik Bedburg-Hau untergebracht waren. Laut Staatsanwaltschaft soll der Angeklagte zusammen mit einem weiteren damaligen Mitpatienten – beide waren geschlossen in der Forensik der LVR-Klinik Bedburg-Hau untergebracht – am Abend des 25. Mai gegen 22.20 Uhr unter Einsatz eines Messers und einer Rasierklinge einen Pfleger als Geisel genommen, dessen dienstliche und private Schlüssel mitsamt Autoschlüssel geraubt und unter dessen Bedrohung das Verlassen des gesicherten Bereich es („Wenn sich die Schleuse nicht öffnet, überlebst du das nicht!“) herbeigeführt haben. Anschließend sollen die beiden Männer, unter Zurücklassung des Pflegers, mit dessen Auto geflüchtet sein.“
X. und der Mittäter flüchteten nach Aachen, wo sie auf einem Spielplatz von der Polizei gestellt wurden. X.s Mittäter wurde, als er eine Frau als Geisel nahm und mit einem Messer bedrohte, von der Polizei erschossen, X. selber wurde festgenommen.
Im Zentrum des letzten Verhandlungstages stand das psychiatrische Gutachten, in dessen Verlauf kein gutes Bild vom Angeklagten gezeichnet wurde. Es mangele ihm an Empathie gegenüber den Opfern. Zwar hatte sich X. bei den Pflegern der Forensik entschuldigen wollen, hatte aber der Gutachterin in Bezug auf Mitleid mit den beiden Männern gesagt: „Ich fühle es nicht.“ In ihrem Beruf, auch das habe X. geäußert, hätten auch die Aachener Polizisten mit dem, was passiert ist, rechnen müssen.
X. war bereits im Alter von einem Jahr von einem Lehrerehepaar adoptiert worden. Die Adoptivmutter: auch heute noch einziger Ankerpunkt in X.s Leben. Der Adoptivvater: pingelig und zu Ausbrüchen neigend. X.s Leben: eine Ansammlung des Scheiterns und letztlich eine fortgesetzte Rebellion. Gymnasium: abgebrochen. Lehre als Krankenpfleger: abgebrochen. Ausbildung zum Berufssoldat: abgebrochen. X.s „Drogenkarriere“ begann sehr früh. X.s Lebensmotto: „Nie mehr werde ich Opfer sein.“
X. – so die Gutachterin – habe Glück gehabt: Trotz eines langen und exzessiven Drogenkonsums sei sein Gehirn nicht in Mitleidenschaft gezogen. X.: Ein Mann von durchschnittlicher Intelligenz und durchaus eloquent. Obwohl X. am ersten Verhandlungstag eingeräumt hatte, die Geiselnahme unter Alkoholeinfluss begangen zu haben, sah die Gutachterin die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit nicht erheblich eingeschränkt. Zu viele Entscheidungen hätten getroffen werden müssen und seien getroffen worden. In Aachen habe X. zwar unter Drogeneinfluss gestanden, aber auch hier sei die Steuerungsfähigkeit nicht aufgehoben gewesen. X. sei bei der Festnahme zwar zu allem bereit gewesen – habe aber den Tod nicht in Kauf nehmen wollen.
X. – auch das betonte die Gutachterin mehrmals – neige dazu, andere für seine Situation verantwortlich zu machen. Sein erstes Delikt beging X. im Alter von zwölf Jahren. Er habe überall nur das Schlechte mitbekommen.
X. leide an keiner krankhaften seelischen Störung. Ein erneuter Versuch, X. von seiner Drogen- und Alkoholabhängigkeit mit einer Therapie wegzubringen: sinnlos. Zu oft habe X. seine Chance nicht genutzt.
Dann die Gefährlichkeitsprognose: Sein oppositionelles Verhalten – ein roten Faden in X.s Leben. Die Taten: bestimmt von zunehmender Gewalt. Im Alter von 13 Jahren ist X. missbraucht worden. Näheres erfährt man nicht, aber man erfährt von der Gutachterin, dass X. an dieser Kränkung „hängen geblieben“ sei. Es sei keine Bereitschaft zu sehen, dass X. sein Leben ändert. Die Persönlichkeit: eine Mischung aus deutlich narzistischen, hysterischen, disssozialen und psychopathischen Elementen. Die Gutachterin spricht von Distanz und Kälte gegenüber dem Leid der anderen. Die Voraussetzung für eine Sicherungsverwahrung* (SV): gegeben.
Die Staatsanwaltschaft plädiert: Achteinhalb Jahre. Sicherungsverwahrung. Die Verteidigerin plädiert für ein mildes Urteil und die Aufhebung des Haftbefehls.
Dann das Urteil: Neun Jahre, anschließende SV. Der Vorsitzende spricht vom „Ende einer kriminellen Karriere“. „Natürlich ist das alles andere als erfreulich für Sie, aber Sie sollten es als letzte Chance sehen, Ihr Leben zu ändern.“ Auch dieses Urteil, so der Vorsitzende, bedeute nicht das Ende. „Nach vier Jahren wird sich die Frage nach der Sicherungsverwahrung erneut stellen. Momentan gehe es – und darauf ziele die SV ab – um eine Gefährdung der Allgemeinheit. „Wenn wir jetzt diese Sicherungsverwahrung nicht verhängen und sie verlassen nach neun Jahren das Gefängnis und begehen eine schlimme Tat, dann wird das dieser Kammer zugerechnet. Es geht um den Schutz der Allgemeinheit.“
Draußen – im Innenhof der Schwanenburg – das große Besteck: Polizei, Hundeführer. Der letzte Tag hat mit einer durchaus empathischen Geste des Gerichts begonnen. „Wie geht es Ihnen heute?“ wandte sich der Vorsitzenden an den Angeklagten, der beim Eintritt des Gerichts (und später auch bei der Urteilsverkündung) sitzen geblieben war. Demk Vorsitzenden war anzumerken, dass seine Frage mehr war als ein Smalltalk vor dem Finale. „Wir sind heute alle etwas aufgeregt“, so der Vorsitzende. Der Angeklagte saß nicht – wie am ersten Tag – neben seiner Verteidigerin. Er musste auf der Bank hinter ihr Platz nehmen – sonders gesichert mit Fußfesseln und einem Brustgurt, der es ihm unmöglich machte, die Hände in den Handschellen anzuheben.
Die Sicherungsverwahrung als „ultima Ratio“ der Rechtsprechung: Schutz der Allgemeinheit einerseits und irgendwie auch ein Schwenken der weißen Fahne. Da scheint ein Mensch nicht mehr erreichbar – kann nicht nach dem Urteil in den Countdown übergehen, sondern muss damit rechnen, nach Verbüßen seiner Schuld weiter der Freiheit beraubt zu bleiben. Ende offen. Nur Kapitulation wird ihn retten: das Abschwören. Einer, der nie wieder Opfer sein wollte, hat sich selbst zum Opfer gemacht.
Heiner Frost
* Sicherungsverwahrung: Die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung ist grundsätzlich unbefristet, was nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Februar 2004[11] im Einklang mit der Verfassung steht. Mindestens jedes Jahr, beginnend mit dem ersten Tag der Unterbringung, muss geprüft werden, ob weiterhin die Gefahr besteht, dass der Untergebrachte außerhalb des Vollzugs rechtswidrige Taten begehen wird Wird dies verneint, wird die weitere Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt und es tritt Führungsaufsicht (maximal fünf Jahre) ein. Erfolgt während des Zeitraums der Führungsaufsicht kein Widerruf der Entscheidung, gilt die Unterbringung endgültig als erledigt. Lehnt das Gericht die Aussetzung ab, läuft die Frist erneut an. [Quelle: Wikipedia]

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