Schreibkraft
Heiner Frost

Über die Dörfer

Die Kühe werden in diesem Jahr vergebens warten. Der Reitplatz und die umliegenden Wiesen: unbespielt. Wo sonst Jahr für Jahr über 6.000 Festivalbesucher und Zaungäste ein Festival feiern, regiert 2020 die Natur. Alles bleibt still. The sounds of silence. Oder?

Kein Bestandteil der Planung

„Eine Glaskugel haben wir hier auch nicht“, sagt Stefan Reichmann, wenn man nach dem Jahr 2021 und dem Haldern Pop fragt. Am 6., 7. und 8. August hätte das Haldern Pop 2020 stattgefunden. Eigentlich ist schon das eine Falschaussage, denn erstens wird das Festival mit der laufenden Nummer 37 nicht im nächsten Jahr stattfinden und zweitens würde man die Macher falsch einschätzen, wenn man davon ausginge, dass das Haldern Pop 2020 sang- und klanglos (und wörtlicher kann man es nicht meinen!) ausfällt.
„Wir sind ja schon gleich nach dem Lockdown gefragt worden, ob wir über einen Ausweichtermin – vielleicht im September – nachdenken. Das haben wir nicht getan und die Rückschau zeigt, dass es sinnlos gewesen wäre.“
Die Hände in den Schoß legen – das allerdings war von Anfang an kein Bestandteil der Planung. Aufgeben? Von wegen. Und wieso?
Am 7. August wird es in einem der Spielorte des Festivals – der katholischen Kirche in Haldern – ein Konzert geben. Es ist Zeit für das groß geschriebene Aber. Stefan Reichmann: „Dieses Konzert wird ohne Zuschauer stattfinden. Wir werden an diesem Tag auch die Pop Bar nicht öffnen, denn wir möchten nicht, dass Leute anreisen, weil sie denken, es fände eine Publikumsveranstaltung statt.“

Live-Stream

Natürlich ist das Konzert, bei dem unter anderem „Stargaze“, „Loney Dear“ und „All the luck in the World“ auftreten, für Publikum gedacht, aber die Fans müssen sich mit einem Live-Stream zufrieden geben. Stefan Reichmann: „Wir veranstalten – zeitgleich in den Kirchen von Dingle [in Irland, am Atlantik] in Haldern [in Rees am Rhein] 90-minütige Livekonzerte mit Interviews, die wir übertragen werden. Die Taktung der Darbietung unterliegt einem detailliert ausgearbeiteten Zeitplan, in dem sich die Künstler in Irland und Deutschland abwechseln. Zum Finale der Schaltung werden Sänger in Dingle mit dem Stargaze-Orchester in Haldern zusammen spielen. Zusätzlich soll das Programm mit themenbezogenen Gesprächen und Interviews von Teilnehmern und eigens eingeladenen Persönlichkeiten ergänzt werden, um unser Wirken und Wollen in einen sozio-kulturellen Zusammenhang zu stellen und über Zukunft nachzudenken.“ Also doch die Glaskugel? Sicherlich nicht. Nachdenken über Zukunft ist keine Voraussage, aber vielleicht die Suche nach Strategien.
„Wir haben in der Zeit unmittelbar nach dem Lockdown sehr viele Teamgespräche geführt“, blickt Reichmann zurück. Natürlich ging es darum, wie nach der Absage des Festivals mit den verkauften Karten umzugehen war. „Es stand ziemlich schnell fest, dass es keine Gutscheine geben würde“, blickt Reichmann zurück. „Die Kartenbesitzer konnten sich den Preis komplett erstatten lassen, einen Teil oder aber auch die gesamte Summe spenden.“ Wieso konnten? „Im Prinzip haben wir den Rückerstattungsteil Mitte Juni abgeschlossen. Aber natürlich wird jemand, der auch jetzt noch den Kartenkaufpreis zurückerstattet haben möchte, sein Geld auch bekommen. Wir sind verpflichtet, diese Geldern drei Jahre lang vorzuhalten.“ Aber: Vielleicht sollte es besser um die unmittelbare Zukunft gehen. Das Livestream-Konzert hat einen „Denkübertitel“. „Jetzt reden die Dörfer mit Europa“. Da also tritt das denkbar Kleine gegen das denkbar Große an. Aber: Es geht – so deutet es die Denkrichtung an – nicht um ein Gegeneinander sondern um ein Miteinander.

Auf dem Rad

Haldern wäre nicht Haldern, wenn die Idee zum Live-Konzert nicht auf dem Rad geboren worden wäre. Stefan Reichmann: „André de Ridder, der Dirigent des Stargaze Ensembles, das ja seit Jahren zu den festen Größen beim Haldern Pop gehört, hat mich besucht. Er musste mal raus aus Berlin. Hier in Haldern sind wir dann viel mit dem Rad unterwegs gewesen.“ Und bei einer dieser Touren muss dann wohl die Idee entstanden sein. Wir lernen: Nicht immer ist Schweigen Gold.
Reichmann gehört zu der Sorte Mensch, die auf „Entwicklungen unserer Zeit“ – zu nennen wären Klima, Brexit, Pandemie und Brüche in sensiblen sozialen Organismen – mit Denken reagiert. „Wir neigen dazu, Dinge mit einem Satz vom Tisch zu wischen und vom großen Wurf zu träumen“, sagt Reichmann. Aber was ist schon der große Wurf? Das Haldern Pop vielleicht. Aber eben das hat klein begonnen und sich langsam entwickelt. Reichmann ist einer, für den es ohne Aber nicht geht. Aber ist für ihn kein Hindernis – keine Einschränkung. Es ist eine Öffnung der Perspektive. „Uns scheint, dass die Regeneration von Balance von Jung und Alt, Klein und Groß, Energie und Erfahrung wieder im Kleinen und Übersichtlichen vollzogen werden muss.“ Es geht, denkt man, um behutsames Denken und Entwickeln. Es geht darum, Zeit zu haben und zu lassen. Einer dieser Reichmann-Sätze: „Im Schutz der Dörfer lauert die Geduld.“ Da ist sie – diese scheinparadoxe Berührung von Vorsicht und Verheißung. „Musik baut keine Autos, döppt keine Erbsen und macht uns auch kein Frühstück“, sagt Reichmann und würde man hier abbrechen, würde man dem lauernden Aber keinen Platz einräumen. Also: Aber Musik erzeugt Schwingungen. Musik ist – wenn auch nicht immer – eine Art Ermöglichungsdroge, eine Lebensverschönerung – wenn auch mehr und mehr in die Allgegenwärtigkeitsinflation abgeschoben. Keine Kinotoilette, kein Café, kaum ein Wartezimmer ohne Retortenmusik. Was allgegenwärtig ist, verliert allzu schnell an Bedeutung. Eben da kommen Festivals in Spiel: Sie stellen eine klangliche Wirklichkeit zur Verfügung, die (im Idealfall) unwiederholbar ist.

Verwirklichungsbühne

Dass es die Verwirklichungsbühne Haldern Pop in Corona-Zeiten nicht in der Purkultur geben kann, steht fest. Jetzt also wird die Zweidorfkultur (Dingle/Haldern) ein Zeichen der Verständigung setzen. Reichmann: „Das ist erst der Anfang einer Idee, die mit künstlerischen und kulturellen Mitteln etwas zusammenführen möchte. Es soll nicht beim Dialog der Dörfer bleiben. Das Ganze hat das Zeug zu einer konstruktiven Bewegung. Es ist ein Spiel mit der Realität, der Bewegung und der Zuversicht.“
Gestreamt wird das Konzert über die Haldern-Pop-Kanäle und die Plattform „othervoices.ie“. Der erforderliche Link zum Konzert wird im Vorfeld über die Social-Media-Plattformen des Festivals veröffentlicht.
Wer die Halderner finanziell unterstützen möchte, kann das über ein „Zuhause Ticket“ tun. (http://haldernpop.com/zuhause-ticket/). Der Preis für das Ticket ist jedem freigestellt.