Schreibkraft
Heiner Frost

Über Bande

Nadeln
Manche Stecknadeln sucht man im Heuhaufen, andere hört man fallen. Manche Botschaft erreicht den Kopf und bleibt dort stecken: Verstanden – nicht gefühlt. Andere Botschaften erreichen nur das Herz: Gefühlt – nicht verstanden. Stecknadeln im Heuhaufen. Man erinnert sich an Phantome. Eine Botschaft, die den Weg vom Kopf ins Herz und zurück findet, ergreift den ganzen Menschen und erreicht als Erkenntnis die Seele. Dass ein Leben sich im Lauf einer Sekunde ändert – dass nach einen Wimpernschlag nichts mehr ist, wie es einmal war: Die Stecknadel im Heuhaufen. Alles schon gehört. Alles schon gelesen. Alles irgendwie verstanden. Alles irgendwie woanders.

Public Viewing

400 Schüler sitzen in der Klever Stadthalle. Kein Karneval. Kein Konzert. Kein Public Viewing. Oder vielleicht doch? Es geht um das Leben. Aber was ist das schon. Morgens aufstehen. Zur Schule gehen. Irgendwann zurück nach Hause. Essen. Chillen. Wochenende. Dass an einem Esstisch ein Platz für immer leer bleibt: Irgendwie ist das wie Enterprise. Ein Raumschiff in einer anderen Galaxis. 400 Schüler sitzen in der Klever Stadthalle. Was sind schon Botschaften? Ja, man hat schon davon gehört, dass Leute zu Tode gekommen sind. 18 waren es im Kreis Kleve im letzten Jahr. Die Stecknadel im Heuhaufen. Klar, dass da Menschen sind, die darum bitten, langsam zu fahren, keinen Alkohol zu trinken, keine Drogen zu nehmen, vorsichtig zu sein. Und ehrlich gesagt meinen die doch ohnehin die anderen.  400 Schüler in der Stadthalle. Ein Schiff auf Unterhaltungskurs. Alles irgendwie ganz lustig. Alles irgendwie besser als Schule. Alles irgendwie ganz nett. Botschaften aus einer anderen Welt.

Der Trichter

Dann steht ein Mann auf. Einer wie du und ich. Der Mann beginnt zu erzählen. Er ist bei der Freiwilligen Feuerwehr. Er spricht von einem Einsatz. Ein Einsatz von vielen. Ein Unfall auf einer Autobahn. Er nimmt von einem Garderobenständer eine Feuerwehrjacke. Ein Requisit, das Wirklichkeit andeutet. Der Mann erzählt von Uhrzeiten, Zeitintervallen. Alles klingt irgendwie weit weg, aber längst sind alle im Raum am Eingang zu jenem großen Trichter angekommen, der sich mehr und mehr zuzieht und vom Kopf über Bande das Herz ansteuert. Der Mann erzählt ganz sachlich. Er spricht von einer jungen Frau, deren Auto sich um einen Baum gewickelt hat. Ihr Kopf hängt zum Fenster heraus. Sie lebt. Noch. Man schneidet sie aus dem Auto. Jetzt und hier löst sich Erzählung in Wirklichkeit auf. Das  hier ist jetzt Public Viewing am offenen Herzen. Die Stille hängt im Raum wie eine Wand. Als der Feuerwehrmann seine Jacke wieder auf den Ständer hängen will, kippt der Ständer um. Das kleine Versehen ist wie eine Erlösung für die 400 im Saal. Ein letztes Aufatmen am Rande des Zentrums.

Rinde

Ein paar Meter weiter sitzt eine junge Frau auf der Bühne und während der Feuerwehrmann noch erzählt, taucht aus dem Dunkel der Vorstellung eine Idee in den Köpfen auf. Ist sie das etwa … die Frau aus dem Auto? Dann steht sie auf. Beginnt zu sprechen. Mit fester Stimme erzählt sie von dem Augenblick, der in ihr Leben schnitt wie eine Säge ins Holz. Die junge Frau heißt Sarah. Sie spricht vom Tag ihres Unfalls und dem Leben danach. Auf einer Leinwand sind Bilder zu sehen: Rindenstückchen. „Die saßen in meinem Auge“, sagt Sarah. Sie sagt, dass damals ihr Gesicht mit 150 Stichen genäht wurde. Dass ihr Oberschenkel gebrochen war. Das Becken auch. Blut in der Lunge. Rinde im Auge. Die Medizin stellt Vokabeln zur Verfügung: Polytrauma. Ein Heuhaufenwort. Aber Sarahs Worte impfen Stille ins Publikum. Man spürt, wie die Hälse eng werden.

Über Bande

Man spürt, wie 400 junge Menschen denken, dass das Schicksal auf der Bühne Gestalt annimmt. Nichts ist drastisch. Nirgends ist Blut zu sehen, aber  Sarahs Leben wird zum Leben in den Köpfen der Schüler. Es geht über Bande: Kopf, Herz, Seele. Auf der Leinwand: Das Auto. Ein Trümmerhaufen. So viel ist sicher: Wäre Sarah nicht angeschnallt gewesen – sie wäre jetzt nicht hier.

Spuren

Als Sarahs Auto sich um den Baum wickelt, sind ihre Eltern bei einer Einladung. Sie sitzen in einem Restaurant und während das Leben ihrer Tochter längst am seidenen Faden hängt – stundenlang weiß niemand, ob sie den Unfall überleben wird – ahnen die Eltern von nichts von alledem. Ihre Welt wird mit Verspätung zusammenbrechen.
Schicksal ist keine Theorie. Dieser Gedanken pflügt sich durch den Saal. Das Schicksal hat Gestalt angenommen – hat einen Namen: Sarah. Sarah hat sich zurückgekämpft. Man spürt die Achtung der 400 vor diesem einen Leben. Der Unfall hat Spuren in Sarahs Gesicht gezeichnet.  Als sie fertig ist mit ihrer Geschichte, brandet Beifall auf. Herz. Hirn. Seele. Was sich jetzt in Köpfe und Herzen gräbt und somit die Seelen erreicht, hat eine lange Halbwertzeit. Kaum einer wird gehen und schon auf der Schwelle alles vergessen haben.

Sarah is back

Es bleibt das Bild von Sarah. es bleibt das Bild des Feuerwehrmannes, der nach dem Einsatz zurück zu seiner Familie geht. Der Tag, an dem Sarahs Leben sich um einen Baum wickelte, war sein Hochzeitstag. Es gibt kaum Grenzen zwischen den Schicksalen. Alles ist ineinandergewebt. Es gibt nicht das Eine ohne das Andere. Dass jemand wie Sarah da ist und 400 Menschen in ihr Leben lässt, muss als Geschenk gewertet werden. Bei aller Erschütterung geht man heim und macht sich keine Sorgen um sie. Sarah is back.

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