Schreibkraft
Heiner Frost

Holstein vor der Tür

Let’s go

Clara Strobel fackelt nicht lange. Kommt rein. Setzt sich. Spielt. Johann Sebastian Bach, Präludium und Fuge d-moll aus dem Wohltemperierten Klavier. Draußen tobt die Sonne. Drinnen prasseln die Töne. Die Kapelle der Wasserburg Rindern ist rappelvoll. Gut – die Kapelle ist klein, aber wer kommt schon um 19 Uhr bei gefühlten 30 Grad Außentemperatur ins Konzert? Eben diese 50 Leute. Die Stunde, die jetzt folgt, wird zur ausschweifenden Belohnung – nicht nur, weil es angenehm kühl ist, sondern weil das, was kommt, Spaß machen wird. Zehn Pianisten stellen in 60 Minuten sich selbst und sieben Komponisten vor. Gute Unterhaltung.

Pustekuchen

Die Kirschen in Nachbars Garten sind – wer wüsste das nicht – immer besser als die eigenen. Das ist oft genug auch in kulturellen Dingen der Fall. Da wird allerdings aus den guten Kirschen des Nachbarn der unterschätzte Prophet im eigenen Land. Und die Erweiterung? Wenn es vor der eigenen Tür stattfindet, dann wird es wohl nichts Besonderes sein. Pustekuchen. Gute Kultur findet – so der Trugschluss – in den Metropolen statt. Auf dem Lande herrscht der Durst. Dabei gibt es längst viele Gegenbeweise.  „Ja – anderswo geht das“, sagen die Ewigskeptischen. Was gibt es andernorts doch für tolle Events. Zum Beispiel in Schleswig-Holstein – da gibt es doch dieses Festival gleichen Namens. Oder die Ruhr Triennale, oder das Klavierfestival Ruhr. Hier wie dort kann man den Großen beim Berühmtsein zuschauen und dem Nachwuchs beim Berühmtwerden. Am Konzertflügel hat jetzt Max-Philip Klüser die Regie und erzählt den vierten Satz aus Beethovens C-Dur-Sonate Opus zwei Nummer drei. Es ist, als weht ein Hauch durch die Windesstille. Beethoven funktioniert (natürlich) auch portionsweise.

Parallel

Spitzenkonzerte gibt es übrigens auch hier. Am Niederrhein. Konzerte vom Feinsten. Pianisten, die noch hungrig sind und mit ihrem Spiel die Welt auseinandernehmen, um sie anschließend einem staunenden Publikum neu zusammengesetzt vorzustellen. Kreisweit und grenzübergreifend finden im Rahmen des 2. Internationalen Studentenmusikfestivals an jeweils einem Tag zur jeweils gleichen Zeit bis zu acht parallele Konzerte statt.  Wie wär’s mit Liszt? Etude d’exécution transcendente. Evgeny Konnov ist einer, der sowas kann. Er heizt dem Flügel ein. Niemand würde sich wundern, wenn am Ende Flammen aus dem Innern schlügen.
Gespielt wird in Boxmeer, Duiven, Emmerich, Geldern, Goch, Groesbeek, Kleve, Kevelaer, Rees und Sonsbeck. Schnell könnte man zum Handlungsreisenden in Sachen Töne werden.
Die Konzerte: Eintritt frei. Und wer da glaubt, mit dem altblöden Spruch, das, was nichts kostet, auch nichts ist, zu punkten, der hat schlicht verpasst, im Publikum zu sitzen und sich bezaubern zu lassen. Meist zeugt ja der Satz, vom Nichtswertsein des Nichtskostens ohnehin nur von Ahnungslosigkeit, denn nur, weil der Eintritt frei ist, fallen ja die Kosten nicht weg. Seonghwa You aus Korea spielt Kapustin. Etüde Opus 42 Nummer 2. Stück und Pianistin werden gleichermaßen zur Entdeckung. Es fällt auf, das jeder der Künstler einen eigenen Flügel spielt, obwohl doch nur ein Instrument vorhanden ist. Wer, bitte schön, sagt denn, das Klavier immer gleich klingt?

Wiederholungshörer

Aber man muss nicht immer gleich über Kosten reden. Die Studenten, die da spielten, haben  Format und das Zuhören macht Spaß. Die Konzertlängen passen mit durchschnittlich 60 Minuten in den Sommer und wer je eines der Konzerte in der Kapelle der Rinderner Wasserburg miterlebt hat, wird zwangsläufig zum Wiederholungshörer. Dann wieder Bach. Englische Suite e-moll. Das Präludium aus koreanischer Hand. MinSeo Choi. Die Noten perlen. Bach in Cinemascopeversion. Trotzdem mit mikroskopischem Ansatz.

Energiezentrale

Die Wasserburg Rindern als Austragungsort des „Meisterkurses für Klavier“ wird zur Energiezentrale, denn was sich an Können und Leistungsbereitschaft an diesem einen Ort bündelt, ist unglaublich, aber eben wahr. Fast heimlich wird da ein Ort zum musikalischen Think-Tank – zum Olymp des Klavierspiels. Nichts findet hinter verschlossenen Türen statt, denn eben hier liegt das Heilsamwunderbare der Musik: Töne sind immer Mitteilung. Sie blühen in der Gesellschaft und für all die Newcomer ist ein Publikum der beste Prüfstein. Eben diese Verbindung stellt das Studentenmusikfestival her. Allein deswegen schon ist die Idee so einfach wie genial. Beethoven als Kontrastprogramm. Zwei Sätze aus der Pathétique. Benjamin Maed auf den Spuren eines Tauben. Das Adagio: Eines dieser Stücke, das fast jedem schon einmal begegnet ist. Man hat den Sommer längst vergessen. Es muss an den kalten Schauern liegen, die einem hier den Rücken herunterkriechen. Ein früher Brahms. Scherzo es-moll Opus Vier. Arim Suh, Korea. So geht Hingabe. An die Musik. An das Instrument. SooHuyn Lee zelebriert Liszt. Eine Bearbeitung von Paganinis Campanella –  eigentlich ein Stück Zirkusklaviermusik, aber Lee holt die Töne weg vom Kunststück und springt doch mit verbundenen Augen durch den Feuerreifen auf dem Flachdach eines  Hochhauses ohne Geländer. Kein Zirkus. Große Kunst. Pianistin und Flügel im Grenzerfahrungsgebiet. Dann: Rachmaninov. Etudes-tableaux Opus 39 Nummer eins c-moll. Yuko Yamaguchi spielt wie eine Doppelnullagentin: Unangreifbar. Die Töne wie Perlen – man möchte aufspringen und sie einzeln vom Boden klauben. Und dann: Sori Park. Toccata. Der Komponist lebt noch. Sitzt in der ersten Reihe und ringt mit der Sprachlosigkeit. Sein Stück: Seit 20 Jahren unerhört, weil niemand sich ran traute. Jetzt Sori: Unerschrocken produziert sie Gedichte mit dem Presslufthammer. Fingerballett zwischen Romantik und Zersetzung. Eine Houdini am Flügel entfesselt Urgewalten: Live.

Das Nächste, bitte

Zehn Pianisten. Sieben Komponisten und ein erleuchtetes Publikum. Natürlich: Überall präsentieren sie den Nachwuchs. Aber man ist so selten dabei und denkt: Spitze ist vielleicht doch nur anderswo. Pustekuchen. Was sich hier zeigt: Am Ende haben alle etwas davon. Und kaum ist die Studentenmusikfestivalwoche abgelaufen, wartet das nächste Highlight: Der Klaviersommer steht in den Startlöchern. Noch eine Gelegenheit, Musik vom Feinsten in unmittelbarer Nachbarschaft zu erleben: Holstein vor der Tür. Dass der Traum von der „niederrheinischen Klavierhauptstadt“ längst kein Traum mehr ist, sondern es in die Wirklichkeit geschafft hat, ist – niemand sollte das vergessen – mit einem Namen verbunden: Boguslaw Jan Strobel.