Es gibt Kaffee (50 Cent pro Tasse, auf Vertrauensbasis) und zwei Billions auf dem Gang: Ralf und Jonny. Die ersten waren früh um sieben da. Wer zuerst kommt … Bürgersprechstunden bei der Euregio Rhein Waal. Zum Beispiel Jonny. Jonny Billion. „Wie die Zahl.“ Er ist zum vierten Mal hier. Mit dabei: Bruder Ralf. Zwei Billions also. Die beiden kennen sich aus. „Am besten, du bist früh da.“ Um 9 Uhr beginnt die Bürgersprechstunde bei der Euregio. Es schad’t nix, wenn du um sieben da bist. „Ein Freund von uns war letzte Woche hier. Der kam um neun und ging um halb zwei. Muss man nicht haben, oder? Mit ein bisschen Glück sind wir um kurz nach zehn wieder weg.“
Jonny und Ralf arbeiten in Holland. Jetzt kommen sie zur Bürgersprechstunde, und es geht – wie sollte es schon sein, wenn man Billion heißt – um Geld. Die Steuererklärung. In Holland sagt man nicht Finanzamt – da heißt es „Belastingdienst“.
Jeder, der zur Sprechstunde kommt, wird individuell beraten. Alles gibt’s im Doppelpack: Natürlich ist nicht nur der „Belastingdienst“ da – auch die Kollegen vom Deutschen Finanzamt sind vor Ort. Heute haben sie nicht viel zu tun.
Das Kaffee-Experiment
Carola Schroer weiß Bescheid. Sie ist Sachbearbeiterin bei der Euregio. Jetzt pendelt sie mit einem Block zwischen Erdgeschoss und erster Etage. Ihre Aufgaben: Herausfinden, wer warum da ist; die Reihenfolge einhalten; die Kunden zu den richtigen Beratern bringen. Für gute Stimmung sorgt sie ganz nebenbei. Es ist kurz nach neun Uhr morgens, und unten auf dem Gang ist was los. Carola Schroer erklärt allen, was passieren wird – wie es abgeht. Sie erklärt, wo die Toiletten sind, dass es auch einen Aufzug gibt, und sie spricht über das Experiment. Das Experiment hat einen Vornamen: Kaffee. Heute ist Premiere. Auf einem Wagen stehen Kannen und Tassen. Jeder, der möchte, nimmt sich einen Kaffee und legt 50 Cent in die Kasse. „Es geht hier um Vertrauen“, erklärt Carola. „Wenn’s klappt, gibt es beim nächsten Mal wieder Kaffee – wenn’s schief geht, war das heute zweimal: Das Erste und das Letzte.“ „Wie in der Schule“, kommentieren die einen. „Superidee“, sagen die anderen.
Wer zuerst kommt
Zurück zu den Billions. Seit sechs Jahren arbeiten sie in Holland. Jonny ist angehender Lagerleiter in ‘s-Hertogenbosch. Er wohnt in Goch. Morgens um sieben muss er anfangen. Er steht um fünf auf. Ein langer Tag. Trotzdem: Er würde es immer wieder machen. „In Holland ist das Arbeitsklima besser“, sagt er „und die Kohle stimmt.“ Es bleibt mehr übrig, meint Jonny. Natürlich lässt sich das nicht verallgemeinern. Die Bürgersprechstunde: „Eine gute Sache. Du hast Fragen – hier helfen sie dir. Geben Ratschläge.“ Das mit dem guten Arbeitsklima bei den Nachbarn erwähnt hier fast jeder. Ralf Kunz meint: „In Holland musst du Teamspieler sein, sonst bist du falsch.“ Ihm hat die Zeit jenseits der „Grenze“ gefallen. „Aber natürlich geht es auch bei denen um Rationalität. Bei manchen Jobs gibt es Stoßzeiten.“ Hire and fire. Wichtig: Schnell einen Arbeitsvertrag bekommen. Trotzdem: Es wird weniger gemobbt bei den Nachbarn. Sagt man. Susanne Kautzmann kommt aus Emmerich. Sie hat ein halbes Jahr in Holland gearbeitet. Jetzt hat sie einen Job in Deutschland bekommen. Aber da ist noch die Sache mit den Steuern. Auch sie ist seit kurz nach sieben hier. Merke: Wer zuerst kommt … Zur Sprechstunde ist sie über eine Bekannte gekommen. „Die hat mir davon erzählt.“ Und auch gesagt: „Sei zeitig da.“ Natürlich sind nicht nur das Finanzamt und der Belastingdienst da. Roland Wolf, Pressesprecher bei der Euregio Rhein Waal. „Wir haben auch die Deutsche Rentenversicherung Rheinland an Bord und das Bureau voor Duitse Zaken.“ Es geht also nicht nur um Lohnsteuererklärungen. Aber warum gibt es die Sprechstunde? Roland Wolf: „Europa ist eine Währungs- und Wirtschaftsunion. Bei der Sozialunion hakt es mitunter.“ Es mangelt an Experten, die sich in der Schnittmenge auskennen. Die Systeme haben ihre Tücken, und natürlich ist es gut, wenn man Bescheid weiß. Niemand hier hat etwas zu verschenken. Schon gar nicht, wenn es um sauer Verdientes geht. Der Vorteil der Bürgersprechstunde: Ein kurzer Draht. Wenn ein Problem auftaucht, sitzt der, den man fragen kann, einen Tisch weiter. Die Berater können sich austauschen. Das Motto: Praxis siegt. Die Sprechstunde wird abwechselnd in Holland und Deutschland abgehalten. Carola Schroer: „Wenn das Ganze bei uns stattfindet, kommen ein Drittel der Bürger aus Holland – in Holland ist es dann in etwa umgekehrt.“ Das „beliebteste“ Thema sind natürlich die Steuern. „Wir hatten am Anfang – die Sprechstunde gibt es seit 2002 – auch Krankenkassen und das Versorgungsamt mit dabei“, erklärt Roland Wolf. Aber irgendwann hat sich dann herausgestellt, dass die Zahl der Kunden eher gering war. Für die Berater lohnte sich das Kommen nicht. Die jetzt hier sind, werden gebraucht. Kaum ein freier Platz an einem der Tische. Außer beim deutschen Finanzamt. Glück für Wilhelmus.
Wilhelmus
Wilhelmus Brugman ist – der Name verrät es – aus Holland. Seit nunmehr 40 Jahren arbeitet er in Deutschland. Beruf: Maschinist. „Bei uns sagen sie Process Operator“, klärt er auf. Er ist zum zweiten Mal hier. Wie das kann? „Normalerweise kann ich nicht kommen, wenn hier Sprechstunde ist, denn ich muss ja arbeiten.“ Gäbe es da ein besseres Zeitfenster: „Klar. Zwischen vier und sieben Uhr – das wäre optimal.“ Trotzdem: Zufrieden ist Brugman mit der Sprechstunde. Er kann zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Zuerst geht es um ein Gespräch mit der Dame von Finanzamt. Danach will er Rentenprobleme klären. Ist Brugman auch schon um sieben gekommen? „Nein. Ich bin seit kurz nach neun hier. Das liegt daran, dass ich Fragen zur deutschen Steuererklärung habe. Momentan war ich der einzige. Da kam ich gleich dran.“ Die deutschen Kunden beim „Belastingdienst“ müssen da schon einen Tick länger warten. Trotzdem ist die Stimmung entspannt. „Unzufriedenheit gibt es eigentlich nur, wenn jemand zu lange warten muss“, fasst Roland Wolf die Beschwerden zusammen. Natürlich hängt die Wartezeit immer mit dem Andrang zusammen. „Letzte Woche waren knapp 150 Menschen in der Sprechstunde“, erinnert sich Carola Schroer. Rekord. „Normalerweise sind es um die hundert.“ Auf ihrem Block: Strichkolonnen – vier senkrecht, einer schräg – darüber steht: Spreekuur. Sprechstunde.
Es läuft gut. Die Leute sind zufrieden. Vielleicht hängt das mit dem Kaffee-Experiment zusammen. Ein bisschen was Warmes hebt die Stimmung. Oben wird konzentriert gearbeitet. Die meisten Kunden haben Unterlagen dabei. Fragen gibt es reichlich, und so ziemlich jeder bekommt auch die passenden Antworten. Mittlerweile ist auch Wilhelmus mit der Rente weiter. Der Besuch hat sich gelohnt. „Und wer weiß – vielleicht bieten die ja demnächst auch andere Sprechzeiten an.“ Der Berichterstatter lernt: Finanzamt beim Nachbarn heißt „Belastingdienst“. Das meist gebrauchte Wort des Tages. Das Arbeitsklima in Holland: Gut für Teamspieler. Die Bürgersprechstunde: Gute Sache das. Und: Am besten früh da sein.