Schreibkraft
Heiner Frost

Genossen in Bayern

Eigentlich hätte ich den Zug genommen. Dann streiken die Lokführer. Vielleicht also besser geflogen. Als ich mein Ticket habe, heißt es in den Nachrichten, dass nun doch nicht gestreikt wird. So kann’s gehen. Dafür hat dann der Flieger zwei Stunden Verspätung. Nebel im Erdinger Moos. Düsseldorf – München. Einfach. Es lädt ein: Die Bayern Tourismus Marketing GmbH. Titel: Genießerland Bayern. Na denn.

„Guten Tag“, sage ich. „Grüß Gott“, antwortet es. Das muss Bayern sein. In Bayern, lerne ich schon am ersten Tag der Reise, wird mit dem Tourismus mehr Geld verdient als im Autobau. 500.000 Menschen leben von anderen Menschen. Die einen Menschen nennt man Einhei­mische, die anderen Touristen. Ich bin kein Einheimischer, obwohl meine Rentner­daseins­zielvorstellung lautet: Kontrabassist in einer zünftigen bayerischen Trachten­ka­pelle.

160 Prozent

Bayern ist eine Marke. ‚Brand’ heit es auf dem Weltmarkt. Je nach Zielrichtung kann die Marke sich verschieden darstellen. „Wenn einer aus Australien kommt, fängt Deutschland mit Bayern an und Neuschwanstein“, erklärt man mir. „80 Prozent der Japaner kennen Neuschwanstein“, heißt es. Und die anderen 80 Prozent kennen den Kölner Dom, denke ich. Die Arithmetik des Tourismus. Deutschland ist ein Kuchen. Es gilt, die Stücke zu verteilen. Entfernung macht den Unterschied: Wenn du vom Mond kommst, fängst du mit Erdteilen an, denke ich. Bayern als Marke. Das Zwiebelschalenprinzip. Je näher du rangehst, um so mehr Schalen tun sich auf. Dann bist du da, und plötzlich bekommt der Freistaat Unterzwiebelschichten. Niederbayern, Oberpfalz, Mittelfranken, Ostallgäu. Von den Urein­wohnern werden die Unter­schiede gefeiert: Vive la différence. Ich komme ja vom linken, unteren Niederrhein. Wo das ist, erklärst du einem Bayern doch am besten mit dem Globus im Anschlag.

Früher war dem Reisenden die Natur genug. Du hattest einen Berg. Schon kamen die Touristen. Die Zeiten ändern sich. Die Touristen auch. Die Berge nicht. Heute ist Infrastruktur ein Stichwort. Wer kein Ticket hat für den Zug, der sich Tourismus nennt, bleibt am Bahnsteig zurück, die Blumen in der Hand. Die Marke Bayern ist reich an Ablegern. Einer der Ableger: Genießerland Bayern. Natürlich mit eigener Internetwohnung: ‚Geniesserland.by‘ „Da finden Sie Antwort auf alle Fragen zum Thema Genießen in Bayern, erklärt man mir. Es muss viele Fragen geben, denn die Zahl Antworten ist gigantisch. Das Genießerland Bayern kann auf verschiedensten Wegen durchmessen werden. Für fast alles gibt es eigene Routen. Bierrouten beispielsweise. Was wäre Bayern ohne sein Bier. Mittlerweile genießt das Bayernbier europäischen Artenschutz. Bier aus Bayern, das ist Champagner mit Gamsbart, Permesan in der Lederhose. Über 600 Brauereien sind um weißblaue Qualität bemüht. Obergärig, untergärig, Helles, Dunkles. Das Bier in Weines Stapfen: Verkostungen klären über den genussvollen Umgang mit dem Lebensmittel Bier auf. Bier zum Kochen, Bier beim Essen, Bier zum Trinken. Jeder macht seins. Die Artenvielfalt ist erstaunlich. Längst ist man auch bemüht, ein eigenes Beschreibungsvokabular in Sachen Bier zu entwickeln. Der Doppelbock kommt ausgeprägt vollmundig daher und verfügt über eine leichte Karamellnote. Der Geschmack: Malzbetont wuchtig. Die Blume: ausgeprägt, malzblumig, weinig. Morgens um 11 findet eine erste Verkostung unterschiedlicher Biersorten statt. Du bist nicht zum Spaß hier, denke ich nach dem sechsten Glas. Danach zur Stärkung: Variationen vom Karpfen. Dazu: Ein eigens gebrauter Karpfenrtrunk. Wohl bekomm’s.

Variationen von …

Natürlich: Bayern ist auch Essgenuss. Das reicht von der Haxe bis zur Sterne-Küche. Christian Jürgens beispielsweise ist ein Mann auf dem Weg zum dritten Stern. Wo liegt denn der Unterschied zwischen zwei und drei Sternen? Jürgens weiß die Antwort nicht. Ihm geht es um Qualität. Jeden Tag neu. Wenn dann der dritte Stern kommt: Gut. Aber mit den Sternen ist es wie mit den Konzertkritiken. Manchmal glaubst du, im Paralleluniversum unterwegs gewesen zu sein. Wenn bei Jürgens das 7-Gänge-Menu aufgetragen wird, arbeiten Mozart und Haydn im Hintergrund. Klassik hinten — moderne Esskultur vorne. „Variationen von“ heißt es oder dies und jenes ‚an‘ … Was im Laufe des Abends auf der Zunge explodiert und den Gaumen verzaubert, lässt sich nicht beschreiben. „Man muss einfach genießen können“, sagt der Meister, als er nach dem Essen an den Tisch kommt und sein Kochbuch signiert. Es war der Wahnsinn – vom ersten Amuse Bouche bis zum Blue Mountain Kaffee aus Jamaica. Dazwischen: Edelkrebse, Entenleber, Rehrücken, Ziegenkäse, Knusperbirne, Patisserie, Pralinen. Ein Hochamt aus der Küche von einem, der jeden Abend Hochleistung abliefern will und muss. Das Publikum verzeiht keine falschen Töne. Das 8-Gänge-Menu dauert sechs Stunden. Und aus den acht Gängen werden ein paar mehr. (Kleiner Gruß aus der Küche.) „Genossen in Bayern“, notiere ich vor dem Schlafengehen.

Passt scho‘

Alexander Herrmann macht keine Gefangenen. Ganz oder gar nicht heißt seine Devise. Und gar nicht geht nicht. Jeder bekommt eine Schürze. „Koch doch“ steht drauf. Und drunter steht: Mit Alexander Herrmann. Die Begrüßung: Herzlich. Wenn diese Herzlichkeit gespielt ist, ist sie gut gespielt. Der Weg von der Lobby des Posthotels bis zur Kochschule: Zweihundert Meter. Es geht mitten über den Dorfplatz. „Die Schule liegt zwischen der Bank und der Apotheke“, scherzt Herrmann. „Damit ihr wisst, wie ihr des einordnen müsstst“, fränkelt es aus ihm. Die Küche: Eine schlichte Wucht. Herrmann auch. Der Mann hat Humor. Wenn er sein Konzept erklärt, bleibt kaum ein Auge trocken. Den Kehlen geht es nicht anders. „Der wichtigste Bereich hier drin ist der Kühlschrank. Da stehen die Getränke, und bei mir seids ihr ganz privat. Jeder nimmt sich, was er möchte.“ An jeder Schürze: Das Namensschild des Trägers. Herrmann begnügt sich mit den Vornamen. Ein ‚Sie‘ gibt es nicht. Und Herrmann ist halt der Alexander. Der Alexander betreibt erst mal Auflockerungsgymnastik. „Es gibt ja solche, die mitmachen wollen und solche, die mitmachen müssen. Das siehst du schnell am Gesicht. Ihr sehts ja noch interessiert aus. Da können wir was draus machen. Da geht was.“

Dann ein Schnellkurs in Beurteilungstechnik. Do kannst net meckern – eine satte Drei. Passt scho – Stufe zwei auf der Richterskala für Begeisterungs­boden­wellen. Die Eins ist ein schlichtes Doch mit zum Wortende steigender Tonhöhe und Endbeschleunigung. Das Doch kann auch durch ein Ja ersetzt werden. Einer wie Herrmann hat kein Problem mit Kontaktaufnahme und: Einer wie Herrmann kann sich verkaufen. Ziemlich gut sogar. Fernsehen schult. Herrmann hat bei Vox gekocht. Herrmann kocht bei Kerner. Herrmann ist bekannt. Gut fürs Hotel. Gut fürs Restaurant. Natürlich wollen die Leute ihn sehen. Dass Kochstaffeln aufgezeichnet werden, ist nicht jedem klar. Wenn am Freitag Kerners Kochshow läuft, vermutet keiner den Herrmann in der Küche, obwohl er doch da ist. Bevor das Kochen losgeht, wird die Gruppe erst mal fotografiert. „Das Foto liegt dann nachher zusammen mit dem Rezept auf Eurem Zimmer.“ Verwenden darf man’s nicht. Bedingung: Vorher Herrn Herrmann fragen. Dann ist Zuhören angesagt. Der Meister spricht übers Essen. Über die Rezepte. „Ihr müsstst zuhören, denn wir legen den Text jetzt nicht schon hier aus.“ Anfangs hat er’s gemacht. Das kam nicht gut. Manch einer las mit. Das lenkt ab, aber nicht nur das. „Sie haben gerade gesagt: Sieben Minuten bei 65 Grad, aber hier steht achteinhalb Minuten bei 62,5 Grad.“ Nicht jeder versteht den Variationsfaktor.

Zu Beginn ein Kurzreferat über Niedertemperaturgaren und Lammfleisch. Das Ende der Scherze ist erreicht. Es folgt die Aufgabenverteilung für die Kochgruppe. Die einen werden Fleisch schneiden, andere schälen und raspeln Äpfel. „Wer auf all das keine Lust hat, der schneidet Brot. Und noch eins: Natürlich dürfts Ihr auch Bier trinken. Aus der Flasche geht’s auch.“ Dann erst mal zum Händewaschen. „Ich geb’ Euch drei Minuten.“ Es kann losgehen. Sich nicht zu schneiden, ist letztlich eine Sache der Konzentration. Drei Gänge wird es geben. Nichts Schwieriges und nichts Schweres. „Ihr kennts ja Kokosnussdiät. Nicht? Ganz einfach: Da derfst du olls essen, bloß keine Kokosnuss.“ Ein Kurzausflug zum Brühwürfel. „Da ist Glutamat drin. Net gut für’s Gehirn. Wennz du zviel davon lutschst, bekommst ahn Alzheimer und merkst es net.“ Oder der Tomatenstrunk: „Der muss unbedingt raus. Der ist hochgiftig. Hoch-gif-tick. Obwohl: Ich kann mir vorstellen, dass wenn ihr den drin lasstst, passiert eventuell nix. Nur Katzen sterben am Tomatenstrunk.“ Es wird geraspelt gehobelt, geschnitten.  Die Gänge werden einzeln verkostet. „Mensch, sind wir gut.“ Nach zwei Stunden  wissen alle: Kochen kann Spaß machen.  Am Abend dann der Ernstfall: Kleines Menu vom Meister. (Wir sind ja nicht zum Spaß hier.)  Genießerland Bayern.  Sieben Gänge sind geplant. Am Ende sind’s fei neun. (Kleine Grüße aus der Küche.) Die Weine:  Alles gut ausgewählt und  in einem Trockenbeerenauslesefeuerwerk endend.

Rum gekommen

Der nächste Tag: Ein Landgasthof mit Goldmedaille in Sachen Küche. Es beginnt mit Leberwurst und Weißbier und arbeitet sich weiter vor. Die angekündigte Wildsau wird mangels Jagdglücks durch einen Rehrücken ersetzt. Was als kleiner Imbiss angekündigt war, endet als oppulentes Mal der Extraklasse. Es geht auch ohne Stern. Trotzdem: Drei Gänge mehr als vorgesehen. (Kleine Grüße aus der Küche.)

Für den Abend ist das letzte Menu auf der Reise vorgesehen. Am Herd: Ein Geheimtipp unter den Koch-Assen aus Bayern: Hubert Obendorfer. Der Mann ist authentisch. Und was er als Koch zu sagen hat, fasst er für den Abend in sieben Gängen zusammen. Die Wallerleber auf Zwiebelmus ist der Wahnsinn. Genau wie der Hecht und das Juradistellamm. Zwischendurch zeigt sich der Koch und fragt nach dem Befinden der Gäste. „Seids ihr zufrieden?“ Was soll man sagen. Wenn Obendorfer sagt, dass er auch den Tadel hören will, ist er überzeugend. „Des brauchst du auch zum Lernen. Sonst kannst eipacke und aufhören.“ Später triffen wir uns an der Bar. (Rum gekommen.) Obendorfer steckt sich eine Zigarre an. „Natürlich sind wir eitel“, sagt er und meint die Köche.

Natürlich freuen sie sich über das Lob. Natürlich greifen sie nach den Sternen. Natürlich ist der Beruf kein Zuckerschlecken, „aber i möcht nix anders mocha“, ist der Mann in der weißen Jacke sicher und wenn er darüber spricht, wie er als Koch mit den Jahreszeiten lebt, dann glaubt man ihm jeden Funken seiner Begeisterung. In Kürze wird sein erstes Kochbuch erscheinen. Jeder soll kochen können, was drin steht. Das war nicht leicht. Wer nur vom Kochen was versteht, versteht auch davon nix. Obendorfer ist einer, der sicher ist: „Wenn du gut kochen willst, musst du viel wissen.“ Wer bei ihm isst, merkt schnell: Der Mann muss ziemlich viel wissen. Wenn er in München säße: Er könnte groß rauskommen. Aber er sitzt in Neunburg vorm Wald. Das ist in der Nähe von Wackersdorf. Luftlinie drei Kilometer. „Hier hätte es auch anders kommen können.“ Da, wo einst eine Wiederaufbereitungsanlage geplant war, setzt Obendorfer neben der Küche auf die Wiederaufbereitung der anderen Art: Wellness.

Wer mit Obendorfer über Gastronomie und Hotellerie spricht, muss Zeit haben. Der Mann hat verstanden, dass Erfolg kein Zufall ist und trotzdem nicht bis ins letzte Detail planbar. „Wenn einer schon mit schlechter Laune reinkommt, schaffst du es kaum, ihn umzustimmen. Der sucht dann nur nach Fehlern. Da machst du nix.“ Trotzdem schwört einer wie Obendorfer auf Kritik. „Die brauchst du wie das Lob.“

Nach drei Tagen Genießerland Bayern und etlichen Grüßen aus der Küche, nach Bier und Brezeln, Kümmel und Karpfen, Senf und Sahne, Wein und Wild, Zimt und Zucker werde ich um ausgedehntes Heilfasten nicht herumkommen. Vielleicht hilft ja die Kokosnuss-Diät.