Schreibkraft
Heiner Frost

Schläft ein Lied in allen Dingen

Da sitzt man also: Haldern, hinter der Pop Bar. Draußen scheint die Sonne und trotzdem ist alles irgendwie gestrichen mit einer eigenartigen Traurigkeit. Es ist, als müsse man eine lang geplante Feier absagen. Die Feier: das 37. Haldern Pop Festival. Da sitzt man und irgendwie ist all das noch wie ein Nebel. Gegenüber sitzt Stefan Reichmann und sagt: „Wir sind viel zu verspielt, um uns geschlagen zu geben.“

Nie diskutiert

Und dann sagt er auch: „In diesem Jahr ist es das 37. Haldern Pop Festival und im nächsten Jahr wird es das 38. sein.“ Hatte man was falsch verstanden bei den Schreckensbotschaften der letzten Tage? Alle Großveranstaltungen bis Ende August dürfen nicht stattfinden. Ist Haldern Pop nicht eine Großveranstaltung? Stefan Reichmann sagt: „Darüber haben wir nie diskutiert. Natürlich sind wir das und natürlich kann das Festival nicht stattfinden.“ Natürlich, denkt man, stirbt die Hoffnung zuletzt. Aber: Abgesagt ist abgesagt. Man denkt an Eichendorff:

Schläft ein Lied in allen Dingen, die da träumen fort und fort …

Man hatte doch innerlich schon die Sachen gepackt für das zweite Wochenende im August. Das Line-Up war und ist – viele sehen das so – eine ziemliche Sensation. Die Ankündigungen der Bands, die dabei sind: immer kombiniert mit dem Bild eines Wartehäuschens. Von da aus reist man in die Welt. Dahin kommt man zurück. Vielleicht.  Schläft ein Lied in allen Dingen …

Olympia-Pop

„Vielleicht werden wir ja im August drei Tage lang ein Feuer anzünden – auf der Festivalwiese.“ Olympia Pop in Haldern. Aber: Olympia ist doch auch abgesagt. „Vielleicht werden ein paar der Musiker zu Besuch kommen.“ Einfach so. Einer wie Reichmann lässt sich das Träumen nicht verbieten. „Nur, damit das klar ist: Das Festival, wie wir es kennen ,kann und wird nicht stattfinden“, sagt er. 900 Karten hätte es noch gegeben. Längst ist der Vorverkauf eingestellt. Träume lassen sich nicht auf Karten drucken und verkaufen. Und dann denkt man an Haldern: Vielleicht doch.
Kürzlich haben sie ein Video veröffentlicht. Eigentlich war es ein Dankeschön-Video für eines der letzten Festivals. Ein Dorf danach: leere Spielstätten. Die Kirche. Die Pop-Bar. Das Jugendheim. Das Tonstudio. Ich habe es mir angesehen, bevor ich mich auf den Weg nach Haldern machte. Das Video – eigentlich ein Abspann für das Gestern – ist zum Vorspann für das Morgen geworden. Und das Morgen ist jetzt. Bilder von Künstlern, die sich verbeugen. Vor ihrem Publikum. Dann wieder leergefegte Orte: die Festival-Wiese. Die Camping-Wiese. Und all das: ohne Ton. Schläft ein Lied in allen Dingen. Später stellt sich heraus, dass mit dem Lautsprecher an meinem Computer etwas nicht in Ordnung war. „Natürlich gibt es Musik in dem Video“, sagt Reichmann. Längst kann ich mir den Film nicht aber mehr mit Tönen vorstellen. (Die Graugans. Die Prägung: Was du als erstes siehtst, nachdem du dich aus dem Ei gesprengt hast, das ist die Wirklichkeit.) Lässt man den Ton zurückbleiben, wird erst richtig klar, dass nichts mehr geht. Die Stillebeschreibt, was nicht kommen wird. Haldern Pop – eine Pantomime. Schon jetzt fehlt etwas, das erst im August hätte stattfinden sollen. Schatten auf der Seele. Vielleicht sieht man es zu pathetisch.
Das Video

Glückauf

Also: Zurück in die Wirklichkeit. Was passiert mit den Karten? „Die Leute, die eine Karte gekauft haben, werden ihr Geld zurückbekommen“, sagt Reichmann. Er sagt auch: „Das ist nicht unser Geld. Es ist das Geld der Leute.“ Dann zeigt er mir einen Brief. Gestern angekommen oder heute. In dem Brief: Eine Eintrittskarte. Die Nummer: herausgeschnitten. Der Brief ohne Absender. Auf der Karte ein Post-it: „Ja, tut weh. Liebe Grüße. Glückauf.“ Natürlich zeigt das etwas. Natürlich ist das irgendwie großes Kino des Vertrauens. Natürlich wird da Solidarität erfahrbar. Stefan Reichmann wäre nicht Stefan Reichmann, wenn es nicht ein Aber gäbe. „Es ist ja so: der Wert einer solchen Karte ist für jeden ein anderer. Das muss man sehen. Es findet ja beim Kauf einer Eintrittskarte mehr statt als ein ökonomischer Transfer.“ Ein gutes Festival schafft immer einen seelischen Mehrwert. Aber: „Wir werden es den Leuten überlassen, ob sie das Geld zurück haben oder einen Teil beziehungsweise alles spenden möchten. Es gibt nichts Schlimmeres als eine Moralkeule. Ich verstehe es, wenn jemand sagt: Ich kann‘s mir nicht erlauben, das Geld ersatzlos abzugeben. Es gibt viele, für die es gerade jetzt finanziell eng wird. Denen mit so einem Anspruch zu kommen – das wollen wir ganz und gar nicht. Polarisieren hilft nicht.“

Vertrauen

Das Wort der Stunde: Vertrauen. „Wir haben hier in 38 Jahren etwas aufgebaut, das nicht zerstört werden darf“, sagt Reichmann und spricht von der Beziehung zum Publikum. Nichts wäre schlimmer, als diese Beziehung und damit auch das Vertrauen aufs Spiel zu setzen. „Wir werden das Haldern-Pop-Plakat drucken und es dann vielleicht zusammen mit einer Atemschutzmaske verschicken. Das können sich die Leute dann an die Wand tackern.“ Schläft ein Lied in allen Dingen.
Seit 17. März – dem Tag des Shutdowns – schreibt Reichmann das „Haldern Pop Tagebuch“.
Ein Auszug: „Eine massive Kraft verliert sich in der Gegenwart. Die Zivilisation kommt zum Erliegen. […] Aber die Welt ist nicht stehen geblieben. Das, was wir aus ihr gemacht haben, scheint zu pausieren. […] Es ist nicht unsere Aufgabe, zu appellieren, aber wir glauben an die Vernunft und vertrauen dem Handeln der Krisenmanager und ihren Beratern.“
Ein irgendwie großgedachter Einstieg. Reichmann: „Es gibt aber auch ein Rezept für selbst gemachte Mayonnaise.“ Typisch Stefan, denkt man. „Wir sind zu verspielt, um uns geschlagen zu geben“ Ein passender Satz. Von wem ist der? „Den habe ich in einem Interview gesagt. Manchmal weiß ich nicht, was ich gerade sage.“ Egal, Stefan, denkt man – Hauptsache am Ende stehen solche Sätze.
Pop Tagebuch, Tag 30: „Wir sind ein Ort, mit uns kann man rechnen oder auch nicht, aber solange es Lieder gibt, wollen wir weiter zuhören und nichts verpassen aber weiterhin gerne den Bus.
Ein Tag aus dem Pop Tagebuch

Vielleicht …

„Vielleicht werden wir, wenn der Shutdown vorbei ist, ein großes Konzert in der Kirche machen.“ Es ist alles Hoffnung. Und im nächsten Jahr – das steht fest – wird es nicht das 37. Haldern Pop werden. Es wird das 38. sein. „Aber natürlich kann jetzt keiner sagen, ob wir zu der alten Form jemals zurück können. Wir haben all das Jahre lang als Selbstverständlichkeit empfunden. Jetzt lernen wir, dass nichts selbstverständlich ist“, sagt Reichmann. Schläft ein Lied in allen Dingen