Schreibkraft
Heiner Frost

Ruhig und besonnen

Vielleicht muss gefragt werden, ob Dummheit strafbar ist. Vielleicht sollte man besser von Naivität sprechen … oder war es doch Dreistigkeit?

Da fährt ein Mann – er ist 74 – von Gelsenkirchen nach Holland: Familienbesuch. In Rotterdam wird er auf der Straße angesprochen. Ob er etwas mitnehmen könne. Er willigt ein. Man verspricht ihm das Spritgeld. Er fährt nach Amsterdam, trifft einen Mann, der ihm etwas ins Auto legt.

Wirkstoffgehalt: 96 Prozent

Später wird der Kurier auf der Autobahn angehalten. Er hat (ohne es zu wissen?) mehr als ein Kilo Kokain mit einem Wirkstoffgehalt von 96 Prozent transportiert. „Bei der Festnahme war der Angeklagte ruhig und besonnen“, beschreibt es ein Polizeibeamter. (Darüber wird zu reden sein.) In der Anklage ist von einer Waffe die Rede: ein Einhandmesser. Er brauche das Messer, so der Angeklagte, um Obst zu schneiden. Er ist Diabetiker. Die Verteidigerin kennt sich mit der Funktionsweise eines Einhandmessers nicht recht aus. Ihrem Mandanten geht es ähnlich. Die Richterin demonstriert, wie es funktioniert: Das Messer lässt sich – daher wohl der Name – mit nur einer Hand „ausklappen“. Er habe das, so der Angeklagte, immer beidhändig gemacht.
Seit März sitzt der Angeklagte in Haft und hat seitdem zwei Stimmbandoperationen mitgemacht. Krebs? Er weiß es nicht.
Vor Gericht geht es um Details. „Ich weiß nicht, was für Drogen ich da im Wagen hatte“, soll der Angeklagte bei der Festnahme gesagt haben. Aha. Und wie war die Frage? Ein Polizeibeamter sagt, man habe den Angeklagten gefragt, ob er wisse, welche Art von Drogen er im Auto mitgeführt habe.
Die Staatsanwältin geht von einer Fragestellung nach dem Motto ‚Was war in der Tüte, die sie im Auto hatten?‘ aus. Das macht, mit Verlaub, einen ziemlichen Unterschied.

Gekoren

Die in der Anklage erwähnte Waffe sieht die Staatsanwältin am Ende als „gekorene“ Waffe. [Gekorene Waffen sind tragbare Gegenstände, die ohne dafür bestimmt zu sein, insbesondere wegen ihrer Beschaffenheit, Handhabung oder Wirkungsweise geeignet sind, die Angriffs- oder Abwehrfähigkeit von Menschen zu beseitigen oder herabzusetzen.] Am Ende beantragt sie gegen den Angeklagten fünf Jahre und sechs Monate. Das ist mal eine Packung, denkt man. Die Staatsanwältin sieht in den Einlassungen des Angeklagten Schutzbehauptungen. Dass Drogenschmuggler einem Unbekannten Kokain im Mindestmarktwert von 50. 000 Euro „einfach mal so“ ins Auto packen? „Das ist doch Schwachsinn.“ Mindestens zwei Jahre sieht das Strafgesetzbuch vor. Das reicht der Staatsanwältin nicht aus. Das hier ist kein minderschwerer Fall. Wenn in ihrem Auto plötzlich Drogen gefunden würden – ihr würde „ganz schön die Muffe gehen“.
Die Verteidigerin sieht eine „fahrlässige Einfuhr“. Ja – ihr Mandant hätte kontrollieren müssen, was man ihm da ins Auto packte. Er ist der Fahrzeugführer und -halter. Er trägt die Verantwortung. Er hat sie nicht wahrgenommen. Ihr Mandant: Ohne Not, ohne Schulden, ohne Grund für eine solche Tat. Sie beantragt eine Strafe deutlich unterhalb dessen, was die Staatsanwältin gefordert hat.

Haftempfindlich

Der Angeklagte hat schwer unter der Haft gelitten. Zwei Operationen an den Stimmbändern. Die Angst vor einer möglichen Krebserkrankung. Die 96-jähgrige Mutter liegt im Sterben. Corona kappt die Kontakte. Der Mann spricht kein Deutsch. Und dann ist da noch sein Alter. Das Wort „hadtempfindlichkeit“ wird verwendet.
Was der Angeklagte gemacht hat, denkt man, war entweder tolldreist oder dummdämlich. Irgendwie scheint beides nicht nachweisbar. Dass einer bei der Kontrolle ganz ruhig ist, könnte ja auch daran liegen, dass er sich keiner Schuld bewusst ist. Natürlich leiden Angeklagte in Drogenprozessen oft an spontaner Unwissenheit. Mir fällt ein Richter ein, der erzählte: „Der Angeklagte hatte Drogen in der Unterhose und behauptete, er wisse nicht, wie die da hingelangt seien.“ Nebelkerzen gehören ins Alltagsgeschäft bei Drogenprozessen. Aber auch hier gilt: Was gestern oder sonstwann in einem anderen Prozess von anderen Angeklagten zusammengelogen wurde, kanndarf heute keine Rolle spielen. Was nützt Erfahrung?
Das letzte Wort des Angeklagten: Wenn er wüsste, wie die Leute heißen, die ihm das Zeuge gaben – er hätte ihre Namen genannt.
Das Urteil: Fünf Jahre. Die Richterin spricht das Urteil an zwei Stellen mit Satzzeichen. („Wir glauben nicht Komma dass Sie das Messer zum Obstschneiden benutzt haben“, sagt die Richterin. Kann passieren.) Der Eifer des Gefechts.
In der Begründung geht es auch darum, dass der Angeklagte bei der Festnahme „ruhig und gefasst“ war. Ein Schuldindiz offenbar. Und was, wenn er nervös gewesen wäre? Dann, denkt man, wäre alles ohnehin klar gewesen. Was ist zu schließen: Ruhig und gefasst oder nervös und aufgelöst: kein Unterschied.

Man sieht sich

Er wisse nicht, welche Drogen er transportiert habe. Auch das wird als Indiz gesehen.
Bitte einmal zurückspulen zum ersten Zeugen. Zeitlupe: „Was haben Sie den Angeklagten gefragt?“, möchte die Richterin vom Polizeibeamten wissen. Antwort: „Was sind das für Drogen?“ „Ich weiß nicht, was das für Drogen sind“, erscheint in diesem Zusammenhang als plausible Antwort. Glauben aber heißt nicht wissen. „Gegen dieses Urteil können Sie innerhalb von einer Woche Rechtsmittel einlegen …“ Vielleicht sieht man sich wieder.

Strafzumessung im Strafgesetzbuch

Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe. Die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen.

Bei der Zumessung wägt das Gericht die Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, gegeneinander ab. Dabei kommen namentlich in Betracht:

die Beweggründe und die Ziele des Täters, besonders auch rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige menschenverachtende,
die Gesinnung, die aus der Tat spricht, und der bei der Tat aufgewendete Wille,
das Maß der Pflichtwidrigkeit,
die Art der Ausführung und die verschuldeten Auswirkungen der Tat,
das Vorleben des Täters, seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowie
sein Verhalten nach der Tat, besonders sein Bemühen, den Schaden wiedergutzumachen, sowie das Bemühen des Täters, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen.

(3) Umstände, die schon Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes sind, dürfen nicht berücksichtigt werden.
[Quelle: Strafgesetze im Internet: https://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__46.html]