Schreibkraft
Heiner Frost

Am Kreisverkehr

„Mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft sowie der Verteidigung und ihres Mandanten wird das Verfahren nach Paragraph 153 der Strafprozessordnung eingestellt, weil die Schuld des Angeklagten als gering anzusehen wäre und kein öffentliches Interesse an der Verfolgung besteht. Die Kosten des Verfahrens sowie die Auslagen sind von der Staatskasse zu tragen.” Das Ende einer Geschichte, die am 16. März 2018 begann.

Täter —> Opfer

1. Ein Mann erstattet Anzeige. Ein anderer Mann hat ihn mit einem Faustschlag am Auge verletzt – auch Pfefferspray war im Spiel. Die Ermittlungen werden eingestellt.* Die Staatsanwaltschaft ist der Meinung, die Gewalttat sei nicht nachzuweisen.
Stattdessen wird nun ein Ermittlungsverfahren gegen Y. eingeleitet – jetzt soll er der Täter sein. In einem Verfahren Y. zur Zahlung von 120 Tagessätzen zu je 35 Euro verurteilt. Der Grund: Tätlicher Angriff auf einen Vollstreckungsbeamten. Im Namen des Volkes. Y. geht in Berufung.

*Sehr geehrter Herr Rechtsanwalt, mit der Strafanzeige vom 23. 08. 2018 werfen Sie für Ihren Mandanten Y. dem Beschuldigten Polizeikommissar X. vor, dem Y. im Rahmen einer Verkehrskontrolle […] unvermittelt mit der Faust ins Gesicht geschlagen und zudem Pfefferspray gegen ihn […] angewendet zu haben. Aufgrund der daraufhin eingeleiteten Ermittlungen ist der Beschuldigte X. keiner Straftat, insbesondere einer Körperverletzung im Amt gemäß § 340 des Strafgesetzbuches hinreichend verdächtig, weshalb das Verfahren nach § 170 Absatz 2 der Strafprozessordnung einzustellen war. Die Begehung des Fautschlags konnte so nicht bestätigt werden, da dieser zwar von weiteren Zeugen benannt wurde, die weitere Beschuldigte Kommissarin Z., die ebenfalls vor Ort war, solch einen aber nicht wahrgenommen hat. Aufgrund der Divergenz der Angaben Ihres Mandanten  und der Beschuldigten wäre im Falle einer Anklageerhebung nicht mit einer Verurteilung zu rechnen.

Niemand hat mit zugehört

Jetzt wird vor dem Landgericht in Kleve verhandelt. „Vielleicht erzählen Sie uns einmal, was passiert ist”, fordert die Vorsitzende Richterin Y. auf. „Ich habe das alles schon einmal erzählt und niemand hat mir zugehört”, sagt er. Es sei „sehr einseitig ermittelt” worden, sagt Y.s Verteidiger und die Vorsitzende antwortet: „Rechtlich stimme ich Ihnen zu. Es gab keinen tätlichen Angriff – bestenfalls Widerstand”, sagt die Vorsitzende. Y. kann sich, denkt man, vielleicht Hoffnung machen. Jetzt werden sie ihm zuhören.

Eine Kontrolle

16. März 2018, gegen 23.20 Uhr: An einem Kreisverkehr in Rees halten zwei Polizeibeamte eine Radfahrerin an. Sie ist mit dem Rad ohne Licht in verkehrter Richtung im Kreisverkehr unterwegs und telefoniert zudem mit dem Handy. Was zunächst eine Kontrolle sein sollte, eskaliert und wird zum Exzess. Eigentliche sind es zwei Exzesse, die sich vor den Augen all derer, die nicht dabei waren, beim Nacherzählen entwickeln.

Zwei Geschichten

Der Polizist beschreibt eine zunehmend eskalierende Situation. Er: der Bedrohte, der sich zur Wehr setzte. Man habe die Radfahrerin kontrolliert – dann seien unvermittelt Männer aufgetaucht, die die Vernehmung der jungen Frau störten. Man habe Platzverweise ausgesprochen. Die seien nicht befolgt worden. Das Vorzeigen der Papiere wurde von den Männern (einer von ihnen war der Bruder der Frau mit dem Rad) verweigert. Die Situation nahm Fahrt auf. Irgendwann habe er sich, so der Beamte, bedroht gefühlt und den Y. weggeschubst. Seine Kollegin kann sich an die Details nicht erinnern. „Das alles ist zwei Jahre her.” Ein Schubsen hat es gegeben. Einer der anderen Zeugen sagt später: „Die kann gar nichts gesehen haben. Die stand mit dem Rücken zum Geschehen.”

Samthandschuhe

Y. sieht einen Widerspruch: „Zuerst ein Platzverweis und dann will er meine Papiere sehen? Ja was denn jetzt?“ Der Polizist sagt, er habe irgendwann dem Y. eine Durchsuchung angedroht. Der Papiere wegen. Zu einer Durchsuchung ziehe man sich Handschuhe an. Y. nennt die Handschuhe „Samthandschuhe.“ „Ist das denn nötig?“, hat er gefragt. Hier kennt doch jeder jeden, habe er gesagt. Irgendwann der Schlag. “Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn die mich nicht gehalten hätten“, sagt er. Aber er sagt auch: „Ich habe niemandem etwas getan.“ Er sagt: „Ich habe mich gewehrt.“ Und: „Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen.“ „Verpisst euch!“, soll der Beamte gesagt haben. „Der war total aggressiv zu dem Y.“, sagt später ein Zeuge und: „Zu mir war der ganz vernünftig. Ich habe das überhaupt nicht verstanden, warum der bei dem Y. so abgegangen ist.“

Asynchronitäten

Wenn sich acht Menschen an eine eskalierende Situation erinnern, sind Asynchronitäten vorprogrammiert. Y. und seine Bekannten beschreiben eine ganz andere Eskalation. Der Beamte, sagen sie, sei von Beginn an aggressiv aufgetreten. Wo der Beamte einen Platzverweis beschreibt, sprechen die Männer von etwas wie „Nun verpisst euch mal!” Y. sagt, dass der Beamte ihn an einem bestimmten Punkt mit der Faust ins Gesicht geschlagen und am Auge getroffen habe. Später wird Y. im Krankenhaus untersucht werden. (Der Befund: kaum leserlich. Dem Patienten wird empfohlen, das Ganze einem Augenarzt zu zeigen.) Man denkt: Es muss da eine „Berührung” stattgefunden haben. Mehr als ein Wegschubsen. Danach noch der Einsatz von Pfefferspray seitens des Beamten. Hier Y. und „seine” Zeugen mit der einen Version – dort der Polizist und seine Kollegin mit einer anderen Beschreibung. Sollte man erwähnen, dass Y. und die Zeugen einen Migrationshintergrund haben? Sollte man erwähnen, dass Y. nie „auffällig” war? Es gibt keinen Eintrag im Zentralregister.

Nicht verbunden

Geschichten spielen sich in Zusammenhängen ab. Polizist schlägt Mann mit Migrationshintergrund – das ist heute mehr als vielleicht vor fünf Jahren eine Geschichte, die Gehör verschafft. Aber: Geschichten sind nicht miteinander verbunden. Jede Geschichte muss ohne die anderen gesehen werden. Nichts über den gleichen Kamm scheren. Geschichten nicht. Menschen nicht. Niemand will das – schon gar nicht, wenn es ihn betrifft.
Könnte es auch sein, dass Y. und die anderen Männer sich verschworen haben. „Den machen wir fertig”, könnten sie beschlossen haben. Natürlich – es ist vieles denkbar, aber es geht nicht um das Denkbare. Das Beweisbare zählt. Und was, wenn es zwei Wirklichkeiten gibt? Geht nicht? Doch. Die Welt ist, wie du sie sehen möchtest.

In Deutschland …

Während sie alle ihre Wirklichkeitsversion vortragen – die einen um Sachlichkeit bemüht und  die anderen irgendwie theatralisch –, wird klar, dass bei einer Geschichte wie dieser alles möglich ist. Wer kann sagen, was passiert ist an diesem Abend? Y. macht den Eindruck, dass es ihm um die Gerechtigkeit geht. „Da, wo wir her kommen, gibt es oft keine Gerechtigkeit”, sagt er nach der Verhandlung draußen auf dem Gang. „Aber in Deutschland, dachte ich, kann so etwas nicht passieren.” Man möchte niemandes Platz einnehmen in dieser Geschichte: man möchte nicht  Y., nicht die Polizisten, nicht Richter, nicht Schöffe, nicht Vertreter des Staates sein. Dass am Ende das Verfahren eingestellt wird, erscheint irgendwie  als die beste aller Möglichkeiten. Vielleicht hatte Y. erwartet, dass einer, der ihm ins Gesicht schlägt, auch Täter genannt und bestraft wird. Vielleicht hatte der Beamte erwartet, dass der Staat sich hinter ihn stellt – ihm den Rücken stärkt.

Kein Grund

Immer wieder im Lauf der Verhandlung versucht die Vorsitzende einen Grund zu finden, ein Motiv für diesen Schlag, den Y. abbekommen haben muss. Die Suche bleibt ohne Erfolg. Am Ende: Einstellung nach Paragraph 153 der Strafprozessordnung:
Hat das Verfahren ein Vergehen zum Gegenstand, so kann die Staatsanwaltschaft mit Zustimmung des für die Eröffnung des Hauptverfahrens zuständigen Gerichts von der Verfolgung absehen, wenn die Schuld des Täters als gering anzusehen wäre und kein öffentliches Interesse an der Verfolgung besteht. Der Zustimmung des Gerichtes bedarf es nicht bei einem Vergehen, das nicht mit einer im Mindestmaß erhöhten Strafe bedroht ist und bei dem die durch die Tat verursachten Folgen gering sind. Ist die Klage bereits erhoben, so kann das Gericht in jeder Lage des Verfahrens unter den Voraussetzungen des Absatzes 1 mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft und des Angeschuldigten das Verfahren einstellen.

Die Suche

Y. jedenfalls wird die 120 Tagessätze nicht zahlen müssen. Er wird auch seine Verteidigung nicht bezahlen müssen. Es wird Menschen geben, die sagen: Es kanndarf nicht sein, dass am Ende der Staat die Kosten tragen soll. Wie man eine Geschichte bewertet, hängt meist davon ab, was schon im voraus gedacht wurde. Hier haben sich Menschen auf die Suche nach der Wahrheit gemacht – haben versucht, eine zwei Jahre alte Geschichte zu rekonstruieren und sind im Dickicht des Erinnerns stecken geblieben. So jedenfalls scheint es. Ein Gericht, das nicht von der Schuld eines Angeklagten überzeugt ist, darf ihn nicht verurteilen … und hat es nicht getan. Ein Etappensieg.

Nachsatz

Es gibt kein Unentschieden vor Gericht, denke ich. Vielleicht aber war das hier eines. Was, wenn es zwei Wahrheiten gibt, die sich ineinander verhaken? Fest steht: Was am Kreisverkehr passiert ist, hat vor Gericht nichts zu tun mit anderen Dingen, die anderswo passiert sind. Fragen aber dürfenmüssenkönnten gestellt werden. Manchmal sind sie so banal, dass sie sich überflüssig anfühlen. Sind Polizisten immer im Recht? Natürlich nicht. Sie sind genausowenig qua Amt unschuldig wie ein Mensch mit Migrationshintergrund automatisch schuldig sein kann. Justitia arbeitet mit verbundenen Augen. Aber was, wenn – vielleicht nur versehentlich – die Augenbinde manchmal verrutscht und die eigentlichenblinde Justitia einen Bekannten ahnt?

Manchmal eskalieren Situationen. Landet eine solche Situation vor dem Richter, wird Einordnung erwartet.Vielleicht muss manchmal konstatiert werden, dass Rekonstruktion schwierig bis unmöglich ist. In dubio …
Ein Mann steht vor Gericht. „Erzählen Sie uns, was Sie erlebt haben?“, fragt die Richterin. „Warum soll ich. Es hört ja niemand zu.“