Schreibkraft
Heiner Frost

Ruhetag

Eigentlich hatte man doch am Samstag noch hingehen wollen. Am Ende dann doch die Beine vor dem Fernseher lang gemacht. Läuft ja nicht weg. Es gibt Sätze, die einen treffen wie der Ziegelstein die Fensterscheibe: In einer Sekunde geht alles zu Bruch. „Horst ist tot“, sagt Karl am Telefon.


Es braucht Minuten, bis man aus dem Dickicht des ersten Schocks auftaucht. Horst, denke ich, war ein Unikum – einer der letzten Kneipenpioniere. Einer, der die Gäste miterleben ließ, ob es ihm gut ging oder schlecht. Horst, der zur See gefahren war und an guten Abenden ins Plaudern kam. Dann ging es um die christliche Seefahrt oder um das Kleinwalsertal. Auch da hatte Horst in der Gastronomie gearbeitet. Später dann Duisburg. Rotlichtgeschichten. Von Duisburg nach Frasselt. On de Kerk – Endstation.
Horst und das Dorf – irgendwie nicht getrennt zu denken: Horst und die Geburtstage, die Hochzeiten, die Cäcilienfeste des Kirchenchors, die Beerdigungen. Horst: Der Beichtvater hinterm Tresen. Horst, der sagte: „Früher haben die jungen Leute in ihrer Stammkneipe das Trinken gelernt.“ Horst sagte auch: „Wenn du voll bist, nimm nicht die Fiets. Zwei Räder sind zu gefährlich.“
Horst wurde an Silvester melancholisch. Das Gegenmittel: Geschichten und eine Flasche Weißwein. Horsts Silvestergeschichten waren meist zum Mitweinen. Silvester kommen die Verlierer. Früher: die großen Feten. Heute: kleine Einsamkeiten. Horsts Seegeschichten, die Geschichten vom Bund und die Geschichten aus der frühen Kneipenzeit hätten für jede Talkshow gereicht. Eingeladen haben sie ihn nie. Wie denn auch. Horst hockte in seiner Kneipe: nachtein nachtaus.
Horst hat den Niedergang der Dorfkneipen irgendwie am eigenen Leib und Laden erlebt. „Musse keine Angst haben – da nimmt keiner Rücksicht. Wenn du platt bist, kommen die ersten und sagen ’schade‘. Aber vorher …“ Die goldenen Zeiten: vorbei. „Früher kamen die zu mir – heute bestellen die sich einen Partyservice.“ Früher wurde zu Karneval groß gefeiert: bei Horst. Horst war auch Schützenkönig. Damals war noch richtig was los: Jeder feierte in der Dorfkneipe. Halbes Schwein mit Senf. Und: Ringelpiez. Das hat sich geändert.

Manchmal – auch das ist ein Teil von Horst – war er schwer zu ertragen. Horst hatte eine Meinung und eigentlich nie einen Berg. Horst kannte seine Pappenheimer. Wenn die Teller nach einem guten Essen bei Horst leer waren, kam er an den Tisch: „Und? War denn alles zu eurer Zufriedenheit?“ Positive Antworten gingen ihm runter wie ein seidener Cognac. Horst war ein weicher Stein. Wie abgegriffen das klingt: harte Schale, weicher Kern. Horsts Bratkartoffeln – ein Tellergedicht. Das Einfache musst du drauf haben. Manchmal litt Horst an der Welt und manchmal litt die Welt an Horst.
Wenn Horst durch die Nase grunzte, war nicht viel anzufangen mit ihm. Der einsame Wolf. „Komm, trink einen mit.“ „Nee, Horst. Ich muss los.“ Horsts Frikadellen waren ein Ereignis. Horst, der manchmal, wenn man nach Küchenschluss Hunger anmeldete, mit einem hochvollgepackten Teller erschien: Schinken, Käse, Brot. „Muss sowieso weg.“ Okay – das kriegen wir hin. Horst hatte ein inniges Verhältnis zum Zaunkönig. Der wohnt gleich in der Hecke am Biergarten. Horst: der Pflegevater. Horst erzählte auch von dem Knüppel, den er immer bereitliegen hatte: „Wenn mal einer einbricht. Glaub mal nicht, dass ich warte, bis die Polizei kommt.“ Horst mit dem Fersensporn: „Musse nich haben.“ Überhaupt: die Gesundheit. „Die haben mich schon öfter abgeschrieben gehabt. Aber da haben die sich getäuscht.“ Horst, der das Corona-Virus mit „lass ma kommen und nicht bange machen“ kommentiert hätte. Bange machen zählte nicht in Horsts Welt.
Zwei Dinge machten Horst zu schaffen: die leere Kneipe und die volle Kneipe. „30 Essen à la carte: Die kommen einfach reingerauscht. Und natürlich hat vorher die Hilfe abgesagt.“ Horsts Herd: ein Stück Geschichte. Horsts Gurkensalat: ein Gruß aus alten Zeiten. Horsts Rouladen: Traumhaft.
Zwanzig Jahre ist das her: Ich war neu in Frasselt und wollte mit ein paar Leuten bei Horst feiern. Also hin. „Horst, ich hätte gern Rouladen und Kartoffelklöße.“ Schnelle Antwort: „Mach ich nicht.“ Eine Woche später stellt Horst einen Birnengeist auf die Theke: „Hier. Trink ma. Ich hab mir da was überlegt: Was hältst du von Rouladen und Kartoffelklößen?“ „Horst, da wäre ich nie drauf gekommen.“ „Machst du noch Bratäpfel für 30 Leute?“ „Das kriege ich nicht hin in dieser Küche.“ Natürlich gab‘s Bratäpfel für 30 Leute. Horst hatte mal eben die Nacht durchgemacht und alles vorbereitet. Die Logistik macht‘s. „Nachts bis zwei und morgens um 10 eine Beerdigung.“
Horst hätte längst in Rente sein können, aber er konnte nicht. „Die Rente musst du dir leisten können. Kann ich aber nicht. Ich kann mir auch den Laden nicht leisten. Zwei Jahre noch – drei vielleicht. Dann: Vielleicht nach Rees ziehen. An den Rhein. Ist schön da. Trinkst du noch einen?“

Und wenn er einen guten Tag hatte, demonstrierte er, dass man Biergläser auch essen kann. „Glaubße nich? Pass auf.“ Schon kaute er auf einer kleinen Scherbe. „Dauert natürlich, bis son’n Glas dann endgültig gegessen ist.“Wenn jemand ein Glas umwarf, sagt Horst meistens: „Jeder trinkt anders.“
Und dann: gerade oder ungerade. „Horst – zahlen.“ „Gerade oder ungerade?“ „Wie?“ Horst zog dann einen Geldschein aus der Tasche. Es ging um die letzte Ziffer. „Triffst du, zahle ich – treffe ich zahlst du. Gleicht sich alles aus im Leben.“ An der Tür hängt noch das Mittwochsschild: Ruhetag.

Und jetzt: eine stumme Beerdigung. Nichts Großes. Ein Corona-Begräbnis. Eingeladen wird nicht. Man denkt an Fallada: Jeder stirbt für sich allein. Wer kommt, hält Abstand. Irgendwie denkt man: Horst hat das so nicht verdient. Er hat verdient, dass die Kirche neben seiner Kneipe aus den Nähten platzt. Stattdessen wird der Laden für immer schließen und – wahrscheinlich – abgerissen. Die Rückseite der Tage …